Konzertkritik

All Eyes on Polly Jean Harvey


In der Berliner Zitadelle Spandau spielen PJ Harvey und ihre neunköpfige Band ein imposantes Konzert – nur hätte vielleicht mal jemand den Himmel verdunkeln müssen.

Alles ist hell und blau und riecht nach Juni, als Polly Jean Harvey mit ihrer neunköpfigen Band mit Marschtrommeln und Pauke einzieht. Nichts gegen Tageslicht, die Achtziger sind ja auch längst vorbei. Und der Innenhof dieser fernen Festung im Westen Berlins kann durchaus ein ebenso lauschiger wie treffender Ort sein für Rock und mittelalte Rockpärchen im Besonderen, die heute hier die Mehrheit stellen. Aber wenn es an dieser ansonsten nichts als imposanten Veranstaltung etwas zu bemängeln gibt, dann den Ort.

In PJs Band spielen Legenden und Koryphäen wie Mick Harvey (ex-The Bad Seeds), Langzeit-Kooperateur John Parish, der omnipräsente Baritonsaxofonist Terry Edwards, Alain Johannes (Queens Of The Stone Age u.a.) und James Johnston (Gallon Drunk). Die Herren im dunklen Anzug nehmen an ihrem großen Instrumentarium, mit dem sich wohl auch Brian Wilsons SMILE originalgetreu aufführen ließe, Polly in ihre Mitte. Die Künstlerin trägt zu Stiefeletten Ledermini, darüber einen schimmernden Federkokon. Alles rabenvogelschwarz bis ins mächtige Augen-Make-up.

BERLIN, GERMANY - JUNE 20: British singer PJ Harvey performs live during a concert at the Zitadelle Spandau on June 20, 2016 in Berlin, Germany. (Photo by Frank Hoensch/Redferns)

Ihre Präsenz. Sie ist so was von da. All eyes on Polly. Kein Moment ohne Körperspannung. Sie beherrscht die Kunst, hinterm Mikrofonständer herumzustehen ohne eine Sekunde herumzustehen. Und sie tanzt ja auch noch, trippelt, stakst, schleicht sich an, ist eine Schlange, duckt sich im Unterholz, malt mit freier Hand und ganzem Arm zusätzliche Noten und Unterstreichungen in die Luft, dreht den Kopf von hier nach da mit plötzlichem Ruck und großen Augen. Das zu viel an Theatralik unterstreicht die Kunstfigur. Und wie sie singt. Sie trifft nicht nur jeden Ton, sondern auch jede ihrer Rollen, die sie in den letzten 25 Jahren angenommen und verinnerlicht hat.

Ihre große Musikantenrunde braucht es nicht für die Wucht, sondern im Gegenteil für die fein ausdifferenzierten Klänge, für das vielstimmige Zusammenspiel, das in seinem bodenständigen Sessions-Charakter einen Kontrapunkt setzt zum zuletzt ja sehr konzeptionell gewordenen, bewusst abgehobenen Werk Harveys. Und am Ende, gerade im zweiten Titel mit den älteren Titeln – drei Stücke von TO BRING YOU MY LOVE, der Rest wird allerdings stiefmütterlich behandelt – dann doch auch für die Wucht.

Männer, die so singen, sind längst schon Richtung Abgrund abgebogen.

Besonders eindrucksvoll, wenn auch nicht immer druckvoll genug für den ganzen Hof abgemischt: die drei Saxofone. Und die sonoren Männerchöre, in denen Stolz und Schicksalsergebenheit eine verzweifelte Hochzeit feiern. Männer, die so singen, sind längst schon Richtung Abgrund abgebogen. Wie man in diesem Konzert überhaupt immer wieder darauf gestoßen wird, dass PJ Harvey nicht nur eine der wichtigsten zeitgenössischen Kräfte des Blues ist, wenn es darum geht, dieses Gefäß mit neuen Inhalten zu füllen. Sondern sie landet in der Suche nach dem dringlichen Ausdruck auch immer wieder beim Gospel– ohne tatsächlich „schwarz“ klingen zu wollen. Aber gerade die Technik der Verstärkung durch mehrstimmige Wiederholung kennen wir von da – und sie macht einen Call-and-response-Chor wie „What is the glorious fruit of our land? It´s fruit is deformed children“ aus „The Glorious Land“ auch zu einem Höhepunkt des Konzerts. Der Bitterkeit.

Nur falls mal wieder jemand fragt, warum den Songwritern nichts zur aktuellen Lage in der Welt einfallen möchte: Die Stücke von PJ Harveys aktuellsten Alben THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT und LET ENGLAND SHAKE sind einwandfreies Protestsong-Material. Nur eben nicht aus der Pete-Seeger-Schule. Sie bieten stattdessen viel Freiraum zur eigenen Interpretation. Aber wer den Hörern nicht die entsprechende Mündigkeit zuspricht, kann sich 2016 auch nur lächerlich machen. Und wer die Ohnmacht nicht mit abbildet, die sich angesichts von Pollys Blick auf die Welt im Dauerzustand des Kriegs und der Ungerechtigkeit zwangsläufig einstellt, auch. Dass Polly Jean solch politisches Lied ausgerechnet wie ein in Tinte getauchtes Waldwesen aus dem „Sommernachtstraum“ vorträgt, macht die Sache nur noch spannender: Brüche brennen sich ein. Allerdings sollte man bei so einer Aufführung unbedingt das Licht ausschalten können.

Frank Hoensch Redferns