BRIAN, ANDY, STEVE, MICK, UWE UND ICH


Der „Sweet Shop“ war in einem halbfeuchten Keller meines Elternhauses in der oberfränkischen Provinz untergebracht. Ein paar ausgediente Stühle, ein Campingtisch und ein Kofferplattenspieler, dessen Nadel dringend hätte ausgetauscht werden müssen -viel mehr Interieur gab es nicht auf den zehn Quadratmetern. Es war das Hauptquartier des inoffi ziellen Sweet-Fanclubs, den mein Schulfreund Uwe und ich gegründet hatten und der 1976 einen Sommer lang für uns der Mittelpunkt der Welt war.

Mit Freunden und Bekannten hörten wir Musik. Nicht nur von The Sweet, auch von T. Rex, Slade, Suzi Quatro, Mud, Kenny, Hello und Slik (eine der ersten Bands von Midge Ure, ihr größter Hit für uns: „Requiem“), diskutierten, hielten vereinsmeierische Vorträge, fühlten uns sehr wichtig und den Ahnungslosen haushoch überlegen. Wir verschwendeten keinen Gedanken an die queeren Konnotationen bei The Sweet, an das seltsame Aussehen, die Glitzerklamotten, die Plateauschuhe, das Make-up, fragten uns nicht, ob das denn „normal“ sei, so auszusehen, obwohl die Frage berechtigt gewesen wäre, weil in unserer „Lebensrealität“ in Neustadt bei Coburg keiner so ausgesehen hat wie „Brian, Andy, Steve and Mick“. Wir konnten aber zumindest hinsichtlich der Länge unserer Haare mit unseren Vorbildern mithalten.

The Sweet definierten mit ihren Drei-Minuten-Songs einfach unsere Vorstellung von Rockmusik mit ihrer ganzen Wildheit und der Aussicht auf grenzenlose Freiheit, was uns 13-Jährigen ein Stück Identität gab, das nicht von Eltern und Lehrern fremdbestimmt wurde. Die tolerierten zwar die Spinnerei, würden diese aber niemals verstehen können – das klassische Versprechen der Popmusik auf romantisches Außenseitertum, Unabhängigkeit, Sex und eine bessere Welt.

Nicht nur wir überhörten dabei die teilweise unfassbare Instrumentierung der Sweet-Hits, diese bis in die letzte Ecke ausgeklügelten Arrangements. Vergeblich versuchte ich den Freunden meiner großen Schwester die Magie von The Sweet näherzubringen. Die waren fünf Jahre älter als ich, was sich für mich damals wie zwei Generationen anfühlte, weil diese Freunde schon im Besitz einer amtlichen Fahrerlaubnis und von Schamhaaren waren. Und: Sie waren musikalisch vermeintlich viel weiter. Bei Eric Clapton, Pink Floyd, Led Zeppelin und dem ganzen Zeug, das heute immer noch gehört wird. Einer hatte mir einmal erklärt, Musik müsse „progressiv“ sein, um gut zu sein. Es gäbe nur einen Song von The Sweet, der dieses Kriterium erfülle: „Done Me Wrong Alright“. Ich habe nicht verstanden, was er mir damit sagen wollte.

Der „Sweet Shop“ war nicht nur ein muffi ger Kellerraum, sondern auch der Titel eines Fanzines, das wir herausgaben. Ein einseitig hektographiertes (bitte googeln Sie diesen Ausdruck) Blatt mit Artikeln, die wir aus „Bravo“ und „Pop“ stahlen und kürzten, plus einigen wenigen eigenen Gedanken. Wir fanden sogar ein paar Abnehmer in unserer Schule, die bereit waren, 20 Pfennig pro Exemplar zu zahlen. Den Erlös investierte ich sicherlich in den Ausbau meiner Sweet-Musiksammlung, die weit davon entfernt war, komplett zu sein. Songs zu „besitzen“ bedeutete damals, dass die „Sammlung“ auf die unterschiedlichsten Formate verteilt war: 7-Inches, Hit-Sampler des kanadischen Labels K-tel, Best-Of-Alben auf Kaufcassetten – unverbindliche Preisempfehlung: 22 D-Mark bei Elektro-Seifert -und vor allem selbst aufgenommene Tapes aus Radio („Die Schlager der Woche“ auf Bayern 3) und Fernsehen (Ilja Richters „Disco“).

Unsere Anfrage beim deutschen Sweet-Fanclub, ob man denn nicht den „Sweet Shop“ zu einer offi ziellen Außenstelle machen könnte, wurde freundlich abgelehnt. Irgendwann schloss der inoffi zielle Fanclub im Keller, danach kam Punk, und ich verlor The Sweet aus den Ohren, bin aber immer noch froh, mir nie ein Album von Eric Clapton gekauft zu haben.