„Das ist die gottverdammte Wahrheit“


Rufus Wainwright ist Opernliebhaber und ein "Schatz", Michael Stipe eine Rock-Ikone und hatte lange "keine Ahnung", was er da eigentlich tat. In Dublin trafen sich die beiden Songwriter zu einem Fachgespräch über ihren Beruf und ihre Berufung.

Gerade erst dem Flugzeug nach Dublin entstiegen, sitzt Rufus Wainwright in der Hotellobby und trinkt Kaffee, als Michael Stipe eintritt. Wainwright steht auf, ein wenig steif. Vom Naturell her der extravagantere der beiden, wirkt er in diesem Moment respektvoll zurückhaltend. Die beiden Songwriter umarmen sich so linkisch wie zwei Diplomaten. Man kennt sich seit Jahren aus dem Tourneezirkus, doch hat man nie genug Zeit miteinander verbracht, um wirklich Freundschaft zu schließen. Der schüchternere, professoralere Stipe begutachtet Wainwrights Regenmantel. „Hübsches Stück“, sagt er sanft, um das Eis zu brechen, „wirklich schön.“ Er setzt kurz seine dicke Brille auf, nimmt sie gleich wieder ab. „Danke“, sagt Wainwright und fährt sich mit der Hand durch die Haare; das ist sein nervöser Tick.

Hier sitzen nun also zwei Songwriter, beide mit einer erstaunlichen bisherigen Schaffensbilanz, um über die Feinheiten ihres Handwerks zu reden. Stipe ist der große alte Mann des College-Rock. Angesichts eines Gassenhauers wie „Losing My Religion“ vergisst man leicht, dass Alternative Rock vor R.E.M.s Durchbruch Minderheitenmusik war – dieses Jahr wurden R.E.M. in die „Rock And Roll Hall Of Farne“ aufgenommen.

In dieser illustren Gesellschaft könnte Wainwright wie der junge Emporkömmling wirken, doch werden nur wenige Songschreiber von ihren Zeitgenossen momentan so respektvoll behandelt wie er. Stipe pries ihn als „die neue Nina Simone“, Elton John nannte ihn .Amerikas Schatz“. Pet Shop Boy Neil Tennant sagt, ihm fiele gegenwärtig „kein besserer aktiver Songwriter als Rufus Wainwright“ ein.

Gestern Abend haben R.E.M. im Dubliner Olympia Theatre elf neue Songs aus ihrem kommenden, 14. Studioalbum aufgeführt. Seit Wochen sind sie in Irland, um neue Songs zu schreiben und mit dem Produzenten Garrett „Jacknife“ Lee (Snow Patrol, U2) aufzunehmen. Noch sind sie nicht fertig. Stipe nennt den Auftritt eine „Live-Probe“, für ihn ist es ein Songwriting-Experiment: das Publikum als Teil des Arbeitsprozesses.

Wainwright ist aus Kopenhagen eingeflogen, wo er am Vorabend ein Konzert gegeben hat. Er hat seinen freien Tag geopfert, um mit Stipe über ihre Kunst zu debattieren. Die Backgrounds der beiden als Songwriter könnten schwerlich unterschiedlicher sein. Der ehemalige Kunststudent Stipe ist ein Kind der regellosen Punk-Ära und stolperte ganz ohne musikalische Vorbildung in eine Band. R.E.M.s frühe Aufnahmen sind berühmt für seine gemurmelten, rätselhaften Texte. Doch über die Jahre hat er einen extrem individuellen Songwriting-Stil entwickelt, der sich weniger an formalen Regeln denn an seiner persönlichen Entschlossenheit orientiert, Kunst zu schaffen und Klischees zu vermeiden. Sein Stil, seine Werke sind oft wissentlich undurchsichtig und rätselhaft, bieten keine einfachen Schlüsse an. Was – gepaart mit seinem Mangel an klassischer, „herkömmlicher“ Musikalität – R.E.M.-Songs jene abseitige Originalität verleiht, die viel zur Langlebigkeit dieser Band beigetragen hat.

Im Gegensatz dazu gibt es wohl wenige Songwriter, die die Einhaltung der Form mehr lieben als Rufus Wainwright. Der Sohn des Singer/Songwriters Loudon Wainwright III. wuchs auf in einem wahren Treibhaus von Talent bei seiner Mutter, der Folklegende Kate McGarrigle. Seine persönliche Rebellion richtete sich gegen die „Folksiness“ seiner Eltern. „Woody Guthrie, Peter Seeger, Banjomusik“, sagt er und lächelt. „Man musste zumindest halber Farmer sein, um das mit Genuss zu hören.“ Und genau das war der junge Wainwright definitiv nicht. Stattdessen schulte er seine Fertigkeit, indem er Opemmusik und den Pop-Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lauschte. Im Grunde ist es das Prä-Rock-Zeitalter, das ihn inspiriert und antreibt. Die Lobeshymnen der Kollegen in Ehren – ihn beschäftigt nach eigener Aussage mehr, „was Wagner und Verdi sagen würden“. Was dazu führt, dass die Songs seiner fünf Alben nur selten so enigmatisch daherkommen wie Stipes Werke. Was sie so einzigartig macht, ist die textliche Präzision und Wainwrights Meisterschaft in Sachen Melodien und Harmonien. Das und sein großes, übergeordnetes persönliches Thema des glamourös schwulen Ex-Drogenabhängigen, der entschlossen ist, seinem „halb bäuerlichen“ Erbe zu entkommen.

Doch bei allen Gegensätzen ist schnell klar, dass die beiden immensen Respekt voreinander hegen. Stipe, der „Eider Statesman“, Wainwright, der junge Thronanwärter. Tatsächlich haben sie viel gemein. Beide sind schwul, beide haben diese dunkle, romantische Sensibilität, gepaart mit starken politischen Überzeugungen. Beide verabscheuen den Fundamentalismus der US-Politik. Wainwrights „Gay Messiah“ nimmt mit zornigem Spott die Homophobie frömmelnden Christenvolks aufs Korn, „Going To A Town“ vom neuen Album Release the stars ist ein wunderschönes Klagelied über Amerikas Bedürfnis, die Welt schwarzweiß zu malen. Stipes charakteristischste Songs sind seine politischen, etwa der Ökoprotest von“Cuyahoga“vom 1986er Album Life’s rich Pageant und die Anti-Reagan-Tirade „Exhuming McCarthy“ von document, 1987. Ebenso verbindet Stipe und Wainwright ihre Abscheu vor dem Bestreben der politischen Rechten, die Uhr 50 Jahre zurückzudrehen – eine Abscheu, die etwa zum Ausdruck kommt im neuen R.E.M.-Song“Mr Richards“, dem Porträt eines Politikers, der es darauf anlegt, die USA zurück in den Kalten Krieg zu führen. Und eine weitere wichtige Gemeinsamkeit der beiden ist die Tatsache, dass sie die Kunst des Songschreibens außerordentlich ernst nehmen …

Wir werden uns über das Songschreiben unterhalten. Ist das für einen Songschreiber schwierig?

Michael stipe: Ich habe es nie so gesehen, dass es zu unserem Job gehört, darüber zu reden. Unsere Aufgabe besteht darin, uns den Freiraum zu schaffen, in dem wir tun können, was wir tun. Akademische Diskussionen darüber sollten andere Leute führen.

rufus wainwright: Was mich momentan am meisten beschäftigt und beeinflusst, sind die Judy-Garland-Shows, die ich gemacht habe (erstmals im Juni 2006 brachte Wainwright Garlands legendäre 1961er Show in der New Yorker Carnegie Hall auf die Bühne. Anm.d.Red.). Diese Arbeit war wie ein Streifzug durch das traditionelle Handwerk amerikanischen Songwritings, wobei einem klar wird, wie damals gearbeitet wurde: Da gab es immer den Texter auf der einen und den Komponisten auf der anderen Seite. Und die-se zwei arbeiteten gewissenhaft, ohne Experimente. Die Songs hatten solide und eingängig, populär zu sein.

stipe: Ich bewundere deinen Schneid. Das sind ja wirklich ziemlich große Schuhe, die du dir da anziehst.

wainwright: Ja. Und glänzende noch dazu (lacht). Ich glaube, dass die große amerikanische Kunstform das Songwriting ist. Das ist die klassische

Musik der Vereinigten Staaten. Und wir können uns glücklich schätzen, dass es so viele Verzweigungen und Ansätze gibt, ob man’s angeht wie Cole Porter oder aber wie Bob Dylan.

stipe: Wie du schon sagtest: Diese Songs aus der Judy-Garland-Ära wurden geschrieben, damit sie Hits werden. Dahinter stand der Gedanke, ein Lied zu schreiben, das jeder liebt. Meiner Meinung kehren wir momentan zu diesem Ideal zurück, nämlich im HipHop. Darüber habe ich mich schon öfter mit – ausgerechnet – Bono unterhalten, über diese Tatsache, dass Songs früher als möglichst große Hits konzipiert wurden. wainwright: Ich hatte mal eine Unterhaltung mit Ben Folds. Er hatte diese Idee, eine Show mit Burt Bacharach auf die Beine zu stellen, mit ein paar Gästen, die Songs von Burt Bacharach spielen. Ben war begeistert von dem Gedanken, bei der Arbeit auf die ein oder andere verschollene Kostbarkeit zu stoßen, also rief er Burt an: „Sagen Sie mal, Mr. Bacharach, haben Sie vielleicht einen weniger bekannten Song, den ich spielen könnte?“ Darauf Bacharach: „Was zum Teufel würdest du damit wollen? Meine weniger bekannten Songs waren eben einfach nicht wirklich gut.“

Wo seid ihr euch das erste Mal begegnet?

wainwright : In L.A. Wir hatten dort eine gemeinsame Bekannte, Melissa auf der Maur (Ex-Bassistin von Hole und den Smashing Pumpkins; Anm.). stipe: War das nicht in San Francisco? Wo ich dich zum ersten Mal hab spielen sehen?

wainwright: Stimmt. Ich beendete die Show mit „Across The Universe“ von den Beatles, und Michael riet mir, ich sollte das besser nicht tun. stipe: Wenn man eine Show mit eigenen Songs spielt, dann will man doch nicht, dass das Publikum am Ende beim Verlassen der Halle ein fremdes Stück singt! Ich habe Rufus zum ersten Mal gehört, als mir Mo Ostin und Lenny Waronker (die ehemaligen Präsidenten von Warner Records, Anm. d. Red) sein Demo vorspielten. Das sind zwei Männer, die ich respektiere, zwei Legenden, die sich immer für die Kunst eingesetzt haben. Es muss etwa 1997 gewesen sein. Ich besuchte sie, und Mo meinte: „Das musst du dir anhören!“ Sie legten Rufus‘ Demo auf und verließen den Raum. Die müssen ja wirklich sehr überzeugt sein von dem, was sie da auf Lager haben, dachte ich – und war dann richtiggehend erschüttert, wie gut es war.

Ihr kommt aus sehr verschiedenen Ecken. Rufus, du lässt dich von den Songs der Prä-Rock-Ära inspirieren, während du, Michael, vom Punk kommst. Das sind sehr unterschiedliche Formen.

stipe: Rufus entstammt einer Musikerfamilie, ich nicht. Als Teenager war für mich der Punk eine echte Erlösung. Wenn ich jetzt höre, dass du Songwriting für die große amerikanische Kunstform hältst, zucke ich zusammen. Das sind ziemlich große Worte!

wainwright: Das amerikanische Songwriting verkörpert doch im besten Sinne, wie Rassenunterschiede und kulturelle Grenzen überwunden werden können. Da hingen Juden mit Schwarzen ab und schrieben gemeinsam Songs. Folk entwickelte sich in den Rock hinein. Hier konnten Menschen zusammenkommen und dennoch ihre Individualität bewahren.

Michael, du hast gesagt, dass du eben nicht arbeitest wie diese Songwriter, von denen Rufus sprach, die rein auf sichere Hits aus waren.

stipe: Himmel, nein! Es wäre einfach, einen Hit-Song zu schreiben – und unglaublich langweilig. Einen Hit für R.E.M. würde ich wohl nicht mal dann erkennen, wenn er auf meinem Schoß säße. Aber es wäre einfach, einen zu schreiben. Wahrscheinlich könnten Rufus und ich uns heute Nachmittag hinsetzen und zusammen einen Smash-Hit komponieren.

… der davon handelt, interviewt zu werden?

stipe : Aber keiner von uns würde seinen Namen oder seine Stimme dafür hergeben wollen (lacht).

wainwright: Das Größte am Songwriting-Prozess ist doch die Euphorie, die darin mitspielt. Oft sitzt man da und denkt tatsächlich, dass man gerade die absolute Nummer eins schreibt. Man ist zwar tatsächlich weit davon entfernt, aber in der Hitze des Gefechts hat man dieses Gefühl. Es ist diese Wahnvorstellung, die alles vorantreibt.

Und wenn die Euphorie nachlässt, hast du dann eine Art Checklist, mit der du überprüfst, ob der Song das hat, was du erreichen wolltest?

stipe: Nun… (überlegt)… dann versuche ich, einen Refrain zu finden. wainwright: (lacht) Ich muss mir beim Text hundertprozentig sicher sein. Ich finde, Texte zu schreiben, ist wesentlich schwerer als die Musik.

stipe: Das ist die gottverdammte Wahrheit. wainwright: Und je älter ich werde, desto öfter danke ich Gott für eine gelungene Zeile, denn die sind immer schwerer zu erwischen. Als es noch Texter gab, waren die Songs besser. stipe : Es war damals einfach viel leichter, einen simplen Popsong zu schreiben, ohne dabei andere Songs zu zitieren. Das ist heute so viel, viel schwieriger, einfach, weil wir diese 60 Jahre umfassende Poptradition haben.

Michael, du hast gestern auf der Bühne erzählt, ein paar deiner alten Songs zu singen, sei eine Offenbarung für dich gewesen. Du hättest ganz vergessen, dass sich nicht immer alles reimen muss.

stipe: Mir wurde klar, dass ich über mehrere Platten hinweg richtiggehend automatisch versucht habe, Reime zu finden. Auf unserer ersten EP (chronic town, 3982, Anm. d. Red.) reimte sich gar nichts, und die Songs funktionierten trotzdem. Es war wie eine Erleuchtung: Mist, seit zehn Jahren versuche ich, Reime zu finden, dabei ist das überhaupt nicht nötig!

Ihr beide legt Worte auf die Goldwaage…

stipe: Ich lege sie nicht auf die Goldwaage. Ich versuche, nicht zu denken. Der wirkliche Job eines Songtexters ist es doch, ein guter Redakteur, ein guter Aufbereiter seines eigenen Materials zu sein. wainwright: Das klingt womöglich komplett irre, aber ich habe zwei Gefühle, wenn ich einen Song schreibe. Da ist einerseits das euphorische, aufgeblasene Ego: „Ich bin ein Genie!“ Und eine Viertelstunde später schaue ich mir das alles mal an und denke: „Heilige Scheiße, das ist ja grauenhaft!“ Wenn ich fertig bin, öffnet sich eine emotionale Schleuse, worüber ich sehr glücklich bin. Dann weine ich. Das ist für mich der Maßstab. Als Songwriter hört man am besten auf seinen Körper.

Es gibt diese mystische Vorstellung: Um einen guten Song zu schreiben, muss man nur an einen denken, der noch keinem anderen eingefallen ist. Manche Songwriter behaupten, dass die Songs bereits da sind und dass es lediglich ihr Job sei, sie zu finden …

stipe : Ich glaube eher, dass es mein Job ist, etwas zu schreiben, das dich beim Hören garantiert an nichts anderes erinnert. Rufus hat übrigens recht: Man muss seinem verdammten Unterbewusstsein vertrauen. Man sollte es die eigentliche Arbeit tun lassen.

Das klassische Thema des Popsongs – mit dem ihr euch beide schon beschäftigt habt-ist Liebe. Und Lust. Wie schwer ist es, ein originäres Liebeslied zu schreiben?

stipe: Liebe ist ein schwieriges Thema, völlig ausgelaugt. Für „At My Most Beautiful“ (vom 1998er Album up, Anm. d. Red.) – das ja nun ein echtes Liebeslied ist -, fehlten mir zunächst die Worte. Die sind alle schon eine Million Mal gesagt worden. Doch dann kam ich auf diese Zeile mit den Wimpern („At my most beautiful, I count your eyelashes secretly“), und das war der Durchbruch. Ich denke nicht, dass das vorher schon mal gesungen worden war. Gott sei Dank gibt es Internetrecherche. Wir haben jetzt einen Song namens „Accelerate“ geschrieben, und da gucke ich dann erst mal ins Netz, ob es diesen Titel schon gibt.

wainwright: Ja, genau. Ich klaue nie wirklich was. Aber manchmal muss ich ein Fenster einschlagen… (lacht) Ihr habt auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Songschreiben begonnen. Rufus, du hast damit schon als Teenager Preise gewonnen…

wainwright: Einen Preis. Und tatsächlich habe ich den auch nicht gewonnen. Ich war nominiert. Daniel Lanois hat gewonnen. stipe: Du bist gegen Daniel Lanois angetreten?

wainwright: Bei den Juno Awards. Ich war 14 Jahre alt. Es war wohl der erste Song, den ich geschrieben hatte: „I’m A Runnin'“ (Rufus verwechselt offenbar zwei Preisverleihungen: Als er 15 war, wurde „I’m A Runnin“‚als „bester Song“ für einen Genie Award nominiert. Er verlor gegen Louis Natale und Anne Wheeler. Im Jahr darauf hatte er beim kanadischen Musikpreis Juno gegenüber Daniel Lanois das Nachsehen als „Most Promising Male Vocalist“; dringender Tipp für Fans: zu Youtube gehen und den Ausschnitt aus dem kanadischen Jugendfilm „Tommy Tricker and the Stamp Traveller“ (1989) anschauen, in dem der 14-jährige Rufus den Song zum Besten gibt; Suchbegriffe: „Rufus“, „I’m A Runnin'“; Anm.d. Red).

stipe: Wow. Hasst du Daniel Lanois noch immer dafür? wainwright: Nein, ich habe ihm vergeben.

Michael, du behauptest, dass du jahrelang eigentlich gar nicht gewusst hast, was du tust…

stipe : Bei den ersten 30 Songs, die ich mit der Band geschrieben habe, hatte ich wirklich keinen Schimmer. Ich bin da reingerutscht und dachte mir nur: „Das macht Spaß. Okay. Ich soll Texte schreiben? Was bedeutet das?“ Also sang ich Sachen, ohne wirklich im eigentlichen Sinn etwas zu schreiben, bis wir dann anfingen, Platten zu machen. Da fing es dann an, kompliziert zu werden. Der erste richtige Song, den ich schrieb, war „Gardening At Night“. Er hatte eine narrative Struktur… die wahrscheinlich nicht allzu viel Sinn machte, aber sie fängt wo an und geht wo hin. Ich bekam Ratschläge von (der Athens-Band) Pylon. Wenn du nicht weißt, was du im Mittelteil machen sollst, sing irgendwas über Tiere oder such dir ein interessantes Wort aus und wiederhole es einfach mehrmals. Das klingt gut.

Hast du auch hilfreiche Ratschläge erhalten, Rufus?

wainwright: Nun, mein Lieblingszitat ist von Beethoven: „Was von Herzen kommt, geht zu Herzen.“ Das versuche ich im Hinterkopf zu behalten. stipe: Der Satz ist nicht schlecht.

Ihr habt beide schon erfolgreiche Protestsongs geschrieben. Michael, dein „Cuyahoga“, oder etwa „Mr Richards“, den ihr gestern gespielt habt. Rufus‘ „Going To A Town“ und „Gay Messiah“…

stipe: Für mich kann es ein Akt der Befreiung sein, das einfach loszuwerden. Früher war ich besorgt, ich könnte der Einzige sein, der fühlt, was ich fühle. Dann habe ich gemerkt, dass es viele gibt, denen es genauso geht. wainwright: „Going To A Town“ entstand eigentlich ganz ohne Absicht. Es kam einfach raus, innerhalb von zehn Minuten. Tatsächlich genieße ich das Leben in New York mit all seinen Vorzügen und Verwerfungen. Aber mittlerweile ist die politische Situation in so vielerlei Hinsicht so fürchterlich, dass man gar nicht anders kann, als darüber zu schreiben. stipe : Es ist ärgerlich, dass solche Dinge so viel Platz im Kopf einnehmen. Mit 22 hätte ich niemals gedacht, dass man sich mit 47 einmal damit würde beschäftigen müssen. Mit reaktionären Typen, die versuchen, uns in die Welt der fünfziger Jahre und des Kalten Krieges zurück zu zwingen. Davon handelt auch der neue Song „Mr Richards“.

Michael schreibt auch gemeinsam mit anderen Leuten. Rufus, du arbeitest meistens allein. Kannst du dir künftig mehr Kollaborationen vorstellen?

wainwright: Ich hasse Kollaborationen. Ich bin schlecht im Teilen. Allerdings möchte jetzt Burt Bacharach einen Song mit mir schreiben, und das ist völlig abgefahren. stipe: Hast du zugesagt? wainwright: Ja, das musste ich ja wohl.

Michael, du kommst aus der Post-Dylan-Ara, in der das Publikum autobiografische Songs erwartet-dabei schreibst du selten über dich selbst. Rufus hingegen ist von einer Ära inspiriert, in der Songs nicht autobiografisch waren -und er schreibt meistens über sich selbst.

stipe: Ichbm kein autobiografischer Schreiber. Manchmal nehme ich irgendein Vorkommnis und entwickle daraus dann etwas anderes. Aber keiner meiner Songs leitet sich direkt von persönlichen Erlebnissen ab. wainwright: Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Alle meine Songs handeln von irgendwelchen seltsamen Erlebnissen. stipe : Mein Leben ist eben nicht so interessant.

wainwright: Meins auch nicht. Darum versuche ich, es interessanter zu machen (lacht). Ich versuche mittlerweile, Erlebtes experimentell zu verwerten. Es muss nicht immer so persönlich sein. Auf meinem letzten Album sind die meisten Songs Gespräche mit jemand anderem. Ich schätze, dass ich mich langsam von meinem eigenen Arschloch wegbewege.

Rufus, dein Song „Tulsa“ handelt-teilweise fiktionalisiert-offenbar von deinem Treffen mit Brandon Flowers von den Killers.

wainwright: Ja, doch. „You taste of potato Chips in the morning…“

Erste Zeilen sind dir offenbar sehr wichtig…

wainwright: Michael, du hast erzählt, dass dich die erste Zeile von „Foolish Love“ beim ersten Hören sofort gepackt hat. („I don’t wanna hold you and feel so helpless /I don ‚t wanna smell you and lose my senses.“) Ich habe immer gewusst, dass ich Probleme bekommen könnte, im Radio gespielt zu werden, weil ich einen eher seltsamen Sinn für Musik habe. Darum war mir immer klar, dass es die erste Zeile eines Songs sein würde, die die Türen aufsprengen muss. Als Lenny Waronker mir von Michaels Reaktion erzählte, war das für mich eine unglaubliche Bestätigung. stipe: Für mich war das auch ein unglaublicher Moment. Ich war zu Tränen gerührt – von der eingeschlagenen Fensterscheibe. wainwright: (lacht) Danke! So, jetzt erzähle ich mal meine große Michael-Stipe-Geschichte. Ich hatte gerade die Musikschule in Montreal abgebrochen und hing in Cafes rum – Bohemiens, Drogen. Und ich verliebte mich in diesen Jungen namens Danny. „Danny Boy“ und zum Großteil „Foolish Love“ handeln von ihm. Er war großartig: ein heterosexueller Junkie aus Nova Scotia (Provinz im Osten Kanadas; Anm.). Genau das, was der Arzt verschrieben hat (lach f). Er war ein riesiger Sonic-Youth-Fan, ich vollkommen durchdrungen von Opernmusik. Aber ich versuchte, an ihn ranzukommen. Er war heroinabhängig, und wir gingen immer zusammen in einen Lebensmittelladen, um dort Eiscreme zu klauen. Ich machte immer den Lockvogel und fragte, wie teuer der Schinken ist, während er sich die Taschen mit Häagen-Dazs vollstopfte. Da waren wir also mal wieder, vermutlich ziemlich high, und wollten klauen, als auf einmal „Everybody Hurts“ im Radio kam. Genau in diesem Moment blickten wir uns an, und unsere beiden Welten waren plötzlich miteinander verbunden. Wir sagten: „Mein Gort, was für ein schöner Song.“ Und dann stahlen wir das Eis. stipe: Wenn du diese Geschichte erzählst, sehe ich als Songwriter das Neonlicht in dem Laden vor mir, dass ihr high seid, wie eure Haut aussieht… wainwright: Wir mögen unsere Songs auf verschiedene Weise schreiben, aber offenbar bewundern wir beide diese Art Szenario. stipe: Süße Junkies aus Nova Scotia? wainwright: (lacht) Yeah.

Bei der Fotosession später in einer der Hotelsuiten gehen die beiden entspannt und freundschaftlich miteinander um. Die vorsichtige Behutsamkeit ist gewichen. Sie verabreden sich für später, tauschen Handynummern aus. Jake Shears von den Scissor Sisters ist in der Stadt. Stipe schlägt vor, ihn und Wainwright einander vorzustellen. Shears kommt dazu, setzt sich aufs Sofa und beobachtet freundlich das Ende des Shootings. Stipe entdeckt ein Foto von Björk: „Sie sieht fantastisch aus.“ Wainwright wirft sich mit glamouröser Geste einen Schal um, den er sich von seinem Pressebetreuer ausgeliehen hat: „Gott sei Dank sind wir schwul. Zusammen könnten wir gerade gegen sie ankommen.“ Stipe, ganz schlicht in Hemd und Krawatte: „Du hast leicht reden.“ Was ihre Songs angeht, mögen sie sich diametral gegenüberstehen, doch sie bewundern sich gegenseitig dafür, aus der Masse herauszuragen. Sie stehen nebeneinander, Schulter an Schulter, als wären sie stolz, sich im Licht des anderen zu sonnen. Sie nehmen sich an der Hand, verschränken ihre Finger und blicken in die Kamera. Sie lächeln. >» www.remhq.com; www.rufuswainwright.com