Boom Tschak: Das „Second Life“ analoger Musiker


Genregrenzen verschwimmen, trotzdem gönnen sich analoge Musiker digitale Zweitidentitäten.

 

Kennen Sie Baio? Ist ein Produzent, DJ und Remixer aus New York. Hat zwei EPs veröffentlicht. Buntschillernde House-Music, sehr perkussiv mit Afro-Beat-Infusionen. Clicks auf YouTube im unteren sechsstelligen Bereich. Wenn Baio keine Tracks produziert oder remixt oder auflegt, spielt er mit einer Band, deren Clips auf YouTube schon mal zehn Millionen Clicks bekommen und deren letzte beiden Alben auf Nummer 1 der amerikanischen Charts standen. Baio heißt mit Vornamen Chris und ist Bassist von Vampire Weekend. Nur ein Beispiel für einen „Rock“-Musiker, der eine Zweitidentität angenommen hat, um sich damit in musikalischen Welten zu bewegen, für die seine Hauptband sich nicht zuständig fühlt.

In einer Zeit, in der die Ausdifferenzierung von musikalischen Genres immer schwieriger wird, weil zu Recht sowohl Musikmacher als auch -hörer darauf pfeifen, also in den relevanten Bereichen der Popmusik „reine Rockhörer“ und „reine Elektronikhörer“ zu Auslaufmodellen geworden sind, existieren dennoch klare Trennungen zwischen Indie-Rock-Band und elektronischem Solokünstler. Joe Goddard von den freilich nicht Elektronik-unverdächtigen Hot Chip produziert und veröffentlicht unter seinem eigenen Namen astreine House-Tracks. Jamie xx, Beatbastler der Indie-Lieblinge The xx, ist als Produzent und DJ integraler Bestandteil der Londoner Bassmusikszene. Dan Snaith hat mit Caribou seine eher song-orientierte Band und als Daphni ein Alter Ego, das für die Produktion clubbigerer Tracks und für das Auflegen zuständig ist.

Trotz der gegenseitigen Befruchtung der verschiedenen Musikwelten ist aber nicht auszuschließen, dass Fans der Hauptbands dieser Künstler gar nichts oder nur wenig über deren Nebenaktivitäten wissen. Oder dass der Clubmensch, der entzückt zur Musik dieses unbekannten New Yorker DJs seinen Körper bewegt, keine Ahnung hat, dass der schon ein paar Wände seiner Wohnung mit Goldenen Schallplatten tapeziert hat.

Diese und weitere Kolumnen sind in der November-Ausgabe des Musikexpress erschienen – seit 16. November am Kiosk und im App-Store erhältlich.