Craig Nicholls von Australiens brillanten Garagenrockern The Vines taumelt auf Brian Wilsons Spuren am Rande des Wahnsinns.


Glasgow, Montagabend, 22.30 Uhr: Während draußen die Kids ohne Ticket im Regen am Tourbus auf die Vines warten, drohen im restlos ausverkauften QMU-Club die Dinge außeT Kontrolle zu geraten. Dabei sprang der kleine, wirrhaarige Craig Nicholls eben noch leichtfüßig mit jedem Akkord einen Spagat, drehte sich mit hochgerissener Gitarre um sich selbst und spielte jaulende Soli hinter dem Kopf, während die aufgekratzte Menge schubste, sprang und tobte. All das ist mit einem Mal vorbei. Kondenswasser tropft von der Decke auf die jungen Schotten im Publikum, die nun den Atem anhalten und gebannt die Hälse recken. Craig hat mit einem heftigen Tritt den Mikrofon-Ständer umgekickt, kniet am Boden vor seinem Marshall-Verstärker und zündet sich zu Brustkorb-erschütterndem Feedback eine Zigarette an. Als seine Bandkollegen „1969“ zu einem grandios psychedelischen Finale treiben, steht er auf und taumelt über die Bühne. Mit jedem Schlag, den Hamish in sein Drumset prügelt, stolpert Craig ein paar Schitte weiter, bis er plötzlich einen Haken schlägt und samt Gitarre ins Publikum stürzt. Roadies zerren ihn zurück aufs Podium, wo er sich die Stratocaster vom Leib reißt, das kreischende Ding achtlos neben den Ständer knallt und wieder in die Knie sinkt. Selbstvergessen wiegt er sich im Dunkeln, streckt die Zunge raus oder rollt die Augen nach hinten, bis sich schließlich Patrick, Ryan und Hamish kurz zunicken und den Song zu einem wuchtigen Ende bringen. Das Licht geht an und die Vier sind verschwunden. Nach und nach erwacht alles wie aus einer Trance, bis sich die Anspannung schließlich in tosendem Applaus entlädt.

„Keine Sorge, das bin nicht ich auf der Bühne“, sagt Craig (24) und wirft sich auf die Couch in der Garderobe. Er ist ein bisschen zappelig, aber klar und clean. „Es ist zwar emotional und körperlich sehr anstrengend; von der Bühne zu gehen istwievon einem Raumschiff zu kommen. Aberes istauch eineunglaublich lohnende Erfahrung. Alles ist laut, dieTexte schweben in deinem Kopf- du wirst an diesen Ort transportiert. Das kann wahnsinnig kraftvoll sein. Undmanchmal auch schmerzhaft. Aber hey, ich habe auf der Bühne die Freiheit, mich zu jedem Zeitpunkt neu zu erfinden! Ob ich stehen bleibe, ob ich rumrenne… ich weiß zu keiner Sekunde, ob ich gleich kreische oder doch ganz leise singe. “ Die hervorragende Debüt-LP „Highly Evolved“ (Seite 51) war längst noch nicht veröffentlicht, als den explosiven Liveshows der Vines bereits ihr Ruf vorauseilte. Zahlreiche namhafte Musiker-Kollegen haben sich in den vergangenen Wochen um Tickets zu den ausverkauften Konzerten bemüht, darunter Albert Hammond Jr. von den Strokes und Manie Street Preacher James Dean Bradfield, der Craig backstage in Bristol gratulierte und mehrmals kopfschüttelnd betonte, dass der Gig „absolutely fuckying amazing“ war. Auch wenn es Unsinn ist, dass nach The Hives, The White Stripes und The Doves nun The Vines und in vier Monaten The Datsuns zu den „neuen Strokes“ erklärt werden, so gehört das australische Quartett doch fraglos zu den besten neuen Bands der letzten zehn Jahre. Und zwar mit Abstand – Hype hin oder her.

Die wundersame Geschichte begann Mitte der 90er Jahre in Sydney, als Craig beim Jobben in einem McDonald’s Patrick kennen lernte. Craig verließ damals zum Kummer seiner Eltern selten das Haus und verbrachte seine Freizeit so konsequent vor der Glotze, dass schließlich Fernsehverbote ausgesprochen wurden. Der zwei Jahre ältere Patrick war es, der den sonderbaren und bisweilen suizidgefährdeten Teenager wieder unter Leute brachte, um mit ihm und dem manisch-depressiven Schlagzeuger David Olliffe – der bei den Debüt-Aufnahmen Anfälle bekam und Zigaretten auf dem Arm ausdrückte, bis er etwa zur gleichen Zeit durch Hamish Rosser ersetzt wurde, als mit dem Zustoßen von Gitarrist Ryan Griffiths das bestehende Line-up komplett wurde -Pot zu rauchen und Nirvana-Songs einzustudieren.

„Angefangen hat das mit der Musik nur, weil uns langweilig war“, erinnert sich Craig. „Wir mochten Nirvana und konnten so halb Instrumente spielen. Aber dann … dann wurde ich neugierig. Ich hab mich eines Tages gefragt, ob ich auch selbst einen Song schreiben könnte. Und nach zwei oder drei Jahren fuhren wirmit ein paar Hundert Dollar zu einem Studio, um eigene Tracks aufzunehmen.“Die Drei überredeten einen befreundeten Moderator, die Songs im Radio zu spielen. Ein Manager hörte zu, kontaktierte die Jungs und verschickte die Demos an verschiedene Leute im Business. Und dann ging alles ganz schnell: Als eine E-Mail von Produzent Rob Schnapf (Becks „Mellow Gold“ und „Odelay“) eintraf, in der von der ersten bis zur letzten Zeile nur THE VINES! THE VINES! THE VINES! stand, wurden Flüge nach L.A. gebucht. „Wir hatten s 30 Songs. Ich hab ständig mehr geschrieben. Es ist mir wichtig, viele gute Songs zu haben“, sagt Craig und wird ein bisschen aufgeregt. „Du kannst nicht nur fünf gute“? Nummern haben! Wir wollten keine EP aufnehmen, sondern gleich ein Album. Ich mag Alben. Wenn aus irgendeinem Grundjetzt die Gitarren alle zu funktionieren aufhören und die Tour abgesagt werden muss, dann würde ich sofort die zweite LP einspielen.“ So sehr Craig Nicholls versucht, sich mit der Bühne anzufreunden – eigentlich ist das Touren seine Sache nicht. Er hat Angst vor Flugzeugen und Autos, steht vor Auftritten unter Hochspannung und wird das Gefühl nicht los, wertvolle Zeit zu vergeuden. Die neuen Songs sind bereits fertig, und Craig hat auf der Bühne in Glasgow zwei davon live getestet. Eine ergreifendzerbrechliche Solo-Akustik-Performance von „Autumn Shade Part Two“ und das rotzig-clevere „Fuck The World“ bestätigen seine Selbsteinschätzung: „Wir werden ständig besser“.

„Ich spüre, dass wir noch ein paar gute Alben in uns haben „, sagt er und reibt sich heftig die Kopfhaut. “ Und die meisten Künstler haben doch ihre beste Arbeit gemacht, als sie jung waren.“Viele von ihnen waren ähnlich sensibel wie Craig Nicholls: Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Jim Morrison. Und viele von ihnen hatten nicht viel Zeit. Craig spinnt den Faden selbst weiter: „Ja, ich weiß, es gibt diesen ganzen Rock’n’Roll-Mythos. Dass es glamourös ist, dich umzubringen oder dir das Hirn rauszukoksen. Das ist nichts für mich. Diese Drogen interessieren mich nicht. Ich hab so viele Ideen für das nächste Album, das wird bestimmt aufregend. Und ich will noch besser werden. Außerdem male ich. Ich glaube nicht, dass ich mich umbringen muss. Ich will doch als Nächstes ein Bild malen „.

Doch solange die Gitarren nicht alle zu funktionieren aufhören, wird der ehemalige Kunststudent keine Zeit finden, um ein Bild zu malen. Längst hat sich rund um die Vines eine Maschinerie in Bewegung gesetzt, die den instabilen Jungen zu zermalmen droht. Für die USA haben Capitol Records The Vines zur obersten Priorität gemacht, EMI haben dasselbe für Deutschland getan. Auch in der Heimat sind die Erwartungen hoch. Nach England klappert das Quartett nun die USA ab, bevor es zunächst Down Un der und im Herbst in Deutschland weitergehen soll.

„Ich möchte nur aufnehmen. Ich hab all die Songs in meinem Kopf und werde sie verlieren, wenn ich nicht aufpasse. Brian Wilson musste nie auf Tour gehen und die Beatles auch nicht – wegen dem ganzen Geschrei. Ich muss aufnehmen, ich muss es jetzt tun, aber die lassen mich nicht“, gab Craig im April – am Tag seines ersten großen Konzerts überhaupt – in Kalifornien zu Protokoll. Dann hyperventilierte er und schloss sich drei Stunden auf der Toilette ein. Inzwischen versuchen Management und Plattenfirma, den Medienrummel möglichst gering zu haken, ohne dabei zu große Gewinneinbußen hinnehmen zu müssen. Seid bitte vorsichtig mit diesem jungen Mann. Es wäre nicht das erste Talent…

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