Albert Kochs Plattenschrank Teil 2


Teil 2 der Serie: Das Beste aus Indie, Folk, Electronica, New Wave, sychedelia,Disco, Jazz und Avantgarde - ausgewählt und besprochen vom ME-Plattenmeister.

1960

Max Roach

We Insist! – Freedom Now Suite

Ein Klassiker der künstlerischen Auseinandersetzung mit der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. We Insist! zeigt den Zwiespalt/Zusammenhang auf zwischen Jazz – afrikanische Musik, die auf europäischen Instrumenten gespielt wird – und dem Kampf um ein Ende der Diskriminierung der Afroamerikaner durch die europäischen Einwanderer. Schlagzeuger Max Roach – Sideman von Charlie Parker, Miles Davis, Thelonious Monk – bewegte sich mit u.a. Sängerin Abbey Lincoln und dem Saxofonisten Coleman Hawkins im Niemandsland zwischen Hard Bop, afrikanischen Wurzeln und freiformaler Ästhetik. Lincolns wortloser Gesang in „Tryptich: Prayer/Peace/Protest“ ist ein Schrei nach Freiheit.

1964

Doc Watson

Doc Watson

Arthel Lane Watson, 1923 in North Carolina geboren, im ersten Lebensjahr wegen einer Augeninfektion erblindet, kam erst spät, im reifen Alter von 41 Jahren, zu seinem ersten Album. Aber dieses Debüt legte ein paar Standards fest, die bis heute ihre Gültigkeit besitzen in der akustischen Musik. Doc Watson spielt eine Mischung aus Traditionals und Coverversionen aus Bluegrass, Folk, Country(-Blues) und Old-Timey-Music, die von seinem außergewöhnlichen Fingerpicking auf der akustischen Gitarre leben. Der a cappella vorgetragene Gospel „Talk About Suffering“ ist ein einziger Gänsehautmoment. Jeder, der vorhat, sein Geld mit Folk-verwandter Musik zu verdienen, sollte gezwungen werden, vorher diesen Song anzuhören.

1968

Michael Yonkers Band

Microminiature Love

Auch so ein großes „verlorenes“ Album der Musikgeschichte. Microminiature Love wurde im Jahr 1968 aufgenommen und hätte damals vom nicht so wageunmutigen Label Sire Records veröffentlicht werden sollen, was aber nie geschehen ist. Erst im Jahr 2002 wurde die Platte des Musikers aus Minneapolis zum ersten Mal in Miniauflage herausgebracht. Wahrscheinlich war Yonkers roher, mit viel Proberaumcharme ausgestatteter Psychedelic-Proto-Punkrock zu viel für die angeblich so aufgeschlossenen Menschen in der Zeit nach dem „Summer Of Love“. Manchmal lassen diese Lieder an Demoaufnahmen der Stooges denken, manchmal ächzt und stöhnt sich Yonkers durch die Songs, wie zehn Jahre später David Thomas mit Pere Ubu.

1968

Peter Brötzmann Octet

Machine Gun

Bevor sich der europäische Freejazz zu einer Art kammermusikalischer Improvisationsmusik entwickelte, setzte der Saxofonist Peter Brötzmann mit seinem zweiten Album einen ersten Meilenstein. Brötzmann baute mit seinem Oktett (u.a. Saxofonist Evan Parker und Schlagzeuger Han Bennink) auf Ornette Colemans Free Jazz (1960) und John Coltranes Ascension (1966) auf, ging allerdings in seiner Radikalität und der Deutung des Begriffs musikalische Freiheit noch zwei Schritte weiter. Machine Gun ist ultra-aggressive High-Energy-Musik, die stellenweise keine Rückschlüsse darauf zulässt, auf welchen Instrumenten sie eingespielt wurde. Über 40 Jahre nach seiner Aufnahme immer noch ein Hörerlebnis, das erarbeitet werden will.

1969

Ennio Morricone

Ecce Homo – I Sopravvissuti

Immer wieder beklagt sich der Komponist Ennio Morricone darüber, dass er oft nur als Soundtracklieferant für Spaghettiwestern wahrgenommen wird. Wenn es einen Beweis gibt, dass der Italiener mehr kann, dann ist das Ecce Homo – der vielleicht ungewöhnlichste Soundtrack Morricones. In kleiner, kammermusikalischer Besetzung – Flöte, Viola, Harfe, Percussions, Marimba und Edda Dell’Orso mit ihrem wortlosen Gesang – betritt der Komponist das Territorium von Avantgarde und Neuer Musik. Mit überwiegend abstrakten Klängen schafft Morricone eine klaustrophobische Atmosphäre, in der die Interaktion der minimalistisch eingesetzten Instrumente genauso wichtig ist wie die Pausen zwischen den Tönen.

1972

Miles Davis

On The Corner

Miles Davis war zeit seines Lebens Kritikern und Zuhörern zwei Schritte voraus. Vieles aus dem Werk des Trompeters hat sich erst Jahre oder Jahrzehnte später erklärt. Wie etwa On The Corner. Davis hatte Ende der 60er den elektrischen Jazz „erfunden“. Daran waren seine Anhänger in der Zwischenzeit gewöhnt. Auf On The Corner improvisierten über ein Dutzend Musiker im Kollektiv. Versatzstücke von Free Funk, Rock und Ahnungen von Jazz entwickeln im Rahmen der Tonalität einen eindringlichen Groove. Zu seiner Zeit war dieses Album eines der schlechtestverkauften des Trompeters. Im Lauf der Jahrzehnte aber wurde es zu einem großen Einfluss auf HipHop und elektronische Musik. Die Original-LP ist praktisch unbezahlbar.

1973

Les McCann

Layers

1973 wechselte der Soul-Jazz-Pionier und Pianist Les McCann zum Synthesizer. Es gab vorher und nachher Experimente von Jazzmusikern mit dem elektronischen Klangerzeuger: Sun Ra, Paul Bley, Herbie Hancock – die hatten allerdings eher avantgardistischen Charakter. Les McCann schuf mit Layers ein Album zwischen Lyrizismus und organischem Groove. Wie ein Kind gibt der Musiker in den Liner Notes der Platte seiner Freude darüber Ausdruck, wie er dank des ARP-Synthesizers zu einem kompletten Orchester wird, zwischen Trompeten, Posaunen, Flöten und Oboen hin und her wechseln kann. Ein Album, das von seiner Soundästhetik einmalig war und als Samplematerial für Generationen von Musikern herhalten musste.

1978

Pere Ubu

The Modern Dance

In Cleveland, Ohio, wurde dieses musikalische Wunderkind geboren. Mitten hinein in das Jahr 1978, das nach dem reinigenden Punk-Gewitter des Vorjahres dem Eklektizismus gegenüber aufgeschlossen war. Das Debüt von Pere Ubu barg eine komische Mischung aus Punk-Attitüde, kunstvollem Experimental-Rock, Andeutungen von jazzy Strukturen, Tempo- und Richtungswechseln. Und über all dem, was damals in die Punk- und New-Wave-Schublade gesteckt wurde, lag die Stimme von David Thomas, die in den abenteuerlichsten Lagen und Färbungen zu singen imstande ist. Und im vierten Jahrzehnt nach The Modern Dance gibt es Pere Ubu immer noch. Und sie machen immer noch Musik, die ihrer und allen anderen Zeiten voraus ist.

1978

Siouxsie & The Banshees

The Scream

Susan Janet Ballion alias Siouxsie Sioux ist das role model aller Musikerinnen, die sich in der Saison 2011/2012 als Hexen und Goth-Nachwuchskräfte betätigen. Mit ihrem Debütalbum setzten Siouxsie & The Banshees gleich einen Post-Punk-Meilenstein. The Scream stand mit der kühlen, metallischen Anmutung der Songs, den Stakkato-Drum-Beats und -Gitarrenriffs und der exaltierten Stimme von Siouxsie Sioux in keiner musikalischen Tradition der Prä-Punkrock-Ära. Ungewöhnlich für die damalige Zeit: die historische Referenz an The Beatles mit der Coverversion von „Helter Skelter“. Und wie es sich gehört, ist der Single-Hit aus der Zeit, „Hong Kong Garden“, nicht auf dem Album drauf.

1978

Sun Ra

Disco 3000

Am Gesamtwerk des mythischen Musikers und Philosophen Sun Ra (1914-1993) dürften Komplettisten verzweifeln. Mit über 100 Alben gehört der Freejazz-Wegbereiter zu den produktivsten Musikern des vergangenen Jahrhunderts. Allein in den Jahren 1977 und 1978 wurden mehr als 20 Sun-Ra-Alben veröffentlicht. Darunter auch Disco 3000, das in Italien mit Saxofonist John Gilmore, Trompeter Michael Ray und Schlagzeuger Luqman Ali aufgenommen wurde. Die über 26 Minuten des Titeltracks können als Eintrittskarte in die Welt von Sun Ra benutzt werden. Die Komposition zwischen Muzak und Freejazz ist um die elektrischen Keyboards und Synthesizer Sun Ras aufgebaut, bietet aber jedem Bandmitglied ausgiebig Raum zum Solieren.

1979

Steve Hillage

Rainbow Dome Musick

Böse Menschen würden dieses Solo-Album des Gong-Gitarristen Steve Hillage in der „New Age“-Schublade ablegen. Es spricht ja auch einiges dafür: die musikalische Vergangenheit des Musikers, der Albumtitel, die Namen der zwei (!) über 20-minütigen (!) Tracks („Garden Of Paradise“, „Four Ever Rainbow“), das Coverartwork. Mit Rainbow Dome Musick bewegte sich der Gitarrist in keiner (Prog-)Tradition, in der er vorher zu Hause war. Hillage spielt eine impressionistische Musik, die sich Zeit lässt, bei der die beteiligten Instrumente (Gitarre, Synthesizer, Klavier, Sequencer) sich zu einem faszinierenden Soundstrom vereinigen. Das Album wurde in den frühen 90er-Jahren bei DJ-Sets von The Orb gespielt (mit denen Steve Hillage später auch zusammenarbeiten sollte). Ein Klassiker in den Chill-Out-Räumen der ersten Rave-Generation.

1982

The Fall

Hex Enduction Hour

Eine Stunde mit den frühen The Fall aus Manchester. Der archaische, minimalistische Klang der ersten vier Platten der Band um Mark E. Smith war auf ihrem fünften Album zu einem unglaublich dichten Sound verwoben worden, der Summe aus Gitarren, Keyboards, manipulierten Tapes und den beiden (!) Schlagzeugern Paul Hanley und Karl Burns. Hex Enduction Hour ist eine Lehrstunde in Punk-informiertem Art-Rock und Mark E. Smiths „menschenfreundlicher“ Gesinnung, die in der Musikjournalisten-Hasshymne „Hip Priest“ gipfelt, einem dunkel gefärbten Stück Zeitlupen-Post-Punk. Und unter all dem Krach versteckte sich die ein oder andere großartige Popmelodie („Jawbone And The Air-Rifle“, „Mere Pseud Mag. Ed.“, „Iceland“).

1983

ESG

Come Away With ESG

Das Debütalbum der Geschwister Scroggins aus der South Bronx. Die vier Schwestern Renee, Valerie, Deborah und Marie Scroggins veröffentlichten nach zwei EPs und einer Single (für das britische Factory-Label) mit Come Away With ESG auf Albumlänge einen Klassiker für die New Yorker No-Wave-Szene der frühen 80er-Jahre. Ein Überhit wie „Dance“ benötigt nicht viel mehr als ein Schlagzeug, eine Bassline und den exaltieren Gesang der Scroggins. Die grandiose ESG-Fusion von Post-Punk-Geist, Disco- und Funk-Rhythmik hat die Zeit überdauert wie kaum eine andere Musik aus den 1980er-Jahren. Dieses Album könnte heute von einem Label wie DFA veröffentlicht werden. Und kein Mensch würde an seiner Aktualität zweifeln.

1983

Paul Parker

Too Much To Dream

Da kam in San Francisco zusammen, was einfach zusammengehörte. Patrick Cowley, der visionäre Post-Disco/Hi-NRG/Proto-House-Produzent, und Paul Parker, der Sänger mit der hochenergetischen Stimme. Patrick Cowleys Dancefloor-Produktionsweise mit den perlenden Synthesizersounds, den galoppierenden Moroder-Beats und den überbetonten Percussions (Kuhglocken!) passte perfekt zur Stimme Paul Parkers, die unter Tausenden Sängern herauszuhören ist. Der Lohn der Zusammenarbeit: Paul Parkers erster und einziger Nummer-1-Hit in den Billboard-Charts: „Right On Target“. Bisher jüngste Großtat des Sängers: Sein Gastauftritt 2011 beim Track „Out Of Control“ auf dem Debütalbum des österreichischen Neo-Disco-Produzenten Wolfram.

1986

Talk Talk

The Colour Of Spring

Happiness is easy? Des einen Leid, des anderen Lied. Die Musikwelt hat Mark Hollis‘ Leiden am Leben allgemein und an schwierigen und gescheiterten Beziehungen im Speziellen eine ganze Reihe von wunderbaren Alben zu verdanken. The Colour Of Spring, das dritte Album der Band aus London, ist ihr schlüssigstes – auch, was die Qualität der Songs angeht. Die Arrangements der Lieder, ihre Instrumentierung und die sanfte Experimentierlust wiesen in die nahe Zukunft der Band. The Colour Of Spring ist ein Album des Übergangs zwischen dem 80er-Jahre-Pop von Talk Talk („Such A Shame“) und ihrer späteren Inkarnation als Experimentalisten. Zwei Jahre danach, mit Spirit Of Eden, sollte bei Talk Talk nichts mehr so sein, wie es einmal war.

1985

Vangelis

Invisible Connections

Der griechische Musiker und Komponist Vangelis Odysseas Papathanassiou wird im kollektiven Musikgedächtnis als Lieferant schmalziger Filmscores, von denen manche als schmalzige Boxkampfeinlaufmusik verwendet wurden, haften bleiben. Wir erinnern daran, dass Vangelis von Mitte der 70er-Jahre bis Anfang der 80er (vom Album Heaven And Hell bis zum Blade Runner-Soundtrack) eine Reihe hervorragender Platten mit elektronischer Musik aufgenommen hat. Invisible Connections ragt heraus aus seinem Gesamtwerk, weil das Album mit nichts vergleichbar ist, was Vangelis vorher oder nachher gemacht hat. Es ist ein Experiment in minimalistischer elektro-akustischer Musik. Ambient not Ambient, mehr Neue Musik als Pop. Folgerichtig wurde das Album damals auch beim Klassik-Label Deutsche Grammophon veröffentlicht.

1988

808 State

Newbuild

Es war nur logisch, dass Aphex Twin im Jahr 1999 Newbuild auf seinem Rephlex-Label wiederveröffentlicht hat. Als Referenz an seine Vorbilder und als Erklärung, woher er selber kommt. Das Debütalbum und das einzige Album der Manchester-Band 808 State, auf dem Urmitglied Gerald Simpson (A Guy Called Gerald) zu hören ist, ist nicht nur die klassische, archetypische, genredefinierende Acid-House-Platte. Sie hat auch die erste IDM-Generation in den 90er-Jahren beeinflusst. Newbuild markiert den Beginn der modernen elektronischen Musik, wie wir sie kennen. Die Maschinen Roland TR-808 und Roland TB-303 liefern diesen funky Groove, dazu das Zwitschern der 303-Bassline. Alles mündet in einen repetitiven tranceartigen Flow.

1994

Low

I Could Live In Hope

Es ist ein langer Weg, den Low gegangen sind von diesem Debütalbum bis heute. Die Band aus Minnesota hat ihren Sound immer wieder verfeinert, mal opulenter gestaltet, mal minimalistischer angelegt. Aber im Grunde ist die Essenz des Trios mit der Kernbesetzung Alan Sparhawk und Mimi Parker schon auf I Could Live In Hope enthalten. Es geht um Songs (Slo-Core wurde diese minimalistische Variante des Indie-Folk-Rock in den 90ern genannt) und um Sound und Atmosphäre. Und in beiden sind Low Meister. Die Liedtitel bestehen alle aus einem Wort – von „Word“ bis „Sunshine“ – das Cover des Klassikers „You Are My Sunshine“. Produziert von (Mark) Kramer, Ex-Mitglied von Bongwater und Untergrund-Held der 80er-Jahre.

1995

Model 500

Deep Space

Zusammen mit Derrick May und Kevin Saunderson gilt Juan Atkins als Mitbegründer des Detroit Techno. Seit dem Jahr 1981 macht Atkins elektronische Musik – unter einer Vielzahl von Pseudonymen. Mit dem Elektro-Funk von Cybotron ebnete Atkins am Anfang der 80er-Jahre den Weg für die Musik, die später Techno genannt werden sollte. Eines von Atkins Projekten ist – das 2010 nach mehr als zehn Jahren reanimierte – Model 500. Das Debütalbum Deep Space ist von zeitloser Schönheit, auf der dünnen Linie zwischen experimentell und tanzbar. Der „Godfather Of Techno“ handelt in den Tracktiteln die Themen Futurismus und Weltall ab – wobei das „deep“ im Albumtitel gerne auch auf die Qualität der neun Tracks bezogen werden kann. Jeder einzelne von ihnen könnte in einem heutigen DJ-Set neben aktuellen bestehen.

1996

Radar Bros.

Radar Bros.

Slowcore wurde der Mini-Hype genannt, der Mitte der 90er-Jahre allen gerade recht kam, die keine schlechten Britpop-Platten hören oder sich mit Rage Against The Machine nicht ein bisschen wild und politisch fühlen wollten. Unter den vielen unbekannten Bands im Slowcore, dem langsamen, minimalistischen Bruder des Folk(rock), gehörten Radar Bros. aus Los Angeles zu den Unbekannteren. Das Debüt hat zwei Hände voll wunderbarer Popsongs im Minimal-Indie-Folk-Arrangement. Radar Bros. sind in Wirklichkeit eine Coverband, die sich auf das Beste, was Pink Floyd in den 70er-Jahren zu bieten hatte, spezialisiert hat: dieser semi-akustische Folksong, der immer nur eine Dreingabe war zu dem Pomp, für den die Menschen Pink Floyd damals so geliebt haben.

1997

John Fahey

City Of Refuge

Der große Gitarreninnovator John Fahey ist nie der gute Folkonkel gewesen. Von Ende der 50er-Jahre an war das Experiment integrativer Bestandteil seiner Musik. In der Spätphase seines im Februar 2001 zu Ende gegangenen Lebens hat Fahey mehr experimentiert als jemals zuvor. Auf City Of Refuge ließ der Gitarrist sämtliche Konventionen über Bord gehen und wurde so avantgardistisch wie nie zuvor: Tapeloops und Samples, verstimmte und verzerrte Gitarren, ein harscher Fingerpicking-Stil, der an den des englischen freien Improvisators Derek Bailey erinnerte und zwei „Songs“, die die 20-Minuten-Grenze tangierten/überschritten. City Of Refuge war Faheys erstes Album in fünf Jahren und der Beginn eines „Comebacks“, das bis zu seinem Tod vier Jahre später anhielt.

1997

Jim O’Rourke

Bad Timing

Das Timing war perfekt: Es war damals die Zeit, in der der Avant-Folk-Gitarrist John Fahey seinen zweiten Karriere-Frühling erlebte. Jim O’Rourke, der Tänzer auf allen fortschrittlichen Musikhochzeiten der 90er-Jahre zwischen Post-Rock, Electronica und moderner Klassik, bezeichnete Fahey immer als Vorbild auf der Gitarre. O’Rourke lieferte mit Bad Timing sein „Tribute-Album“ für Fahey ab. Folkfingerpicking zu elektro-akustischen Sounds, der Klang als Hauptakteur, in dem sich eine Reihe von Instrumenten (natürlich Gitarre, Streicher, Drehleier, Blaskapelle, laptopgenerierte Sounds) zu einem gigantischen Strom aus Ambience zusammenfügen. Das nächste John-Fahey-Album, Womblife, sollte Jim O’Rourke produzieren.

1997

X-Ecutioners

X-Pressions

Ende der 90er-Jahre drohte der HipHop erwachsen zu werden. Das heißt, so glatt gebügelt und kommerziell, dass auch der letzte Skeptiker langsam überzeugt war, es dabei mit richtiger Musik zu tun zu haben. Da veröffentlichten X-Ecutioners aus New York ihr erstes Album. X-Pressions war ein reines Produkt des Turntablism, Rob Swift, Roc Raida, Total Eclipse und Mista Sinista gehörten Anfang der 90er-Jahre zu der elfköpfigen DJ-Crew X-Men, bevor sie X-Ecutioners gründeten. Ihr Debütalbum beschwor die Vergangenheit, es war strictly old school mit knochentrockenen Beats und Scratches, ein Manifest der DJ- und Break-Kultur, ein hochmusikalisches Album dazu. Und ein Klassiker des Underground-HipHop der 90er.

2009

Zola Jesus

The Spoils

Auftritt Nika Roza Danilova. Das Debütalbum der Amerikanerin mit den russischen Wurzeln. The Spoils kann seine niedere Herkunft nicht verleugnen: aufgenommen bei Danilova zu Hause auf billigem Equipment und mit viel Hall versehen. Aber war dieser dünne, höhenlastige, vermeintlich schlechte Sound nicht der Stoff, aus dem Ende der 00er-Jahre ganze Genres geschneidert wurden? Man hört auf The Spoils aber bereits das, was Zola Jesus auf späteren Alben wie Stridulum II und Conatus perfektionieren sollte. Dieser Hang zum Drama, zum Musiktheatralischen, zur großen, meist negativ aufgeladenen Emotion. Die neue Königin des Goth-Pop, die neue Siouxsie Sioux, die neue Lydia Lunch war geboren. Nur laufen musste sie noch lernen.

2010

Peter Gordon Love Of Life Orchestra

Peter Gordon Love Of Life Orchestra

In den späten 70ern und frühen 80ern schienen die musikalischen Möglichkeiten in der New Yorker Downtown-Szene grenzenlos zu sein. Der Musiker und Komponist Peter Gordon, der unter dem Avantgardisten Terry Riley studiert hatte, gründete das Love Of Life Orchestra – eine Vereinigung von Avantgardemusikern, der zeitweise David Byrne, Laurie Anderson und Arthur Russell angehörten. Hier waren Disco und Avantgarde keine Widersprüche. Zum discoiden Four-to-the-floor-Beat krochen atonale Töne und verzerrte Gitarren über den Tanzboden. 2010 wurde Love Of Life Orchestra mit dieser Compilation vom DFA-Label wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.