„Bei Mutti“: Erwin Wurm präsentiert seine erste große Retrospektive in Berlin


ME-URBAN-Redakteur Jochen Overbeck war in der Berlinischen Galerie und hat ein paar wichtige Fragen mitgebracht.

Beklemmend. Das ist der erste Eindruck. Beklemmend ist es im „Narrow House“. Man kann das Haus zwar betreten, aber das Weitergehen ist schwierig. Man muss sich durch die Gänge im Querformat schieben, die Füße nicht vor-, sondern nebeneinander setzen. Der zweite Eindruck ist dann Verwunderung. Alles ist gestaucht, alles ist schmal. Die Badewanne, der Esstisch, die Hausschuhe, das Telefon. Originalgetreu nachgestellt, nur eben so gequetscht, dass es auf die 1,10 Meter passt, die dieses Haus nur noch in seiner Breite misst.

Das „Narrow House“ ist tatsächlich eine – nun, nicht maßstabs-, aber durchaus detailgetreue Variation auf das Haus in Österreich, in dem der österreichische Künstler aufwuchs und Herzstück der jetzt eröffneten großen Ausstellung „Bei Mutti“ in der Berlinischen Galerie. Die eingangs erwähnte Beklemmung ist vermutlich genau das, was uns Wurm spüren lassen will. Die Enge der Provinz. Der fehlende Horizont. Repression, Wände, Grenzen. Das Infragestellen herkömmlicher Wahrnehmungsmuster. Das sind zentrale Motive seiner Kunst, die dabei einem erstaunlich einfachen Wirkprinzip folgt: Wer den zentralen Charakter eines Kunstwerks körperlich begreift, erkennt auch dessen Subtext. Und so verschiebt der österreichische Künstler die im Museum üblichen Rollen, macht den Besucher vom Betrachter zum Teilnehmer. Sichtbar wird das auch bei den „One Minute Sculptures“, Wurms vielleicht bekanntester Werkreihe: Zwar liegen die Objekte, die Ausstellungsstücke, die Skulpturen wie herkömmliche Kunst auf ihren Podesten, aber was sonst eher ungern gesehen wird, ist hier dezidiert empfohlen. Man soll sie benutzen. Als Zuschauer soll man absolut gleichberechtigter Teil dieser Skulpturen werden. Erst dann sind sie überhaupt komplett.

Eine interessante Erfahrung, die direkt in den eigenen Gefühlshaushalt eingreift und sofort einen inneren Fragenkatalog erstellt. Ist das jetzt peinlich, wenn ich mir in einem vollen Museum einen Stuhl aufs Haupt stelle oder den Kopf in einen Kühlschrank stecke? Ist diese Hütte tatsächlich ein Beichstuhl? Wie ernst nehme ich diese Funktion? Kann ich hier Fehler machen? Wie reagieren die anderen darauf? Und der Kerl, der mich da gerade fotografiert – stellt der das Bild nicht vielleicht doch noch bei Instagram ein? Ergänzt wird die Ausstellung von einer neuen Serie, die verformte Alltagsgegenstände in Großformat zeigt und einem Raum mit grafischen Arbeiten, oft Vorstudien zu den One Minute Sculptures, aber auch für sich stehende Serien.

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Die Ausstellung läuft noch bis zum 22.08 in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstr 124-128, Berlin

 

 

 

 

Amin Akhtar
Amin Akhtar