Bruce Springsteen


Wie stark variiert eigentlich bei der Tournee eines Superstars ein Konzertabend vom anderen? ME-Autor Jan Wigger machte bei den Springsteen-Konzerten in München und Frankfurt die Nagelprobe.

Der fraglos arrogante Grundsatz, niemals mit einem Menschen über Rockmusik zu reden, der die Springsteen-Alben BORN TO RUN und DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN nicht kennt und auch die E Street Band noch nie live gesehen hat, erwies sich über die Jahre als äußerst sinnvoll und nervenschonend. Nichts erklären, nichts beklagen, lieber den Zug nach München nehmen und zwei Stunden vor dem Einlass warten, bis das eiserne Gitter sich öffnet. In der ersten Reihe, am Fuße des Giganten, finden wir die altbekannten Bruceologen, Bruce-Exegeten und Bruce-Ekstatiker vor: Den verrückten Mexikaner, die Bootleg-Spanier, den linkischen Norweger, der immer falsch mitsingt, die schöne Anna und das wohl zufällig mitgereiste Anhängsel, das keine Miene verzieht, als sie ihrem Freund den dringlichen Wunsch nach „Summer Of 69“ (!) mitteilt. Wir Springsteen-Snobs begehren Anderes: „Loose Ends“, „Frankie“, „Incident On 57th Street“, „Night“, vielleicht auch „None But The Brave“ oder „Stolen Car“. Mehr oder weniger ordnungsgemäß aber beginnt Bruce mit dem bebenden, bimmelnden „Badlands“, es folgen „My Lucky Day“ und „No Surrender“, noch immer der eine Song, der fast alles zum Thema Freundschaft erzählt: „Blood brothers in the stormy night with a vow to defend / No retreat, baby, no surrender.“ Springsteen schwitzt bereits Sturzbäche, Patti Scialfa fehlt mal wieder, Max Weinberg sieht immer noch aus wie ein Investment Broker, Little Steven übt den irren Blick und Clarence „The Big Man“ Clemons, inzwischen 67, gibt Anlass zur Sorge: Sein Bewegungsradius scheint stark eingeschränkt, die großen Augen schauen meistens traurig, doch für die Saxophon-Parts, die Leben retten, erhebt er sich jedes Mal demonstrativ und majestätisch. „The biggest man you ever seen“ nennt Springsteen den alten Freund auch heute noch. Bald darauf wird das karge, bestürzende NEBRASKA-Stück „Johnny 99“, das doch eigentlich im Halse stecken bleiben sollte, wieder einmal unpassend zum Party-Song umfunktioniert. Überhaupt ist der Mann, der „sogar aus dem Mund nach Schweiß riecht“ (BamS) in blendender Laune: Er schafft eine aufblasbare Torte, die Wunderpianist Roy Bittan nachträglich zum Geburtstag gratuliert, auf die Bühne. Er lässt eine Art Quietscheentchen ins Mikro quietschen. Er singt mit Kindern. Aus den kaum zu zählenden Songwunsch-Plakaten (sehr schön: „Billie Jean“ followed by „Bobby Jean“) sucht er sich unter anderem das enervierende „Seven Nights To Rock“ heraus und spielt reichlich konsterniert und zum allerersten Mal Roy Orbisons „Oh, Pretty Woman“ (on request!) mit der E Street Band. Es folgt eine triumphale Version von „Because The Night“: Roy „The Professor“ Bittans Piano-Einleitung rührt zu Tränen und Nils Lofgrens unfassliches Gitarren-Solo muss man mit eigenen Augen gesehen haben. Kein Widerspruch, als der Boss dem sensationell gut gelaunten Publikum die heiligen Worte verkündet: „You’ve just seen the heart-stoppin’, pants-droppin’, earth-shockin’, hard-rockin’, booty-shakin’, earth-quakin’, love-makin’, viagra-takin’, history-makin’, legendary E Street Band!“ Danach „Born To Run“, „Tenth Avenue Freeze-Out“ und endlich, endlich “Bobby Jean”. Tags darauf fuhren wir nach Frankfurt und begaben uns bei weit über 30 Grad Außentemperatur gefährlich früh in die Commerzbank-Arena. Hier blühen nach der längst überfälligen Entlassung des Trainer-Despoten Friedhelm Funkel wieder Fussballer-Träume und schon presst Bruce „Badlands“ noch etwas bitterer zwischen den Zähnen hervor als gestern. Danach, durchaus überraschend, das grimmige „Adam Raised A Cain“, aus dem es kein Entrinnen gibt: „You’re born into this life paying / For the sins of somebody else’s past.“ Und: „You inherit the sins / You inherit the flames.“ Auf DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN führt dieses Lied direkt zum vergeblichen, deprimierend großartigen “Something In The Night”. Heute abend lässt Bruce das famose „The Ties That Bind“ folgen, bevor der beste Working-On-A-Dream-Song „Outlaw Pete“ John-Ford-Träume wahr werden lässt. Danach „Hungry Heart“, neben dem ursprünglich für NEBRASKA verfassten und oft für Eigeninteressen und grundlosen Spott missbrauchten „Born In The U.S.A“ der wohl am meisten missverstandene Springsteen-Song: Ein Mann verlässt spontan Frau und Kinder, selbstredend ein Grund für 40.000 glücksselige Gesichter und orkanartiges Klatschen im weiten Rund. Was danach kommt, lässt viele Münder offen stehen: Bruce spielt tatsächlich und zum ersten Mal auf dieser Tour das elegische „Factory“, er schneidet sich „Trapped“ aus der Hüfte, er begibt sich freiwillig und gleichfalls erstmalig ins niederschmetternde, verheerende Szenario von „Point Blank“ zurück, in dem 1980 die letzte Hoffnung starb und noch der letzte Traum in der Luft zerfetzt wurde. Jedes Wort in diesem Stück von THE RIVER ist wahr und jede Silbe drückt dir die Luft ab. Und dann, etwa eine halbe Stunde später, die einsame, mit starker Hand und großem Herzen gepinselte Pappe eines Fans: „Many concerts, never Jungleland.“ Wir waren weder im Hammersmith Odeon (1975) noch in New York (2001) dabei, doch dieser fast zehnminütige Song gehört für immer und ewig zu den größten Momenten der Musikgeschichte. Irgendwann steht Clarence Clemons, der einen unglaublichen, mit goldenen Reben bestickten Mantel und mehrere goldenen Ketten trägt, ja sogar die Fingernägel golden lackiert hat, auf, um das unvergessliche „Jungleland“-Saxophon-Solo zu spielen. Vor mir steht ein Mann, dessen Augen plötzlich feucht werden, neben mir ein einfacher Lagerarbeiter und Thomas-Bernhard-Charakter (ein Gärtner, kein Jäger!) aus Graz, der hinterher sagen wird, dass auch er heute, so wie ich, zum vierzehnten Mal bei Springsteen ist und es doch wohl kaum lohnen würde, zu irgendeinem anderen Konzert auf dieser Welt zu gehen. Beim von Bruce in den letzten Jahren sukzessive aus den Achtzigern herausgezerrten „Dancing In The Dark“ bricht die Arena fast auseinander, Blitze zucken, niemand will zurück nach Hause. Und wissen sie was? Der eine Chilene, der glaubhaft versichert, 70 bis 80 Boss-Auftritte gesehen zu haben, sagt, dass heute nacht zu seinen Top 3 gehört. Sparks still fly on E Street!

Jan Wigger – 12.08.2009