Reportage

Auf der Flucht


Was tun, wenn man etwas tun möchte? Die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel entschied sich für den direktesten Weg – und half Flüchtenden über die Landesgrenze aus Ungarn nach Wien.

Der Konvoi machte sich aufbruchbereit. Renza rief: „FIVE MINUTES! JALLA! JALLA!“, und wir stiegen wieder alle in unsere Autos, schnallten die Kinder in die Kindersitze und fuhren Richtung Wien. Ich drehte leise die Musik auf und wir sprachen mit dem Familienvater, der bei uns im Auto saß. Die anderen Familienmitglieder schliefen nach wenigen Minuten ein, weil sie so erschöpft waren. Der Vater sagte, sie hätten seit drei Tagen nicht mehr richtig geschlafen, und auch er, der vorher noch so robust und erhaben gewirkt hatte, wirkte plötzlich erschlagen und schwach. Er fragte, was wir besser fänden, Finnland oder die Niederlande. Wir fragten: „You mean, for refugees?“ Er: „Yes.“ Die ganze Verlorenheit und Ahnungslosigkeit kam dadurch zum Vorschein, dass er sich in so einer wichtigen Frage auf unsere spontane Antwort verlassen wollte. Wir meinten, wir wüssten es auch nicht genau, aber überall wäre es besser als in Ungarn. Er: „But where can I start to work soon?“ Maria: „We don’t know, sorry, it will take some time everywhere.“ Immer wieder stößt man auch bei sehr gebildeten Leuten auf verhältnismäßig erschütternd naive Vorstellungen von dem, was sie in der nahen Zukunft in ihren Zielländern erwarten würde. Wir steckten das Ladegerät seines Handys an den Zigarettenanzünder und fuhren weiter durch die Nacht. Er schlief bald ein. Nach dem Grenzübergang zu Österreich hielt Renza an einem Parkplatz, weil das kleine Mädchen in ihrem Wagen sich übergeben musste.

„Die Innenstadt von Wien erschien mir majestätisch schön und unsinnig sauber.“

Es ging weiter Richtung Wien, und wie schon in der Woche davor schien mir die Innenstadt, durch die wir nun fuhren, angesichts des ganzen Elends, das wir an dem Tag gesehen hatten, majestätisch schön und unsinnig sauber, als wäre jedes historische Gebäude mit Geldscheinen blank poliert worden.

Umso enttäuschender war der Anblick des Bahnhofs. In dieser Nacht waren Tausende von Menschen angekommen, die Notquartiere offenbar überfüllt, und rund um das Bahnhofsgelände lagen Männer, Frauen, Kinder obdachlos in Decken gewickelt auf dem nackten Boden und schliefen. Das war nicht das, was wir dieser Familie bieten wollten, für die wir uns mittlerweile verantwortlich fühlten. Wir parkten. Sofort gingen Maria und ich los und erkundigten uns nach Notquartieren. Keine Chance.

Wir schnappten das Gerücht über ein neues Quartier an der Kunst-Uni auf, das auf dem chaotischen Bahnhof herumging und über Busse, die Leute dorthin brächten. Wir fanden sie sogar und packten schnell die Familie zusammen, erklärten ihnen, dass sie zu einer Unterkunft kommen würden, klappten gemeinsam den Kinderwagen ein und halfen ihnen mit den Kindern in den Linienbus. Alle waren drinnen. Die Frau, die gut Englisch sprach, stieg noch mal aus, schüttelte uns dreien die Hand und drückte jeder von uns einen dicken Kuss auf die Wange: „You are good people. We were lucky to meet you.“ Wir so: „No problem. All the best. Good luck!“ Und so winkten wir einander lächelnd zu, bis der Bus außer Sichtweite war.

In der Hektik hatten wir keine Kontakte getauscht. Wir verabschiedeten uns auch von Renza und fragten, was sie eigentlich so mache. Sie: „I am from Norway but currently studying in Slowakia.“ Sie deutete auf den zappelnden Hund in ihrem Arm: „This is Bellski, he only understands Swedish.“ Wir tätschelten ihn. „I am studying medicine but when I was younger I wanted to be a soldier in the military!“ Wir glauben es ihr gern, umarmten uns zum Abschied. „Thank you for everything. See you next time!“ Müde und glücklich darüber, die Familie gut untergebracht zu haben, kauften Maria und ich uns ein Bier und fuhren auf eine Party.