Brian Eno: Der intellektuelle Guru des Pop


Dieser Fachmann aus der „Kommunikationsbranche“ war Pionier des Glamrock, stellte den Progrock auf das richtige Gleis, inspirierte den Punk und erfand die Ambient-Musik. Dass er bis heute einen so wesentlichen Einfluss darauf hat, wie Popmusik entsteht und wie wir sie verstehen, liegt daran, dass brian eno sich selbst nie als Musiker verstanden hat. Er ist ein Musiktheoretiker, dessen klingende Beispiele die Welt verändern.

So tired / Soul searching / I followed the sounds to a cathedral /

Imagine my surprise to find that they were produced by Brian Eno

MGMT, „Brian Eno“

Brian Peter George St. John le Baptiste de la Salle Eno. Wer dieses eitle Ungetüm von einem Namen laut ausspricht, der muss davor und danach erst einmal Luft holen. Natürlich auch, weil dieser Name so lang ist, dass sich in ihm sogar Johannes der Täufer mühelos verstecken kann. Vor allem aber, weil dieser Brian Peter George St. John le Baptiste de la Salle Eno schlicht der wichtigste Klangkünstler unserer Zeit ist. Wer sich für Musik interessiert, der hat Platten von Brian Eno zu Hause stehen, selbst wenn es keine Platten von Brian Eno sind.

Es gibt nicht wenige Leute, die halten ihn für DEN intellektuellen Guru der Popmusik. Im eigentlichen Wortsinn ist Eno wohl tatsächlich ein Guru, ein charismatischer Lehrer. Der „Mojo“-Journalist David Sheppard brauchte in seiner Brian-Eno-Biografie 350 Seiten alleine für dessen Umtriebe in den 70er-Jahren. Irgendwann kapituliert er vor dem gewaltigen Stoff und seufzt, es müsse eigentlich eine „Eno-cyclepedia Britannica“ geben. Oder, wie es sein Schüler Bono von U2 einmal so originell auf den Punkt brachte: „Er ist eine bewusstseinserweiternde Droge.“ Wesentliches Merkmal dieser seltsamen Droge ist es, dass ihre entscheidenden Bestandteile nur ganz am Rand mit Musik zu tun haben – sondern theoretischer Natur sind. Theorie war ihm wichtiger als Praxis und Zufall wichtiger als Bedacht. Dieser Mann hat fast im Alleingang und für alle Zeiten die Weise verändert, wie wir Musik begegnen, sie komponieren, aufführen und wahrnehmen.

THINK OF THE RADIO

Wer über Brian Eno schreibt, schreibt sich in Schwierigkeiten. Wie einen Mann beschreiben, der ein Pionier des Glamrock war, Progrock auf das richtige Gleis gestellt, den Punk inspiriert, den Ambient „erfunden“ und der Weltmusik den Weg bereitet hat? Reichtum, Vielseitigkeit, Fülle und Tiefe seines Werkes sind auf den ersten Blick so einschüchternd, dass man vor einem echten Dilemma steht. Aber Brian Eno wäre nicht Brian Eno, hätte er nicht (gemeinsam mit dem Künstler Peter Schmidt) auch für das kreative Dilemma eine Lösung entwickelt. Dabei handelt es sich um eine unscheinbare kleine Box, in der 100 Zettel mit kryptischen Anweisungen enthalten sind. Manche dienen der Arbeit im Studio, aber die meisten sind immer dann anwendbar, wenn man sich verrannt hat. Die erste Auflage dieser „Oblique Strategies“ (etwa: schiefe Strategien) genannten simplen Spielerei ist 1975 veröffentlicht worden (inzwischen gibt es natürlich auch schon eine „iOblique“-App).

Brian Eno selbst erklärt in einem BBC-Interview mit Jarvis Cocker: „Wenn ich eine Karte ziehe und mir sage, dass ich genau das machen werde, was die Karte verlangt, dann komme ich dahin, wo es interessant wird. Es holt dich aus der Routine und schubst dich in ein Verhalten, das du normalerweise nicht an den Tag legst. Und das kann sehr produktiv sein.“ Es ist nicht bekannt, wie viele Künstler seitdem auf die „Oblique Strategies“ zurückgegriffen haben. Sicher wissen wir es von R.E.M., die die Karten für Monster und Up verwendeten. Phoenix nutzten sie für Wolfgang Amadeus Phoenix, und auch MGMT und Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten arbeiteten damit.

DON’T AVOID WHAT IS EASY

Geboren wurde Eno am 15. Mai 1948 in Woodbrigde, Suffolk, einem kleinen Städtchen unweit der ostenglischen Küste. Schlichte Verhältnisse. Ein US-Luftwaffenstützpunkt in der Nähe, viele GIs, Doo-Wop und früher Rock’n’Roll in den Kneipen. Eno war eines von fünf Kindern eines Briefträgers, der im Krieg eine belgische Katholikin geheiratet und mit nach England genommen hatte. Daher der Name.

Als kleiner Junge las er eifrig in einem Lexikon von A bis Z und in Heften von „National Geographic“, die er laut seinem Biografen nach Bildern unbekleideter Frauen durchkämmte – denen er aber auch sein erstes Hobby verdankte, die Geologie: „Ich kannte keinen anderen, der sich dafür interessierte. Also packte ich mir ein paar Brote ein und radelte alleine an Orte, von denen ich gehört hatte. Meistens waren das Strände. Dort verbrachte ich ganze Tage damit, mir Steine anzuschauen. Ich erinnere mich daran sehr klar als an eine sehr glückliche und transzendente Zeit. Jenseits des Denkens, tatsächlich.“

Enos Vater, Großvater und ein Onkel waren alle Briefträger. „Sie arbeiteten in der Kommunikationsbranche“, sagt Eno, „und so gesehen setze ich diese Tradition fort.“ Sein Vater reparierte nebenbei Uhren, sein Großvater Kirchenorgeln. So kam der Junge früh mit Dingen wie Mechanik, Klang, Raum und Automatisierung in Kontakt. Konzepte, die ihm noch dienlich sein würden. Mit der Pubertät freilich schleicht sich ein neuer, sehr alter Antrieb ein, der Brian Eno für die kommenden Jahrzehnte mit Energie versorgen wird: Sex. „Ich begann, gewisse exzentrische Interessen zu kultivieren, weil ich mir vorstellte, das mich die Mädchen deswegen mögen würden.“

ONCE THE SEARCH IS IN PROGRESS, SOMETHING WILL BE FOUND

Nachdem eine erste Ehe in die Brüche gegangen war, zog Eno nach London. Dort besuchte er die Kunsthochschule, die er als ausgebildeter Maler wieder verließ. Zu Hause spielte er mit Tape-Rekordern herum, beeinflusst von minimalistischen Komponisten wie Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich oder John Cage. Reich experimentierte zu jener Zeit mit hypnotisch-repetitiven Tonbandkollagen („It’s Gonna Rain“), Cage erklärte kurzerhand die räuspernde Stille im Konzertsaal zur Musik („4’33″“). Zugleich studierte er den deutschen Künstler und Zerstörungstheoretiker Gustav Metzger. Metzger war es, dessen Konzept der „Dekonstruktion“ den jungen Pete Townshend von The Who auf die Idee brachte, es könnte irgendwie politisch und cool sein, auf der Bühne seine Gitarre zu zertrümmern. Brian Eno hielt sich eher an ein visionäres Manifest von Metzger aus dem Jahr 1961, als IBM gerade seinen allerersten Computer zur Speicherung von Kundendaten anschaffte: „Selbstzerstörerische Kunst und selbstschöpfende Kunst zielen auf eine Einbettung der Kunst in den Fortschritt von Wissenschaft und Technologie. Das unmittelbare Ziel ist die computergestützte Schöpfung von Kunstwerken, die programmiert sind und ein Element der Selbstregulierung enthalten.“

Simple Systeme stellen komplexe Strukturen her. Seelenlose Maschinen erzeugen seelenvolle Kunst. Im Grunde: OK Computer. Das ist er auch schon, der Kern, in dem Brian Enos ganze musikphilosophische Welt verborgen ist.

DON’T BE FRIGHTENED OF CLICHES

Würde man in einem Lexikon den Begriff „Glamrock“ nachschlagen, müsste sich dort zur Illustration eigentlich ein Foto von Brian Eno als Paradiesvogel finden, in den er sich spätestens zu Beginn der Siebziger verwandelt hatte. Über die üblichen Umwege – frühe andere Bands mit absolut uncoolen Namen – gründete Brian Eno zusammen mit Bryan Ferry, dem Saxofonisten Andy Mackay und dem Gitarristen Phil Manzanera die Gruppe Roxy Music. „Auf der Kunsthochschule fragte ich mich noch, ob ich in die hohe Kunst oder in die Popart gehen sollte. Und dann passierte Velvet Undergrund, und ich dachte:, Oh, das geht ja beides!'“, erinnert sich Eno später. Während Ferry den Dandy kultivierte, wählte Eno mit bonbonfarbenen Federboas, skurrilen Hüten, langen Haaren, Plateau-Schuhen, dickem Make-up und lackierten Fingernägeln einen deutlich schrilleren Auftritt. Aus heutiger Sicht wird diese optisch ausgestellte sexuelle Ambivalenz gerne überbewertet. Eno selbst sagt: „Ich wollte sensationell aussehen. Und die Wissenschaft vom Sensationell-Aussehen wurde von Frauen betrieben, nicht von Männern.“

Noch auffälliger indes war sein Keyboardspiel, das auf Roxy Music und For Your Pleasure bereits deutlich an den Grenzen des Üblichen kratzt. Vielleicht hätte er sie zusammen mit Roxy Music überschritten, wäre es nicht schon 1973 zum Bruch gekommen. Über die Trennung ist viel spekuliert worden, aber nirgends dürften ihre wahren Gründe besser auf den Punkt gebracht worden sein als in folgendem Interview aus der hervorragenden BBC-Dokumentation „Another Green World“ von 2010:

„Ist es ein Mythos, dass Bryan Ferry sauer war, weil Sie mehr Mädchen hatten als er?“

„Ich weiß nicht, ob er das war oder nicht.“ – „Aber … Sie hatten mehr Mädchen?“

„Ja.“

FACED WITH A CHOICE, DO BOTH

Im Feld herkömmlicher Rockmusik veröffentliche Brian Eno in den 70er-Jahren gerade mal vier Platten, deren Namen sich merken muss, wer sich für die Musik dieses Jahrzehnts interessiert: Here Come The Warm Jets (1973), Taking Tiger Mountain (By Strategy) (1974), Another Green World (1975) und Before And After Science (1977). Zu den ergebenen Fans dieser subtilen Meisterwerke gehört auch Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen, der seine Ergebenheit einmal im Deutschlandradio erklärt hat: „Das ist auch Babymusik und trotzdem hochkonzentriert und ernsthaft. Es ist auch kranke Musik. Aber sie hat Schönheit. Es ist eine kranke Märchenmusik, eine kalte Märchenmusik, Schneeköniginnenmusik. Kalter Kitsch.“

Neben Prä-Ramones-Punk, also schroffem Geschrammel ohne Rücksicht auf ästhetische Haltungsnoten, stehen hier tatsächlich Melodien für die Ewigkeit: „The Fat Lady Of Limbourg“ oder „By This River“ gehören zum reinsten und rührendsten Pop, der in dieser Dekade produziert wurde. Metall und Plastik. Mensch und Maschine. Kryptische, aber immer heitere Texte. Die einzige Grenze, die dieser Musik gesetzt war, ist Enos eigene, schutzlose und eben auch recht dünne Jungenstimme. Selbst dieser Aspekt, dieses „Singen ohne Muskel“, ist von Verehrern aufgegriffen worden. Another Green World enthielt flächige Instrumentalpassagen von schillernder Zeitlosigkeit („In The Dark Trees“, „Sombre Reptiles“) – wie Soundtracks für etwas unheimliche, nie gedrehte Filme. Und über Before And After Science schrieb damals ein Kritiker, dies sei das Album, das Pink Floyd hätten machen können, wären sie nicht so sehr damit beschäftigt, Pink Floyd zu sein. Es sollte nicht lange dauern, und die Avantgarde übernahm das Ruder.

DO NOTHING FOR AS LONG AS POSSIBLE

Irgendwann saß Brian Eno auf dem Flughafen Köln-Bonn fest. Ein luftiger, damals sehr moderner Bau. Erlesene Gebrauchsarchitektur, die Eno durchaus zu würdigen wusste. Was er nicht zu würdigen wusste, was ihm nachgerade tierisch auf die Nerven ging, das war die Musik, die dort lief: „Da werden Millionen ausgegeben für Architektur, und dann läuft dort eine Kassette, die irgendwer mitgebracht hat“, würde er sich später erinnern. Wieder zu Hause, schrieb Eno federleichte Gebrauchsmusik, die sich wie luftige Mobiles drehte und so zurückhaltend war, dass sie sich kaum noch wahrnehmen ließ. Die hohe Kunst, knapp am Nichts vorbeizukomponieren, so wie die deutschen Krautrocker von Cluster, mit denen Eno arbeitete. Musik, die keiner Aufmerksamkeit bedarf, Aufmerksamkeit aber belohnt. Klänge, die ein Ambiente bereiten und die Atmosphäre eines Raumes subtil beeinflussen. Diese Musik erschien 1978, und mit dem Titel gab Eno dem neuen Genre auch gleich noch einen Namen: Ambient 1: Music For Airports.

ASK PEOPLE TO WORK AGAINST THEIR BETTER JUDGEMENT

Gleichzeitig widmete sich Eno der Musik anderer Leute. Nicht das verkopfte Experiment, sondern Pop für die Massen. Sein ewiges Vorbild in dieser Hinsicht war nun kein akademischer Neutöner, sondern: Giorgio Moroder. Die perfekte Produktion, schwärmt Eno noch heute, sei dessen Hit „State Of Independence“ mit Donna Summer, dieser „krude, mechanische, fast robotisch-deutsche Rhythmus in Kombination mit der warmen Gospelstimme“. Genesis holten ihn für The Lamb Lies Down On Broadway ins Studio, wo er die gewünschten Keyboardsounds ermöglichte – was als „Enossification“ auf dem Album vermerkt wurde. Zusammen mit David Byrne nahm er 1981 mit My Life In The Bush Of Ghosts das erste Album auf, dessen „Gesang“ ausschließlich auf Samples beruhte – und bereitete mit afrikanischen Rhythmen wie nebenbei der Weltmusik den Weg. Zusammen mit David Bowie produzierte und schrieb er an Heroes, Low und Lodger, wo sich das Flüssige mit dem Mechanischen, das Menschliche mit dem Technischen kreuzte.

Ab 1984 half Eno einer Gruppe bei ihrer Selbstfindung, die das kommende Vierteljahrhundert und alle Stadien dieser Welt dominieren sollte: U2. Interessant die Entscheidung, ausgerechnet Eno für The Unforgettable Fire zu engagieren:

„Ich wusste, dass er kein Fan von uns war“, sagt Bono: „Das war einer der Gründe, warum wir mit ihm arbeiteten. Ich wollte die andere Seite anhören. Ich wusste, was wir richtig machten … ich wollte herausfinden, was nicht richtig war.“ Andere Bands wären auf der Kunsthochschule gewesen, U2 „und sicher auch Coldplay“ dagegen wären „bei Brian Eno“ gewesen.

MAKE A LIST, IGNORE IT

Auch auf The Joshua Tree, Achtung Baby, Zooropa und zwei weiteren U2-Platten verteilte Eno seinen akustischen Feenstaub – und verwandelte, was gut war, endgültig in Gold. Seine offenbar alchimistischen Talente führten dazu, dass Eno – außer bei weiteren Ambient-Exkursionen – in den kommenden zwei Jahrzehnten kaum mehr solo in Erscheinung trat. Es lohnt sich, den Deckel der erstaunlichen Grabbelkiste ein wenig zu lüften, in der sich all die Künstler tummeln, mit denen er in den vergangenen 40 Jahren auf die eine oder andere Weise zusammengearbeitet hat: Coldplay, Talking Heads, Phillip Boa, Roedelius, Paul Simon, Nico, Ultravox, James, Devo, Depeche Mode, Phil Manzanera, Bryan Ferry, INXS, Derek Jarman, Laurie Anderson, Peter Gabriel, Neville Brothers, Belinda Carlisle, Icehouse, John Cale, Sinéad O’Connor, Gavin Bryars, Genesis, Camel, Michael Nyman, Robert Wyatt, Simian, Penguin Cafe Orchestra, Suede, Arto Lindsay, 801 Live, Natalie Imbruglia, Dave Stewart, RJD2, Jarvis Cocker, U.N.K.L.E., Dido, Grace Jones, Can, Daniel Lanois, André Heller, Underworld, The Walkabouts, Marianne Faithfull, Massive Attack und, ach ja, Luciano Pavarotti.

DO SOMETHING BORING

Es gibt ein Stück von Brian Eno, das selbst solche Leute mehrfach täglich hören, für die Musik ein rätselhaftes bis lästiges Tralala ist. Dieses Stück Musik ist so winzig, dass man fast von einem Splitter reden müsste. Oder, wie Eno, von einem „Kristall“. Die Rede ist vom knapp vier Sekunden langen Geräusch, das jedesmal erklingt, wenn auf der Welt jemand einen Computer mit dem „Windows 95“-Betriebssystem von Microsoft startet. Als Vorgabe machte Microsoft eine Liste mit Adjektiven wie „inspirierend, universell, optimistisch, futuristisch, emotional“ und stellte eine einzige Bedingung: Das Stück durfte nicht länger sein als vier Sekunden.

Eno tauchte ab in die mikromusikalische Welt winzigster Klangskulpturen, die, kaum erklungen, auch schon wieder verklingen mussten. Am Ende lieferte er 84 solcher Miniaturen ab, Microsoft entschied sich für eine einzige – und entlohnte Eno seine Arbeit mit umgerechnet 35 000 Euro. Als er anschließend wieder zu regulären Songs von drei Minuten Länge zurückkehrte, habe sich das angefühlt wie ein „Ozean aus Zeit“.

LOOK AT A VERY SMALL OBJECT, LOOK AT ITS CENTRE

Wäre das Leben ein Comic, Brian Eno wäre ein Superheld namens „Professor Pop“. Dabei kann man’s halten wie David Enthoven, seinerzeit Manager von Roxy Music, der sich eher abfällig äußerte: „Eno ist der beste Gebrauchtwagenhändler, dem ich je begegnet bin. Er kann dir alles verkaufen.“ Man kann es aber auch halten wie die akademische Welt, die Eno zu Füßen liegt. Der Mann ist Gastprofessor am Royal College Of Art in London, Ehrendoktor für Technologie an der Universität von Plymouth und Honorarprofessor an der Hochschule der Künste in Berlin. Über seine intellektuellen Ansätze ist allerhand geschrieben worden, unter anderem vom Medienphilosphen Friedrich Kittler, der Enos Leben und Werk knapp so beschrieb: „Alles, was erklingt, ist programmierbar. Und wir anderen können nur sagen, wir sind dabei gewesen.“

IS THERE SOMETHING MISSING?

Was die Faszination von Brian Eno als Musiker ausmacht, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Warum er aber ein so inspirierender Lehrer ist, das hat der U2-Produzent Daniel Lanois auf seinem Album Here Is What Is festgehalten. Zwischen zwei Songs bittet Lanois seinen Freund Eno um Rat bei einem Filmprojekt über Kunst. Eno denkt kaum nach und sagt dann etwas, was als Zusammenfassung seiner Philosophie verstanden werden kann: „Was wirklich interessant sein könnte für die Leute: zu sehen, wie schöne Dinge aus Scheiße erwachsen. Kein Mensch glaubt das. Weißt du, jeder denkt, dass Beethoven seine Streichquartette komplett im Kopf hatte. Dass sie irgendwie aufgetaucht und in seinem Kopf Form angenommen hätten, sodass er sie nur noch niederschreiben musste, damit sie in der Welt waren. Aber ich glaube, was … was so interessant ist und wirklich eine Lektion wäre, die jeder lernen sollte, ist, dass die Dinge aus dem Nichts hervortreten. Die Dinge entwickeln sich aus nichts. Weißt du, das … aus dem kleinsten Samenkorn kann in der richtigen Umgebung der allerschönste Wald entstehen, und der vielversprechendste Samen wird in der falschen Situation zu – nichts. Es ist wichtig, dass die Leute das verstehen, denn es wird ihnen Vertrauen in ihr eigenes Leben geben, wenn sie wissen, wie die Dinge laufen. Wenn du mit dem Glauben rumläufst, manche Leute seien so talentiert und hätten diese wundervollen Ideen im Kopf, aber du bist keiner von ihnen, nur ein normaler Mensch, der so was nie tun könnte, dann lebst du ein anderes Leben, weißt du? Du … du könntest ein anderes Leben leben, indem du dir … indem du dir sagst: Ich weiß, dass Dinge aus dem Nichts kommen und also keinen vielversprechenden Anfang haben, ich bin ein solcher wenig vielversprechender Anfang. Also könnte auch ich mit meinem Leben etwas anfangen.“

Inspiriert von

The Velvet Underground

Can

Delia Derbyshire

John Adams

John Cage

Pink Floyd

Brian Eno

hat inspiriert

Sex Pistols

Massive Attack

The Orb

Aphex Twin

Die Goldenen Zitronen

Death Cab For Cutie

3 Songzitate für die Ewigkeit

„I am on an open sea/ Just drifting as the hours go slowly by/ Julie with her open blouse/ Is gazing up into the empty sky“ (Julie With …) Vordergründig ein Liebeslied, finden sich hier schon allein lyrisch deutliche Vorzeichen des Ambient, die Leere, das Gleiten, die verstreichenden Stunden …

„Some day these dreams will pull you through my door/ And I’ll come running to tie your shoe/ I’ll come running to tie your shoe“ (I’ll Come Running) Eine nüchternere und niedlichere Liebeserklärung dürfte man im Pop selten gehört haben.

„I ride on a perfect freeway/ Many people on the road/ I heard the sound of someone laughing/ I saw my neighbor’s car explode“ (Everything That Happens Will Happen Today) Beispiel aus der Spätphase des Künstlers, mit Hinwendung zu den Abgründen des modernen Lebens.

Die drei besten Gerüchte

Brian Eno hat Bryan Ferry bei Roxy Music die Frauen ausgespannt.

Dichtung: Brian Eno hat Bryan Ferry nicht die Frauen ausgespannt, weil die Frauen ohnehin eher hinter Brian Eno her waren, was einer der Gründe für seinen Ausstieg aus der Band gewesen ist.

Brian Eno hat die größte Pornosammlung der Welt.

Dichtung: Brian Eno besitzt eine umfangreiche Sammlung pornografischer Zeichnungen, die er selbst aber als „leider nicht besonders groß“ bezeichnet.

Brian Eno weiß nicht, was er verdient.

Wahrheit: Bei Produzentenjobs will er nicht wissen, wie viel er bezahlt bekommt, weil ihn die Kenntnis der Summe, egal wie hoch oder niedrig, bei der eigentlichen Arbeit beeinflussen würde.

10 x Eno for Dummies

1

Die erste Veröffentlichung, auf der Brian Eno zu hören ist, entstand 1971 für die Deutsche Grammophon: Bei The Great Learning von Cornelius Cardews Scratch Orchestra singt Eno im Hintergrund von „Paragraph 7“.

2

Als erklärter „Nichtmusiker“ wendete sich Eno halb automatischen Instrumenten wie dem VCS3-Synthesizer und dem Kassettenrekorder zu.

3

Bei Roxy Music reüssierte er zunächst als Tontechniker, dann als schillernder Keyboarder und blieb vor allem Bryan Ferry und Phil Manzanera auch dann noch freundschaftlich verbunden, als er die Gruppe 1973 nach nur zwei Platten verließ.

4

In den 70er-Jahren ging seine Solo-Arbeit in zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig: progressiver Rock mit ersten Vorahnungen von Punk – und ruhige Experimente, die er unter dem Begriff „Ambient“ in die Musikgeschichte einführte.

5

Was wirklich nennenswert ist im Werk von Künstlern wie U2, David Bowie oder den Talking Heads – Eno hat’s produziert.

6

In den 70er-Jahren rettete er mit seinem Obscure-Label spätere Größen wie John Adams, Michael Nyman, Gavin Bryars und das Penguin Cafe Orchestra vor der, tja, Obskurität.

7

Eno komponierte für Microsoft (aber auf einem Apple-Computer!) die nur vier Sekunden lange Startmelodie, die beim Hochfahren von „Windows 95“ ertönt, und bekam dafür 35 000 Euro.

8

In den Neunzigern beschränkte sich Eno – neben dem Produzieren – vor allem auf Klang- und Lichtinstallationen für Galerien und Museen weltweit.

9

Brian Eno ist „Berater“ für die britische Partei der Liberaldemokraten und zugleich ein Förderer der palästinensischen Sache.

10

Eno hat beim renommierten Warp-Label unterschrieben und dort im vergangenen April mit Drums Between The Bells sein zweites Album mit moderner elektronischer Musik veröffentlicht.

Beste Coverversion

„Third Uncle“ in der Version der britischen Dark-Wave-Pioniere Bauhaus, weil man sich solche Jünger nur wünschen kann. So düster, staubig und dreckig, wie das Original immer gemeint war; und so dekonstruiert, dass man kaum mehr an Pink Floyd denkt.

Schlechteste Coverversion

Martin L. Gores tragisch gescheiterter Versuch, Enos bezaubernde Halbakustiknummer „By This River“ wieder in die Elektro-Community einzugemeinden; leider wird das zarte Pflänzchen des Originals dabei platt gewalzt.

Bestes Konzert

Am 28. Mai 1974 in der Royal Albert Hall – mit dem Portsmouth Sinfonia Orchestra, einer radikal subversiven Parodie auf klassische Sinfonieorchester, die sich zu kommerziellen Zwecken an modernen Hits versuchen. Der Witz: Niemand konnte ein Instrument spielen, kaum einer singen, sodass das Ergebnis so grandios, grotesk und scheußlich klang, wie es die ehrwürdige Royal Albert Hall nie zuvor oder danach erlebt haben dürfte. Eno spielte Klarinette.

Bester Konzertmitschnitt

801 Live von 1976, mit Mitgliedern von Roxy Music (Phil Manzanera), Quiet Sun, Curved Air, einem Filmmusiker und Brian Eno. 801 war eine so kurzlebige wie psychedelische Allstar-Artrock-Supergroup ohne Esoterik, die vor allem Manzanera- und Eno-Solostücke live spielte, aber auch die Kinks und die Beatles („Tomorrow Never Knows“) so coverte, wie es sich gehört, nämlich vollkommen irre. Perfektion zum tragisch falschen Zeitpunkt – anderswo „passierte“ gerade Punk.

Nutzlose Information

Der rätselhafte Titel seines Solo-Debüts Here Come The Warm Jets bezieht sich mitnichten auf Düsenflugzeuge, sondern auf den Akt des männlichen Urinierens („Jet“ = „Strahl“).

Ein Besserwisser-Shut-Up-Spruch

„Kann schon sein, dass Brian Eno keinen echten Single-Hit hatte. Aber keine Single dieser Welt ist so oft gehört worden wie der Startsound von Windows 95 …“

Buyers Guide

Taking Tiger Mountain (By Strategy) (1974)

Mit seinem zweiten Soloalbum nach dem Ausstieg bei Roxy Music zeigte Eno erstmals sein Händchen für lupenreinen Pop, unterstützt von Größen wie seinem ehemaligen Roxy-Kollegen Phil Manzanera, Robert Wyatt von Soft Machine und Phil Collins von Genesis. Glamrock, Artrock und Folk wurden hier für einen verwirrenden Ritt durch alle denkbaren Genres geplündert, aber die Zugänglichkeit blieb erhalten – zumindest für jene, die offen für Neues waren: „Third Uncle“ gilt heute als Vorläufer des Punk, „The Fat Lady Of Limbourg“ dagegen könnte fast ein Kinderlied sein. Das legendäre „Circus“-Magazin schrieb damals: „Krank! Krank! Krank! Aber, ohh, es fühlt sich so gut an“, und das tut es heute auch noch, krank und gut.

Another Green World (1975)

Ging Taking Tiger Mountain über herkömmliche Rockstrukturen hinaus, markiert Another Green World die sich abzeichnende Abwendung von diesen Strukturen. Was sich anhört wie eine Allstar-Kapelle mit Musikern wie John Cale, Phil Collins oder Robert Fripp, klang tatsächlich persönlicher denn je. Vor allem Enos intime Instrumentalstücke („Sombre Reptiles“, „In Dark Trees“, „The Big Ship“) hinterlassen quasi überirdische Fußabdrücke auf einem Album, das insgesamt als akustische Werkstatt angesehen werden kann für den Über-Produzenten, in den Eno sich bald verwandeln sollte – von selbst gebastelten Instrumenten bis zu Anweisungen, die Eno seinen Musikern vortanzte. Kein anderes Eno-Album lässt sich leichter ins Herz schließen.

David Bowie Heroes (1977)

Natürlich war das David Bowie auf der Höhe seiner Zeit. Aber er war es vor allem dank seines Gesinnungsgenossen und Co-Paradiesvogels Brian Eno, der mit ihm jene verregneten, verrückten Tage in Berlin teilte und eigentlich auch mit aufs Cover gehört hätte. Eno brachte Bowie nicht nur den robotischen Sound von Neu! nahe, deren Song „Hero“ für den Titel Pate stand, er brachte nicht nur seinen Kumpel und Ausnahme-Gitarristen Robert Fripp mit ins Hansa-Studio – sondern schrieb nebenbei auch noch so dunkelglänzende Instrumentals wie „Moss Garden“ oder „Neuköln“, die funkig stampfende Disco-Nummer „The Secret Life Of Arabia“ sowie, ach ja, den unsterblichen Titelsong.

Ambient 1: Music For Airports (1978)

Inspiriert von der uninspirierten Musik im Flughafen Köln-Bonn schrieb Eno Musik, die zur Architektur passen sollte – und Musikgeschichte. Zwar hatten schon andere Alben wie Discreet Music oder Music For Films den Ehrgeiz, ganz unehrgeizig zu sein. Aber wirklich „ambient“ im Sinne sanft stimmungsbestimmender Hintergrundmusik wurde es erst hier: Tape-Loops mit sparsamen Pianomelodien, klare Vokalpassagen, behutsam gegeneinander gesetzt und reine Synthie-Kompositionen auf Enos ARP 2600 ergeben hier einen Flow an Ruhe, der noch heute seinesgleichen sucht. Luftige Mobiles, die sich in Zeitlupe um eine unsichtbare Achse im Raum drehen. Kunst.

My Life In The Bush Of Ghosts (1981)

Das vielleicht wegweisendste Album in seiner an wegweisenden Alben nicht eben armen Karriere. Ambient, Elektronik und Weltmusik fließen hier zusammen zu einem dichten, pulsierenden und dennoch hochexperimentellen Klang. Mit David Byrne (Talking Heads) orientierte Eno sich an afrikanischer Perkussion, die um des originellen Klangs willen manchmal mit der Bratpfanne statt mit dem Schlagzeug nachgebastelt wurde. Der Clou auf diesem Album aber ist der „Gesang“, der sich ausschließlich aus Stimmschnipseln zusammenfügt, von traditionellen libanesischen Sängern bis zu modernen TV-Predigern. Das Sample betritt die Bühne des Pop.

Neroli (1993)

Dieses Album steht hier exemplarisch für eine ganze Reihe exquisiter Ambient-Studien, die Eno über die Jahre fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit produzierte. Waren frühere Vorstöße ins Reich der Stille für anonyme Orte wie Fughäfen gedacht, geriet Neroli als idealer sonischer Geburtshelfer – tatsächlich wird es gerne im Kreißsaal eingesetzt, weil dieses knapp einstündige Geflecht zart an- und abklingender Einzelnoten beruhigend und organisch wirkt. Musik, die „Aufmerksamkeit belohnt, aber nicht so streng wäre, dass sie sie einfordern würde“, wie Eno in den Liner Notes schreibt. Bis heute die gültige Definition von Ambient.

Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 4 – nirvana