Bad Girl Blue


Sie gilt als harte Nuß und böses Schandmaul: CHRISSIE HYNDE, Sängerin, Gitarristin und unumschränkte Chefin der PRETENDERS. Chrissie wird 35 und hat zwei Kinder — eins von Kinks-Boß Ray Davies, eins von ihrem Ehemann Jim Kerr, seines Zeichens Kopf der Simple Minds. Und sie hat eine völlig neue Band zusammengestellt, die zu drei Fünfteln aus Schwarzen besteht! Ihrem "Kollegen" Steve Lake erzählte die frühere Journalistin, warum sie kein Fleisch ißt, was die Kinder machen, wie sie Pepsi-Werbung findet und warum sie gerne älter wird

Man kann ihren Namen nicht erwähnen, ohne Kommentare wie „dieses Biest“, „Mein Gott, die hat echt Haare auf den Zähnen“ oder ähnliche Nettigkeiten zu hören. Ich kannte sie flüchtig in London, Anfang der 70er: sie war Journalistin für eine konkurrierende Musikzeitschrift und damals genauso beinhart idealistisch drauf wie wir alle, Man konnte das an ihren zynischen, beißenden Texten ablesen. Denn Zynismus ist immer die Maske des Idealisten, der sich dahinter zu schützen versucht.

Später, als die Pretenders an Drogen-Überdosen oder drogenverursachten Herzattacken starben wie die Fliegen, entsagte sie dem Rock ’n‘ Roll-Lifestyle und unternahm einen trotzigen Versuch in Richtung Normalität. Wenn sie auf „In The Middle Of The Road“ singt: „Ich hab ein Kind, ich bin 33“, dann klingt in ihrer Stimme der unausgesprochene Zusatz mit: „Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, Arschloch!“

Diese Aggressivität aber darf man nicht für bare Münze nehmen. Chrissie Hynde ist nach wie vor eine rundum weichherzige Frau, verkleidet als harte Nuß. Ihre Handtasche quillt immer mit Famihenfotos über. Letztes Mal zeigte sie mir. während ihr die ältere Tochter auf den Knien herum turnte, ihre Hochzeitsfotos; diesmal waren die Kinder dran.

….. hier ist sie, wie du siehst, als Fee verkleidet, während die andere ihr zuguckt… „

Unser Interview wurde vom späten Nachmittag auf den Vormittag gelegt, damit Chrissie heim nach London fahren und ihre Kinder rechtzeitig ins Bett bringen konnte …

Als ich ins Münchner Büro ihrer Plattenfirma komme, wird sie gerade laut. Chrissie weist einem Radio-Journalisten lautstark die Tür des Interviews-Zimmers. Der Typ hatte sich erdreistet, die philosophischen Beweggründe ihrer vegetarischen Ernährung in Frage zu stellen.

Fetzen ihres Monologes dringen durch die Wand, Innerhalb weniger Minuten findet sich der Journalist auf dem Flur wieder, schüttelt sich und brabbelt irgend etwas von Frauen und deren fehlender Logik. Chrissie dagegen gießt sich seelenruhig eine weitere Tasse Tee ein und gluckst still vor sich hin.

Ich versuche, sie weiterhin auf das Thema Vegetarismus festzunageln. „Diese Schuhe sind nicht aus Soja“, sage ich, indem ich auf das schmucke Paar grüne Wildleder deute, in dem ihre dünnen Beine stecken.

„Nah“, verneint sie, nach wie vor im gedehnten Dialekt ihrer amerikanischen Heimat, „aber wenn eine Kuh stirbt, warum sollte man sie nicht anziehen ?“

Warum nicht essen? Wozu sentimental sein?

„Ich bin nicht sentimental“, schnauzt sie mit einem leichten Blitzen in den Augen zurück, „ich bin militant.“ Und sie entwickelt eine Argumentation, die den meisten Lesern schon bekannt sein wird: Wie absolut lächerlich es ist, daß ein so großer Teil der Erdoberfläche grasenden Tieren überlassen wird. Und wie umständlich diese Methode doch ist, um die Welt zu ernähren.

„Bob Geldof hat mich gefragt, ob ich bei Live-Aid mitspielen wollte. ,Na klar‘, hab ich gesagt, ,Aber wirst du Vegetarier werden?‘ Und er antwortete:,Ha, ha.'“

Ha, ha?

„Er hat nur gelacht! Aber wenn man alle Haustiere auf der Welt langsam aussterben ließe und das Getreide statt dessen den Menschen, nicht mehr den Tieren geben würde, dann hätte der Hunger auf der Welt ein Ende.“

Ich sagte es ja: eine Idealistin.

Hart? 0 ja, sie kann hart sein, wenn es darum geht, ihre Musik zu verteidigen. Vor ein paar Monaten feuerte sie während der ersten Session für das neue Album GET CLOSE den Schlagzeuger Martin, den letzten Überlebenden der Original-Pretenders. „Wir waren einige Jahre lang weg vom Fenster. Zuerst hatte ich eine Knieverletzung, dann noch ein Kind, die Gruppe war für diese Zeit praktisch aufgelöst.

Als wir zurückkamen, stellte sich heraus, daß Martin überhaupt kein Schlagzeug mehr gespielt hatte. Er hatte ein bißchen mit Keyboards rumgespielt und Songs geschrieben. Naja, ich konnte das halt gar nicht gebrauchen. Und sein Schlagzeugspiel war schrecklich. Schlechter denn je. Nun, ich bin der Chef der Pretenders und ich muß darauf achten, daß die Musik stimmt …“

Sie erklärt, daß sie eine adäquate Rhythmusgruppe brauche, um den Leadgitarristen Robbie Mclntosh (den Ersatz für Jimmy Scott, den ersten Pretender) besser in Szene zu setzen.

„Und ich fühlte, daß die Band nach Jimmys und Pete Farndons‘ Ausfall zwischen zwei Stühlen hing. Man kann die beiden Jungs nicht einfach ersetzen und ungerührt weitermachen — obwohl wir genau das zunächst versuchten. Für die Zukunft erschien es mir sinnvoller, eine neue Band um Robbie herum aufzubauen, der ein ausgezeichneter Gitarrist ist und bisher nicht genug Raum hatte. Kurz: Ich dachte, daß Robbie für die Pretenders wichtiger war als Martin.“

Ich kann ihr ansehen, daß sie sich gerade vorstellt, wie das wohl gedruckt klingen mag. Sie runzelt die Stirn. Schüttelt sich die dunklen Haare aus dem Gesicht und fängt noch mal an. „Ich meine“, seufzt sie, „das war jetzt brutal ausgedrückt. Auf einer persönlichen Ebene ist Martin ein toller Typ. Er ist für mich ein guter alter Freund, aber …“ Die eiserne Schärfe kehrt wieder in ihre Stimme zurück, „mit gegenseitiger Zuneigung allein hältst du keine gute Rock-Band am Laufen. „

Schöner Satz. Klassische Hynde.

Die neuen Pretenders sind zu drei Fünfteln schwarz. Eine Überraschung. Der letzte Zugang ist der immens talentierte Keyboarder Bernie Worrell. in Deutschland wahrscheinlich am meisten bekannt durch den Talking Heads-Film „Stop Making Sense“. Wie beständig dieser Zugang sein wird, wird sich zeigen; immerhin hat er einfach mal für ein Jahr Tour unterschrieben.

Bernie spielt mit Blair Cunnigham am Schlagzeug und dem Bassisten T. M. Stevens. Stevens ist ein weitgereister Musiker mit hohen Backenknochen und schulterlangem Haar; für einen Schwarzen ungewöhnliche Merkmale. Cunnigham war während seiner Zeit bei Nick Heywards‘ Haircut 100 ein britisches Teen-Idol, ist aber in Memphis aufgewachsen, wo er seine Trommeln für das Soul-Label Stax schlug und mit Rufus „Walking The Dog“ Thomas unterwegs war.

Was kann man aus dieser Entwicklung schließen? Hynde besteht darauf, nicht auf Disco-Musik umgestiegen zu sein. Sie hat schwarze Musik schon immer geliebt. Ich hebe zweifelnd meine Augenbraue. Immerhin sagt das heutzutage jeder.

„Es ist wahr! Hör mal, ich hatte mal eine Band, 1975 in Cleveland, das war schon fast eine Soul-Band. Und Tatsache ist, daß die früheren Alben viel schwärzer geklungen hätten, wenn es in England Leute gegeben hätte, die wie, sagen wir mal, Bobby Womack gespielt hätten. Aber es gab keine.

Für mich war ,Brass In Pocket‘ eine Disco-Nummer. Jealous Dog‘ auf der zweiten LP sollte Stax-Feeling haben. Wir sind mit, Thin Line Between Love And Hate‘ auf der letzten Platte der Sache schon ein bißchen näher gekommen. Ich hab mir oft gedacht: Diese Musik gehört zu meinem Background, warum finde ich keine Leute, die das spielen können ?“

Komischerweise ist aber der gelungenste Song auf GET CLOSE dennoch eine Attacke gegen schwarze Musik und schwarze Werte. Er heißt „How Much Did You Get For Your Soul“ — und unter seinen Zielscheiben befindet sich Micheal Jackson mit seinem Multi-Millionen-Vertrag mit Pepsi Cola.

„Die Rockmusik kommt vom Blues und Gospel, aus der schwarzen Gemeinde, das ist richtig, trotzdem qlaube ich. daß in der schwarzen Gemeinde der 80er weniger Soul ist als je zuvor. Denk mal an die 60er: The Last Poets, Malcolm X. Dick Gregory, Eldrigde Cleaver. Ich meine, wo ist Cleaver jetzt?“

Tatsachlich macht und verkauft der ehemalige radikale Wortführer der Black Power momentan Barbecue Sauce.

Chrissie schaudert bei diesen Neuigkeiten.

„Schrecklich. Es sah so aus, als ob sich das ganze afro-amerikanische Ding Ende der 60er in eine positive Richtung bewegen würde, nach so vielen Jahren der Sklaverei; und jetzt in den 80ern … nichts! Da ist Michael Jackson, der mehr Platten verkauft als alle anderen schwarzen Künstler zuvor — und der spricht nicht mal mit der Presse. Und wenn er dann mal was sagt, dann steigt er auf ein Podium und sagt: ,Ich möchte mich bei Mr. Enrico bedanken, der mir die Ehre gab, Pepsi Colafir die nächsten drei Jahre zu präsentieren. Vielen Dank. 1 Für mich ist das wie eine Szene aus Jnvasion der Körperfresser‘. Ich verstehe nicht, wie jemand seine Position so mißbrauchen kann. Ich habe in New York diese phantastischen Studiomusiker getroffen, deren Lebensziel scheinbar nur darin besteht, Jingles fiir McDonalds und Budweiser zu machen. Mal ’ne schnelle Mark machen und dann nichts wie weg hier. Hey, was ist mit der Revolution passiert?

Tina Turner hat erst kürzlich für Pepsi Werbung gemacht. Whitney Houston fiir Diät-Pepsi. Lionel Richie auch. Was brauchen die — das Geld? Die Präsenz in den Medien? Da geh ich echt in die Luft, wenn ich mir vorstelle, wie sie alle in ihrem Mercedes und Porsche durch Hollywood kurven. „

Erst recht, wenn man hört, wie

gesundheitsbewußt sie alle sind. Michael Jackson würde wahrscheinlich keine Pepsi-Dose im Umkreis einer halben Meile dulden.

„Yeah, genau das ist es. Warum unterstützt du, wenn du in Geld schwimmst, ein Produkt, das du selber nie anfassen würdest?“

Das Gespräch kommt –— in Hyndes‘ Fall unvermeidlich — auf die Männer in ihrem Leben. Es stellt sich heraus, daß sie Kinks-Kopf Ray Davies schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie ist überrascht, daß ich am nächsten Tag ein Interview mit ihm habe.

.Ehrlich??? So ein Zufall. Hör mal, ich würde ihm an deiner Stelle nicht erzählen, daß du mich getroffen hast. Ich glaube, das könnte ihn ganz schön durcheinander bringen. Er würde dann vielleicht ’ne Stunde lang erst mal gar nichts sagen. „

Was ihren momentanen Mann, den Simple Minds-Sänger Jim Kerr angeht: Den hat sie auch seit einigen Monaten nicht gesehen. „Das letzte Mal war vor zwei Monaten. Am Flughafen. Für zwei Stunden. „

Bist du mit diesem Zustand zufrieden?

„Nicht besonders. Natürlich konnte ich mir vorher in etwa ausmalen, wie mein Leben aussehen würde, aber jetzt ist’s ein bißchen extrem. Simple Minds waren fast eineinhalb Jahre auf Tournee. Jetzt sollen sie ein Live-Album machen; damit werden sie einige Monate beschäftigt sein. Und dann bin ich auf Tour.

An der Terminplanung muß was getan werden. Es ist schwer zu sagen: .Dann und dann werde ich Songs schreiben‘, aber ich finde, man sollte versuchen, sich ein Ziel zu stecken, um dadurch vielleicht die Möglichkeit zu kriegen, zumindest ein paar Monate im Jahr zusammen zu verbringen. Leute mit normalen Arbeitszeiten in ihren Jobs sehen sich wengistens nachts.“

Sie macht eine Pause. „Naja, das war‘ vielleicht schon zu viel des Guten. (Lacht.) Ich mag viel Freiraum. Und ich kann zwei Dinge auf einmal machen. Ich kann mit der Band proben, dann heimgehen und für die Kinder kochen. Ich kann auch zu Hause sitzen und mit der akustischen Gitarre Songs schreiben, nach alter Sänger/Songwriter-Tradition. Da Jim nun mal kein Instrument spielt, fällt das für ihn flach; folglich hat er ein wesentlich intensiveres Gruppenleben als ich. Sie machen ihre Songs gemeinsam — und in gewisser Hinsicht nimmt das viel mehr Zeit in Anspruch.

Ich würde das nie kritisieren, zumal ich das, was dabei rauskommt, großartig finde. Ich bin ein Simple Minds-Fan! Und sie haben natürlich in den letzten acht Jahren acht Alben gemacht; ich hab nur vier herausgebracht Für mich ist meine Zeiteinteilung besser. Sie läßt mir ein bißchen Zeit zum Leben — und sie hindert mich gleichzeitig daran, die Leute mit meinen Songs zu ermüden. Ich glaube, das Publikum würde mich satt kriegen, wenn ich unaußörlich Platten auf den Markt werfen würde.

Ich weiß von mir, daß ich selbst so reagieren kann — sogar bei Leuten, die ich bewundere. Wie Elvis Costello! Der bringt jedes Jahr ein paar LPs raus, die alle um-die 15 Songs enthalten. Ich hab aber nun mal nicht genug Zeil in meinem Leben, um mit diesem Output Schritt zu halten, ich kann all das Material nicht verkraften. Ich bin ganz schön langsam.“

Sie ist auch ganz schön entschieden. Das erste Mal. als ich sie sah, schleppte sie ihren Gitarrenkoffer durch den Regen, den Kragen ihrer Motorradjacke hochgeschlagen, die Haare ein zurückgekämmtes Rattennest. Es mußte einem keiner sagen, daß diese Frau in den Rock ’n‘ Roll verliebt war und offensichtlich einem Traum nachjagte.

Ich frage: Hat die Musik immer noch einen romantischen Reiz?

„Hmmm … Die Art der Romantik verändert sich. Was war’s denn in den frühen 70ern? Ich glaube, es war doch dieses harte Drogen-Keith Richards/Antia Pallenberg-Image. Eine Art Rock ’n Roll-Mystik.

Aber Rock reflektiert einfach die Launen der Zeit. Die Musik, die zuallererst meine Phantasie angeregt hat — wie das erste Kinks-Album — war überaus unschuldig; heutzutage könntest du nie und nimmer eine solche Platte machen. Es klang nach Jungsein im London der 60er, wo die Horizonte keine Grenzen zu haben schienen.“

Während wir jetzt alle weltüberdrüssig, ausgelaugt und abgenutzt sind…?

„Wir sind alle älter. Aber ich mag das. Ich bin ungefähr so alt wie die Rockmusik selber …“ (sie ist 1952, geboren, in dem Jahr, als Linie Richard „Get Rich Quick“ aufgenommen hat) „und es ist irgendwie faszinierend zu beobachten, daß Jugend in der Musik keine so große Rolle mehr spielt. Wenn du zum Beispiel jetzt 25 bist und in einer Band spielst, dann ist das ganz schön jung. Je mehr Musik reift, desto unwichtiger wird das Alter.

Als Teenager hätte ich wahrscheinlich über die Vorstellung eines Rockstars über 30 gelacht., Trau keinem über 30′ — erinnerst du dich noch? Aber jetzt, wo ich da angelangt bin, fühle ich mich ganz wohl. Ich hab kein bißchen Enthusiasmus verloren. Ich finde das, was ich mache, immer noch so aufregend wie früher.“