Communication breakdown


Überzehn Jahren erschien ok computer, das kompromisslose, verblüffend wagemutige Epochen-Album, das Radiohead künstlerisch wie kommerziell eine neue Dimension erschloss. Zum Jubiläum: die ganze Geschichte des Meilensteins experimenteller Rockmusik text: davidcavanach/uncut/ipc+syndication

Es war der verregnetste Juni seit 118 Jahren. Das Tennisturnier in Wimbledon musste wegen der vielen Matchabsagen aufgrund von Dauergewittern verlängert werden. Ein gewaltiges Tief mit Wirbelstürmen hing über ganz Südostengland, für viele Flüsse galten Hochwasserwarnungen. Die Polizei warnte Festivalbesucher, Glastonbury sei „ein Feld voller Suppe“.

Rückblickend könnte man sagen: OK Computer hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können als in dieser Zeit der katastrophalsten Niederschläge in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert. Als Teenager in Oxford hatten Radiohead bei Partys gern Joy-Division-Platten aufgelegt und dann genüsslich zugesehen, wie sich die Tanzfläche leerte. Jetzt, auf ihrem dritten Album, schufen ihre Gitarren eine vollkommene Atmosphäre düsterer Vorahnungen, während Thom Yorkes Versehrter Klagegesang eine Welt beschrieb, die sich im täglichen Mahlstrom von politischer Korruption, schleichender Übelkeit, eskalierender Panik, mörderischem Stress, Hilflosigkeit und Verzweiflung selbst abhanden kommt.

OK COMPUTER war ein Weltschmerz-Meisterwerk par excellence, ein musikalischer Science-Fiction-Zyklus für die Generation der Gebrochenen, eine unüberhörbare Alarmsirene zum Ende des Jahrtausends. Und für Radiohead ein gewaltiger Sprung gegenüber dem Vorgänger THE BENDS; die Kompositionen auf OK Computer waren komplex, vielschichtig, haarsträubend, dabei aber – wie auch immer man die Botschaft deutete – auf fesselnde Weise zugänglich und anhörbar. Viele feierten das Album als Vorlage für die Rockmusik des 21. Jahrhunderts.

„Es ist eines der Alben, auf die man als Musiker neidisch ist“, sagt Nicky Wire von den Manic Street Preachers. „Man hört die Platte und denkt: ,Verdammt, diese Mistkerle haben die Latte höher gelegt …’Die Texte sind atemberaubend gut. OK Computer reißt dich mit, und du willst es immer wieder hören, weil so viel drinsteckt.“

Radioheads Kombination von Kunst und Handwerk veredelt praktisch jede Sekunde der 53 Albumminuten. Jonny Greenwoods futuristische Gitarrenklänge verblüfften alle von Slash bis The Divine Comedy. OK COMPUTER setzte Maßstäbe: Es war die letzte wirklich experimentelle Rockplatte, die ein weltweites Millionenpubliküm fand. „Für meine Generation“, sagt Tom Chaplin von Keane, damals ein 18-jähriger Schulabgänger aus Sussex, „ist es in jeder Hinsicht das vollkommene, das komplette Album. Musik, Texte, Produktion, Interpretation, sogar das Konzept, alles ist epochal und brillant gemacht. Da spielt eine Band auf ihrem absoluten Schaffenshöhepunkt.“

Die immense Bandbreite von OK COMPUTER beruht auf übernatürlichen Soundlandschaften, perfekt berechneten Überraschungen, der Verschmelzung von Gegensätzen, Ahnungen und Vorzeichen. Viel wurden Radiohead damals, im Optimistensommer 1997, für ihre düsteren Prognosen über den unaufhaltsamen Niedergang der Menschheit als Spielverderber kritisiert- zehn Jahre später entpuppt es sich als weise Entscheidung, sich dem modischen Optimismus der Zeit zu verweigern.

Der Schmerz und die Qual in Thom Yorkes Stimme waren, milde ausgedrückt, nicht ganz in Einklang mit der 1997 weit verbreiteten Stimmung von Aufbruch und Erneuerung. Am Abend des 1. Mai, dem Tag, an dem Tony Blair und seine radikal umgebaute Labour Party in einem Erdrutschsieg Downing Street No. 10 erobert hatten, brachte der Dramatiker Colin Weiland auf einer champagnerblubbernden Party in London Reportern gegenüber das neue, utopische Großbritannien auf den Punkt: „Morgen kann ich meinen vierjährigen Enkel abholen und ihm sagen, dass er eine Zukunft hat. „Es war ein Neubeginn für die Briten. Oder etwa nicht?

Um 1997 im richtigen Zusammenhang sehen zu können, müssen wir zwei Jahre weiter zurückgehen: 1995 waren Radiohead unermüdlich unterwegs, um ihr zweites Album THE BENDS zu bewerben. Sie tourten von Februar bis Dezember, zweimal in Großbritannien, einmal in Japan, dreimal auf dem europäischen Festland, fünfmal in Amerika. In Interviews sprach die Band offen über ihre seelische Verwirrung und Desorientierung infolge der langen Reisen. Es war ein sonderbarer Haufen, dieses Quintett bekennender Neurotiker. Sie teilten eine lange gemeinsame Geschichte, kannten sich seit weit über zehn Jahren (kennengelernt hatten sie sich Anfang der 80er im Internat in Abingdon), aber standen im Ruf, ihren Job nicht sonderlich zu mögen. Nach anfänglichem Erfolg 1992 in den USA mit dem Hit „Creep“ war ihnen 1994 weniger Glück beschieden gewesen, und so war es 1995 nicht gerade eine ausgemachte Sache, dass Radioheads internationaler Durchbruch unmittelbar bevorstehe. THE BENDS war zudem ein Spätstarter, ein klassischer slow burner, der erst nach einem geschlagenen Jahr und viel Mundpropaganda auf signifikante Verkaufszahlen kam.

Die Radiohead-Tourneen 1995 waren gezeichnet von Panikattacken und Wutausbrüchen ihres Sängers und Songwriters Thom Yorke, dessen Unberechenbarkeit und Neigung zu Depressionen sich in den Texten für THE BENDS niedergeschlagen hatten. Es fiel ihm ganz offensichtlich schwer, „unechte“ Situationen zu ertragen. Ein Augenzeuge berichtet über das Nachspiel eines Auftritts in einem Plattenladen in Toronto: „Schließlich brachte man Thom zum Signiertisch, wo er sich hinsetzte und wartenden Fans Autogramme gab. Er sah sie nicht an und sprach mit keinem. Er saß nur da und weinte leise in sich hinein, während er immer wieder seinen Namen schrieb.“

THE BENDS dominierte 1995 Radioheads Konzertprogramm, aber allmählich brachte Yorke neue Songs in die Setlist ein. „Subterranean Homesick Alien“ und „Lucky“ kamen im Juli dazu, „No Surprises“ im Dezember. Den Bandkollegen fiel auf, dass sich diese neuen Songs von dem knurrigen Solipsismus der aktuellen Texte entfernten: Yorke bediente sich jetzt erfundener Charaktere und Erzählhandlungen, zeichnete Bilder von Entführungen durch Außerirdische, den freudlosen Ritualen des Vorstadtlebens etal. „Thom versuchte von der allzu intensiven Selbsterforschung wegzukommen „, erklärte Bassist Colin Greenwood, „und seinen Horizont ein bisschen zu erweitern, zu sagen: Es gibt eine Welt außerhalb von dem, was ich bisher gemacht habe, und das ist mir bewusst.“

Wenn Yorke „den innerlichen Kram zu den Akten gelegt“ hatte, wie er es später formulierte, worüber würde er jetzt schreiben? Eine Antwort lag in den Büchern, die er verschlang. „The State We’re In“ (1995) von Will Hutton, Wirtschaftsredakteur des „Guardian“, enthielt Passagen, die geeignet sind, jedermann (und insbesondere einen neurotischen Rockstar) -»

-> in Depressionen zu stürzen. Das Buch mit dem Untertitel „Why Britain Is in Crisis and How to Overcome It“ lieferte eine schonungslose Beschreibung der Zustände im UK der 8oer und 90er, vom Niedergang des sozialen Wohnungsbaus bis hin zum Aufstieg von Rupert Murdochs Pay-TV-Konzern BSkyB. Die Schilderungen von ungerechter Einkommensverteilung und ungezügeltem Elitismus rüttelten am Gewissen des Lesers – besonders wenn er, wie Yorke, privilegierter Abgänger einer Reiche-Leute-Schule war. Hutton warf dem konservativen Establishment „arrogante Heimlichtuerei in Regierungsgeschäften, Zentralisierung der Macht und Desinteresse an der Vielzahl von Anliegen und Gruppen, die eine Zivügesellschaft ausmachen „vor. Wenn nicht das gesamte wirtschaftliche System Großbritanniens neu gestaltet werde, warnte er, habe es auch keinen Zweck, bei der nächsten Wahl für eine Labour-Regierung zu stimmen.

Im September 1995 nahmen Radiohead und Toningenieur Nigel Godrich eine großartige Version des neuen Songs „Lucky“ für den „WarChild“-Benefizsampler help auf. Kritiker schwärmten von Yorkes durchdringendem Gesang und dem dramatischen Triptychön von Gitarren, die Godrich strategisch klug im Stereoraum verteilt hatte wie Batallione an Berghängen. Parlophone, seit 1992 Radioheads Label, stimmten zu, die Band mit Godrich als Mixer und Co-Produzent ein neues Album aufnehmen zu lassen, auf einen fest vereinbarten Abgabetermin zu verzichten und obendrein ein beträchtliches Budget vorab bereitzustellen. Offenbar hatte „Lucky“ große Hoffnungen sprießen lassen: Von derartiger Freigiebigkeit konnten und können die meisten Bands nur träumen.

„Das Wichtigste für uns war, dass wir die Platte selbst produzieren „, sagte Colin Greenwood später. „Wir mussten lernen, zu sechst zu Entscheidungen zu kommen. Da sie Aufnahmestudios in der Vergangenheit als „ziemlich wissenschaftliche und klinische Orte“ empfunden hatten, ließen sie Godrich nach seinen eigenen Vorstellungen (und mit dem Geld von Parlophone) ein mobiles Tonstudio bauen und es zum Proberaum der Band bringen, einem ehemaligen Apfel-Lagerschuppen im Oxfordshire, den sie „Canned Applause“ („Beifall in Dosen“) getauft hatten. „No Surprises“ war das erste Stück, das sie versuchten. Yorke erklärte, der Song handle von „jemandem, der sich sehr bemüht, den Überblick nicht zu verlieren, es aber nicht schafft“.

Die „Canned Applause -sessions warfen vier Songs ab. Ein Indikator für Radioheads Status im Jahr 1996 (will heißen: nicht so gewichtig, wie manche für angemessen hielten) ist, dass sie die Aufnahmen unterbrechen mussten, um noch mal in den USA die Werbetrommel für THE BENDS zu rühren. Ihr US-Label Capitol hatte ein begründetes Interesse an dem, was sie da in „Canned Applause“ anstellten, weil man erwartete, der Impuls von THE BENDS werde die Verkäufe des Nachfolgers auf zwei Millionen und mehr treiben (Yorke hat angedeutet, Capitol habe gehofft, OK COMPUTER werde klingen wie the JOSHUA tree). Immerhin gab die Tour der Band die Möglichkeit, neue Songs live zu testen. Einer davon hieß „Electioneering“, ein Wortspiel aus „election“

und „engineering‘. Thom Yorke: „Der Song handelte von Impotenz, Unfähigkeit, dem Gefühl, das man hat, wenn man ein Buch zuschlägt oder eine Fernsehsendung sieht, die einen richtig aufregt und wütend macht, und es gibt keinen Weg, diese Wut auszudrücken … Das faszinierte mich, als ich an dem Album arbeitete. Eine der Sachen, die uns da zum ersten Mal klar wurden, war, dass das wahrgenommen wird, in den Läden, in den Einkaufsstraßen, in der Öffentlichkeit. Ich schätze, den Manics war das schon lange klar, aber damals hatte ich noch nicht dieselben Bücher wie sie gelesen. Wie die Songs geschrieben wurden, war zum Teil eine Reaktion darauf, auf die Vorstellung, dass wir in jedem durchschnittlichen Plattenladen eine n mal 2 Zentimeter große Ecke für uns haben würden. Das ist verdammt auf regend, weil man die Sachen sagen kann, die man wirklich sagen will, und die Leute dann vielleichtauch wirklich darauf reagieren.“

„I will stop at nothing / Say the right things /When electioneering.“Yorke behauptet, er habe den Text auf die konservativen Tories gemünzt, aber es ist lustig, was sechs Wochen als Labour-Premierminister bewirken können. Im Juni des folgenden Jahres, als OK COMPUTER in die Läden kam, hörte man bereits das unzufriedene Murren parlamentarischer Hinterbänkler über Tony Blairs Vorliebe für einsame Entscheidungen ohne Konsultation der Abgeordneten. Seine „Fordern statt fördern „-Reformen wiederum sorgten für sprachloses Entsetzen, weil sie alleinerziehenden Müttern, die nicht dem „new bargain“ („neue Abmachung ) der Regierung folgten, mit Entzug jeglicher Unterstützung drohten. So war das doch ursprünglich nicht gemeint gewesen? „Ich weiß, daß ich auf eure Stimmen zählen kann“, lächelte Yorkes wahlkämpfender Massenmörder von seinem Podium herab.

Nach der Rückkehl von einer zweiten US-Tour im August 1996 (im Vorprogramm von Alanis Morissette) räumten Radiohead „Canned Applause“ und ließen das Luxuspendel zur anderen Seite ausschlagen. Sie mieteten St. Catherine’s Court, ein stattliches elisabethanisches Anwesen bei Bath, das der Schauspielerin Jane Seymour gehörte, und karrten ihr Equipment in deren opulente Gemächer. „Wir bauten im Ballsaal auf, erinnert sich Colin Greenwood, „der Kontrollraum war in der Bibliothek, von wo man einen fantastischen Blick auf die Gärten hatte. Das waren ein paar recht magische Abende, als wir bei offenen Fenstern zusammensaßen und Musik machten.“ Zwei Monate lang nahmen Radiohead dort auf. „Es war mitten im Nirgendwo“, erzählte ein etwas weniger begeisterter Thom Yorke später. „Deshalb blieb, wenn wir zu spielen aufhörten, nur reine Stille. Du machst das Fenster auf: nichts. Eine ganz und gar unnatürliche Stille nicht einmal Vogelzwitschern. Fürchterlich.“

Am 26. Mai erschien „Paranoid Android“ als Single, eine Sechs-Minuten-Revolution in vier Sätzen mit brutal verdrehten Gitarrensoli und gregorianischmönchisch angehauchtem Choral im Mittelteil – ein atemberaubender Vorgeschmack auf OK COMPUTER. Colin Greenwood: „Es war, als legte man erst mal etwas Merkwürdiges vor, eine Art Zusammenfassung des Menüs, ehe die ganze Mahlzeit aufgetischt wird, um die Verdauung auf das vorzubereiten, was dann kommt.“

An dem Abend, als „Paranoid Android zum ersten Mal auf Radio 1 lief, saß Neil Hannon, Kopf von The Divine Comedy, in Islington im Auto: „Ich weiß noch, wie es immer weiterging… und weiter… und immer weiter“, lacht er. „Und ich dachte: Das ist ja fantastisch! Es war absolut wie nichts, was ich je gehört hatte. Ein historischer Augenblick.“

Dann ging das Album an die Presse. Die Reaktionen auf die ersten Vorabkassetten waren nachgerade ekstatisch. Die Drei-Gitarren-Indie-Rock-Band von 1993 /94 krümmte sich jetzt über Mellotrone, klimperte auf Glockenspielen, ließ Geigen sägen und rhapsodierte an elektrischen Pianos, deren Sound schimmerte wie Sonnenuntergänge. Die Radiohead-Godrich-Produktion mischte ungemein klare Töne mit höllischen Krampfanfällen aus Verzerrung und Chaos. Yorkes Gesangsdarbietung war überragend: verängstigtes Falsett-Gewimmer, murmelnde Klagegesänge, kehlige Verwünschungen, das schiere Geheul. OK COMPUTER war über Nacht das meistdiskutierte Album seit Monaten. ¿¿

-» „Eine echte Gitarrenband, die voll abgeht, ohne dabei in Rock’n ‚Rollismen zu verfallen , meint Geoff Barrow von Portishead. „Viele von meinen Freunden sagten, OK COMPUTER sei die kommerzielle Version von zehn verschiedenen Sachen, die gerade weltweit [im Underground] passierten. Aber man greift eben Sachen auf und eignet sie sich an. Man absorbiert etwas, was in der Luft liegt. Manche Leute bringen das richtig auf den Punkt, dann spricht es Millionen an, und das ist Radiohead mit OK COMPUTER gelungen.“

Wie viele andere Gitarristen war auch Neil Hannon, der drei Jahre danach mit Godrich arbeitete, verblüfft von den Sounds, die Radiohead geschaffen hatten: „Es gibt eine Stelle in Airbag‘.wo es in Jonnys Solo reingeht, da klingt das, wie wenn die Maschine schmilzt: Meltdown! Heute, da ich Nigels Arbeitsweise erlebt habe, weiß ich, dass da mit Bandecho herumgebastelt und das Octaver-Pedal bearbeitet wurde. Aber damals hatte ich keine Ahnung, wie sie diesen Sound hingekriegt haben -nicht die geringste Vorstellung.“ Auch Slash zeigte sich beeindruckt: „Solche Gitarrensounds habe ich Gott weiß wie lange nicht gehört.“

OK COMPUTER wurde ungeheuer populär. Doch wie bescheidene Kletterer, die versehentlich den Mount Everest bestiegen haben, weigerten sich Radiohead, zu akzeptieren, dass sie etwas Bemerkenswertes geschaffen hatten, verrieten bestenfalls ein paar ihrer Inspirationsquellen (DJ Shadow, Miles Davis, Krzysztof Penderecki) und erteilten dem ein oder anderen unliebsamen Vergleich (Pink Floyd) eine Absage. Josh David (alias D] Shadow), der für sein Debütalbum endtroducing … gefeiert worden war, bewunderte OK COMPUTER zunächst vom künstlerischen Standpunkt her und verliebte sich in die Platte, als er 1997 im Vorprogramm von Radiohead tourte.

Die auf dem Album thematisierten Probleme – Hilflosigkeit und Entfremdung-trafen bei ihm einen Nerv. Unterstrichen wurden diese Themen durch das gespenstische Cover-Artwork, das ein tiefes Unbehagen andeutete, ohne den Schrecken beim Namen zu nennen. Die Schlüsselphrase auf dem Cover lautete „Lost Child“, aber das Booklet gab dem Leser jede Menge Stoff zum Nachdenken: bizarre Krakeieien, das Smiley-Logo einer mexikanischen Chipsmarke, Willkürliches in Esperanto, Gesundheits- und Sicherheitsratschläge auf Englisch und Griechisch. Das Durcheinander hatte einen Effekt, als erhielte man soeben Lifestyle-Tipps von einem Wahnsinnigen.

„Ich bin in Silicon Valley geboren und aufgewachsen „, sagt Josh Davis zur Erklärung. „Wie gewaltig das Ausmaß von Werbung und Marketing ist, mit dem wir hier in der Bay Area überschüttet werden, begreift niemand. Wir sind das Testgebiet für jeden neuen Internet-Unfug, der rausgehauen wird. OK COMPUTER war eine Vorahnung von dem Gefühl, das ich gegen Ende des Dotcom-Booms hatte, kurz vor dem Zusammenbruch. Ich fühlte mich ausgelaugt, als würde ich in einem Reagenzglas leben. Das Ausmaß an Reklame und Marktschreierei-all diese Dinge, an denen wir angeblich teilhaben sollen – machte einen echt fertig.“

Einige Kommentatoren schreiben die Furcht, die OK COMPUTER widerspiegelt- und den Titel selbst – Thom Yorkes Technophobie zu. In Wirklichkeit ist Yorke recht offensichtlich alles andere als technikfeindlich eingestellt (man denke an kid a!), sondern eher ein Technophiler mit ethischen Vorbehalten. Freimütig gestand er zu, OK COMPUTER sei ein Album seiner Zeit. „Ich denke, das Millennium hat viel damit zu tun“, sagte er 1997. „Es wird auf der LP nirgends erwähnt, weil man es nicht erwähnen muss, aber es beeinflusst alles, was jedermann momentan tut.“

„Ich glaube, viele seiner Vorhersagen auf der Platte sind in gewissem Maße eingetroffen „, meint Keane-Sänger Tom Chaplin. „Die meisten Leute kauften damals gerade ihre ersten Mobiltelefone, hatten den ersten Computer zu Hause, und das Internet ging so richtig los. Da tat sich auf einmal eine ganze, nie gekannte Welt von globaler Kommunikation und Technologie auf. Es war enorm aufregend, aber für viele auch sehr beängstigend. Es gab diese Ahnung, wenn das Jahr 2000 kommt, brechen sämtliche Computer zusammen, und in den Kraftwerken kommt es zu Atomexplosionen.“

Einige Medienschlagwörter von 1997 haben sich bis heute gehalten: Alcopops, Autobahnraserei, Asylsuchende, Spitzengehälter. Andere sind nicht mehr gebräuchlich: Tamagotchi, Nintendo 64, Nazigold in der Schweiz. Wie das Phänomen Verkehrsrowdytum wird uns sicherlich auch OK COMPUTER noch lange Zeit begleiten; erst 2005 führte das Album die Liste der „100 größten Alben“ auf Channel 4 an. Was die Platte tatsächlich bewirkt hat, ist nicht so leicht zu sagen. Musiker lieben sie. Aber hat irgendeiner von ihnen die Herausforderung wirklich angenommen?

Mit Sicherheit beeinflussen Radiohead zahllose Bands, und ohne es zu wollen, popularisierte Thom Yorke das Konzept des empfindsamen, engelsgleichen Jünglings, der unter freizügigem Einsatz von Falsettgesang (Nicky Wire nennt es das „Snow-Patrol-Syndrom ) seine Schwermut zum Ausdruck bringt. Aber Coldplay-Sänger Chris Martin mag noch so sehr beteuern, OK Computer habe sein Leben verändert – viel wahrscheinlicher lieferten die Balladen auf THE BENDS („High And Dry“, „Fake Plastic Trees“, „Street Spirit [Fade Out]“) die Formatvorlage für die Bands der Coldplay-Generation, nicht verquere Psycho-Orgien wie „Paranoid Android“ und „Climbing Up The Walls“. Von den zwölf Tracks auf OK COMPUTER erinnerten nur „No Surprises“, „Let Down“ und „Karma Police“ an den Gitarrenpop, den wir morgens im Radio wegdrehen. Ist es ein Zufall, dass diese drei am leichtesten zu spielen sind? Josh Davis alias DJ Shadow: „Viele sagten über OK COMPUTER: .Dies ist die Messlatte! Wenn ich etwaszustandebringe, das halb so gut ist, bin ich gut im Rennen.‘ Aber ich habe noch nie etwas gehört, was definitiv und unverkennbar auf OK Computer zurückginge. Das ist interessant, weil es zeigt, dass das, was Radiohead machten, wohl noch komplizierter war und ist, als es den Anschein hat.“

Die auf den Massengeschmack zielenden Alben der Zeit nach OK Computer urban hymns (The Verve), good feeling (Travis), Word gets around (Stereophonics), life through a lens (Robbie Williams) – schlössen gewissermaßen die Tür, die der Erfindungsreichtum von OK COMPUTER gerade aufgestoßen hatte, und keines davon hatte Wesentliches über die Beklemmungsgefühle dieser Jahre vor dem Millennium zu sagen. Der Tod von Prinzessin Diana hatte die ganze Nation gelähmt; man wollte Songs mit aufmunternden Akkordfolgen und hymnischen Refrains – no alarms and no surprises, please.

Bis April 2006 verkaufte sich OK COMPUTER in Großbritannien und Europa über drei Millionen Mal, im selben Monat erntete das Album für über zwei Millionen verkaufte Exemplare Doppel-Platin in den USA. Nicht schlecht für ein Kunstwerk, das keine Kompromisse macht und die volle Aufmerksamkeit des Hörers fordert. Radiohead sind seinem Schatten nie entkommen, könnte man sagen, auch wenn die Musik, die sie seither gemacht haben, kühn, oft wütend und manchmal außerordentlich aufregend war. Ihre letzten drei Alben (kid a, amnesiac,hail to the thief) haben leidenschaftliche Anhänger, aber es wird Radiohead nie gelingen – und sie würden das auch nicht wollen -, die Stimmung wiederzubeleben, die wir erahnten, als sich der Himmel verdunkelte und der große Regen begann – und OK COMPUTER all dem auf unerklärliche Weise einen Sinn abrang. Schade nur, dass das Album nicht das erhoffte goldene Zeitalter einleitete. Und dass OK COMPUTER die letzte Platte ihrer Art war, nicht die erste.