Besser als die Wahrheit


Wie Techno wirklich entstand: Mit der Geschichte der Elektro-Urgruppe Fraktus kommt eines der schönsten Musikmärchen der letzten Jahre in die Kinos.

Die erste Spur datiert zurück ins Jahr 2006: Auf einem Sampler des Hamburger Golden Pudel Clubs fand sich ein Track von Fraktus. Ein Jahr später trat die Band beim Melt!-Festival auf. Vor vier Monaten startete sie ihren eigenen YouTube-Kanal mit einem JUZ-Mitschnitt eines Auftritts aus den frühen Achtzigern, bei dem Alfred Hilsberg, Chef des legendären Zickzack-Labels, zugegen gewesen sein soll.

Geschickt gestreute Spuren, die natürlich nur so tun, als wären sie Beweise für irgendwas. Denn die nun fürs Kino ausgegrabene Geschichte der ersten Techno-Band der Republik, dieses so unwahrscheinlich wirkende Reunion-Ereignis, ist Fiktion. Ein Idee, die Lars Jessen, dem Regisseur von „Fraktus. Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“, schon seit 13 Jahren im Kopf herumschwirrt. Doch damals sei niemand bereit gewesen, für so einen Film Geld auszugeben: „Der Erfolg der einzelnen Beteiligten hat der Sache sehr gut getan.“ Die einzelnen Beteiligten, das sind neben Jessen selbst („Dorfpunks“, „Am Tag als Bobby Ewing starb“) und seinen Co-Autoren Ingo Haeb und Sebastian Schultz natürlich die großen Hamburger Humoristen von Studio Braun, die 1999 gerade erst anfingen, für ihre bizarren Telefonstreiche bekannt zu werden. Seitdem haben Jacques Palminger, Rocko Schamoni und Heinz Strunk alleine wie zusammen mehrere Platten aufgenommen, Bücher geschrieben, Tourneen gegeben und fürs Theater gearbeitet; „Fraktus“ ist ihr erster Spielfilm.

Geschildert werden in der Mockumentary die Bemühungen des Musikmanagers Dettner (mal abgefeimt, mal verzweifelt charakterisiert von Devid Striesow), die verstrittenen Fraktus-Mitglieder Dirk Eberhard „Dickie“ Schubert (Rocko Schamoni), Bernd Wand (Jacques Palminger) und Torsten Bage (Heinz Strunk) wieder zusammenzubringen. Zu sechst wurde ein Drehbuch geschrieben, das dann allerdings im Laufe der Arbeiten an „Fraktus“ nur noch die Grundlage bildete, „auf der die Geschichte situativ weitergesponnen wurde“, so Jessen. Das hatte Folgen. Lassen wir endlich die Protagonisten zu Wort kommen.

Bernd Wand: Ich finde schlimm, wie Torsten im Film dargestellt wird. Wie ein hässliches Rumpelstilzchen sieht er da manchmal aus. Als Freund hätte ich diese Bilder rausgenommen.

Dickie Schubert: Absolut! Oder das Arschgeweih! Der ist ja wie so ’ne Friteuse am ganzen Arsch tätowiert. Die Kamera hat ja gar nicht alles gezeigt, das geht ja noch viel weiter runter …

Bernd: Wir als Freunde hätten auf jeden Fall gesagt: Rausschneiden!

Schon damit man das Lachen im Film nicht sieht, das Sie als Freunde für das Arschgeweih übrig haben …

Torsten Bage: Das ist kein Arschgeweih!

Dickie: Bestimmt ist es so ein indianisches Sonnenzeichen, irgendwas in die Richtung.

Torsten: Ja, allerdings! Das die Ipuma-Krieger zur Sonnenwende trugen, kurz bevor sie von der handwarmen Blutlanze aufgespießt wurden.

Dickie: Von der handwarmen Blutlanze! Das erzählst du jetzt ernsthaft?

Torsten: Ja, das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, weil es nicht in dein kleines Hirn reingeht.

Bernd: Die haben doch selbst die Blutlanze geführt, oder?

Torsten: Das ist jetzt zu kompliziert zu erklären. Auf jeden Fall bin ich ja nicht blöd, ich höre das ja raus, dass ihr dafür Sorge tragen wollt, dass das hässliche Rumpelstilzchen rausgeschnitten wird. Ich weiß ja, in welche Richtung das wieder läuft, auch in so einem lieben Ton vorgetragen.

Und so geht das noch eine ganze Weile weiter beim Interview im Nachtlokal Golem am Fischmarkt von Hamburg-Altona: Fraktus sprechen in character, bleiben ihren Rollen treu (bis auf winzige Momente, in denen eine besonders gelungene Formulierung mal begrinst wird). Und Fraktus finden, der Film sei „ja augenscheinlich von jemandem gemacht, der uns schaden und uns als Knalltüten darstellen will“ (Dickie Schubert).

Tatsächlich lebt der Film von den drei Charakteren: Da ist zum einen Palmingers Klangforscher Bernd Wand, der die Fahne der Avantgarde bei Fraktus hochhält. Nach dem Ende der Band reihte er sich wieder ein in die familiäre „Optikerdynastie“, empfiehlt mit Hitlerhaarschnitt den Mut zum Asymmetrischen und betreibt nebenbei mit seinen Eltern das Projekt Fraktus II, dessen Hauptziel ein Auftritt beim Klangbad-Festival im schwäbischen Städtchen Scheer ist. Schamoni gibt den Frontmann Dickie Schubert, eine klassische Rampensau mit dem Motto „Also, ich hätt‘ Bock“. Besonders helle ist er nicht, aber ausgesprochen enthusiastisch und stets bereit, sich dem Philosophieren hinzugeben. Zum Fraktus-Comeback wird er aus seinem Internetcafé „Surf’n’Schlurf“ herausgelotst. Schließlich ist noch der von Heinz Strunk gespielte Torsten Bage dabei, der nach dem ersten Ende von Fraktus zum erfolgreichen Eurotrash-Produzenten geworden ist und auf seiner ibizenkischen Finca Aufnahmen mit pupsenden Mädchen und Lindenstraßen-Bösewichten macht. Bage ist arrogant, neureich, geldgeil – und gibt dem ganzen Comeback-Unternehmen eine Fallhöhe, da er ja tatsächlich etwas zu verlieren hat.

„Der Schlüssel ist die Empathie“, sagt Regisseur Lars Jessen, die Figuren werden in sich ernst genommen. Darüber funktioniert der Fraktus-Film, und das hält den Humor in der richtigen Balance zwischen einigen Schenkelklopfern, einigen Studio-Braun-typisch unterlaufenen Pointen und einer tollen Liebe zum Detail. Besonders viele kleine Kenner-Gags gibt es in der ersten Viertelstunde des Films, in der auf die Karriere von Fraktus zurückgeblickt wird. Auf einem Plakat wird einer ihrer frühen Auftritte bei einem Festival mit den Vielleichtors und Fickfehler angekündigt – Bands, die es wirklich gab, die heute aber kaum jemand mehr kennt. Mit ihrem Hit „Affe, Sucht, Liebe“ treten Fraktus bei der Videoclipshow „Formel Eins“ auf – originalgetreu nachgebildet bis hin zur Einblendeschrift und der Schrottplatzdeko. Die Zeitreise funktioniert prächtig, auch auf der Facebook-Seite der Band, wo sich Freunde an legendäre Auftritte von einst erinnern.

Reihenweise beteuern zu Beginn des Films Stars, wie einflussreich Fraktus gewesen seien, von Westbam, der sogar sagt, er habe „Sonic Empire“ teilweise von Fraktus geklaut, über HP Baxxter, Dieter Meier, Blixa Bargeld bis zu Jan Delay. Doch warum löste sich eine Band, die so viele in so guter Erinnerung haben, einfach auf, nach einem dramatischen Konzert im November 1983, bei dem der Saal in Flammen aufgeht? Dickie Schubert glaubt, wenn die Halle nicht gebrannt hätte, wären sie ein halbes Jahr später trotzdem auseinandergegangen: „Der Erwartungsdruck von außen war so immens auf uns als – vielleicht – die deutschen Beatles, dass wir das gar nicht ausgehalten haben.“

Bei allem Respekt, die deutschen Beatles? Eine Woche Platz 21 in den deutschen Single-Charts kommt ja nicht ganz heran an deren viele Nummer-eins-Hits.

Torsten: Was passiert mit ’ner Welle, wenn sie zu groß wird? Was macht man dann?

Bernd: Man baut einen Deich.

Dickie: Es wurde ein Deich gebaut gegen uns, von Leuten, deren Namen ich jetzt nicht nennen möchte. Dass diese Serie von Hits hätte kommen können, das ist ja heute wahrscheinlich jedem bewusst.

Torsten: Und wenn Sie reine Fakten, also Chartsplatzierungen, sprechen lassen wollen, dann übersehen Sie, dass Fraktus ja viel mehr als ein reines Pop-Phänomen war. Fraktus ist ein Kunst-Phänomen, und das ist in Zahlen schwer messbar. Was wir damals ausgelöst haben, ohne es zu wissen und zu beabsichtigen: Wir sind offensichtlich Begründer einer Musikrichtung, die zehn Jahre später erst ihren Siegeszug rund um die Welt angetreten hat. Da wurden ja die Zahlen dann generiert, die Sie ansprechen.

Dickie: Man kann also sagen, die meisten Techno-Hits – das kommt nicht aus unserem Mund! – sind eigentlich aus unserer Feder. Wenn wir die alle zusammen nehmen würden, könnten wir uns durchaus mit den Beatles messen.

„Fraktus“ ist ein besonders verwirrender Zwischenruf in der Retromania-Debatte darüber, ob der Popkultur die Zukunft abhanden gekommen ist, vor lauter Blicken zurück. Die Fraktus-Musiker sehen sich allerdings keineswegs als rückwärtsgewandt an. Mit Musik hätten sie sowieso abgeschlossen, sagt Bernd Wand, der von einem „Prozess der Leerwerdung“ spricht. „Die Sprache der Musik ist auserzählt“, ergänzt Torsten Bage. Für Bernd Wand ist Fraktus „eher soziale Plastik als Band. Wie Pension Stammheim oder Kosmonautentraum sind wir ein ewiges Geheimnis. Wir sind gar nicht an der Lösung interessiert. Wir sind ein Happening.“

Als solches hätte das Publikum den eingangs erwähnten Auftritt der Band beim Melt!-Festival 2007 verstehen können. Doch es kam anders: Im Film sind eindrucksvolle Buhruf-Szenen zu sehen. Jessen beteuert: Das sei keinesfalls inszeniert gewesen: „Fraktus sind zweimal aufgetreten. Beim ersten Mal wurde gar nichts gesagt – zweifelnde Blicke. Beim zweiten Mal haben Deichkind die Show abgebrochen und gesagt:, Jetzt kommen noch mal die Typen von vorhin.‘ Da haben wir sozusagen im Raubtierkäfig das Fleisch rausgelegt. Da haben wir richtig Stimmung gekriegt. Das war morgens um halb fünf, wo die einfach feiern wollten und nicht noch mal unsere Dussels sehen.“ Fraktus sehen die Sache ganz anders und glauben, „ein Störenfried, ein Miesepeter, ein Spaltpilz“ habe mit dem Buhen angefangen, dann sei der Rest des Publikums eingestiegen. „Und zwar nicht aus einer Überzeugung heraus, sondern einfach nur als Herdentiere“, mahnt Bernd Wand: „Das gab es in Deutschland schon oft, dass ein Einzelner es geschafft hat, die ganzen Leute verrückt zu machen.

Auch beim Reeperbahn Festival im September gaben sich Fraktus die Ehre. Mit asynchron geschwenkten Lichtschwertern, Umhängekeyboard, E-Drums und reichlich Vocodereinsatz bestritten sie einen sehr seltsamen Auftritt, der auf den Ebenen des Humors und der musikalischen Unterhaltung gleichzeitig gelingen wollte – und das auch manchmal tat, etwa bei „Computerliebe“, dem schönsten interplanetarischen Duett seit „Clouds Across The Moon“ der Rah Band. Weitere Konzerte folgen in den nächsten Monaten, wer die Show sehen will, sollte aber gewarnt sein:

Bernd: Wir sagen ganz klar: Die Leute, die wegen dem Film zu unserem Konzert kommen, die können gleich draußen bleiben. Gaffer wollen wir nicht sehen. Wir wollen Leute mit Ohren!

Dickie: Weißt du, wie beschämend das für Anvil sein muss, wenn bei denen auf den Konzerten in den ersten vier oder fünf Reihen lauter Langhaarige stehen, und dahinter nur Kurzhaarige? Weißt du, was das heißt? Das sind nämlich diejenigen, die zu dem Konzert kommen wegen dem Film, um die Band zu vergaffen. Die werden wir bei unserem Konzert nicht reinlassen.

CD im ME 11/12, Albumkritik S. 80

Gut erfunden

Natürlich ist „Fraktus“ nicht die erste Musik-Mockumentary: Die Spur komplett erfundener Bands lässt sich bis ins Hollywood der 60er-Jahre zurückverfolgen, wo man neben einer ganzen Reihe anderer Serien-Bands – wohl als Reaktion auf den riesengroßen Erfolg des Beatles-Films „A Hard Days Night“ – die Gruppe The Monkees erfand. Wo die sich spätestens mit einem dritten Album nicht nur zur Freude ihrer Produzenten zu einer „richtigen“ Band mauserten, blieben viele Kollegen auf der Leinwand. Von der Ausgangsposition mit „Fraktus“ am ehesten vergleichbar ist das Monty-Python-Projekt The Ruttles. Der Soundtrack zu der Geschichte um den Aufstieg und Fall einer Beat-Gruppe gewann übrigens einen Grammy. Es besteht also Hoffnung für die Fraktus-CD, die unlängst bei Staatsakt erschienen ist. 1984 kam die wohl wichtigste Musik-Mockumentary überhaupt in die Kinos: „This Is Spinal Tap“ erzählt die Geschichte einer britischen Hardrockband, die es noch einmal wissen möchte und zieht nicht nur das Prinzip Hardrock, sondern auch das Prinzip Musik-Doku durch den Kakao. Ein Sonderfall ist indes die Band Steel Dragon, die im 2001 von Stephen Herek abgedrehten „Rock Star“ abgefeiert wird: Hier wird im Prinzip die Geschichte von Tim „Ripper“ Owens erzählt, der 1996 bei Judas Priest einstieg und vorher in der Tribute-Band British Steel spielte.