Das muss wohl Punk sein


Politischer war Pop selten als in den 41 Sekunden, die Pussy Riot weltberühmt machten. Der Rest der Welt zog sich dann wenigstens die richtigen T-Shirts an.

Russisch-orthodoxe Gotteshäuser mit ihren zwiebeligen Goldhelmen sind, Hand aufs Herz, nicht eben als Brutstätte des nächsten „heißen Scheiß“ bekannt. Genau deshalb kennt heute jeder den Namen einer obskuren regimekritischen Clique namens Pussy Riot. Im geheiligten Altarbereich der Christ-Erlöser-Kathedrale bauten sich am 21. Februar 2012 fünf Frauen auf und riefen Sachen wie: „Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!“, „Scheiße, Scheiße, Gottesscheiße!“ oder auch: „Bei den Protesten ist die Jungfrau Maria mit uns!“ Dazu lief vom Band ein Krach, der von Experten rasch als „Punk“ identifiziert wurde.

Der Spuk dauerte nur 41 Sekunden. Es waren die politischsten 41 Sekunden, zu denen der Pop sich in diesem Jahr aufraffen konnte. Der hält sich ja zuweilen auf seine gesellschaftliche Sprengkraft viel zugute, der Pop. Was er damit meint, wenn er sich „engagiert“ gibt, ließ sich in den USA beobachten. Im Wahlkampf war jeder Kandidat von einem Schwarm musikalischer Sidekicks umschwirrt. Mitt Romney wurde von Kid Rock, Barack Obama von Bruce Springsteen unterstützt. Während Romney von den Beach Boys und The Killers schwärmte, wünschte sich Obama auf MTV politischere Musik: „You can set the world on fire in a good way.“ Weil es im HipHop diesmal nicht zur Hymnenbildung kam, sang der Präsident selbst, bei einem Empfang im Weißen Haus für B. B. King und nach Aufforderung von Mick Jagger – ein paar coole Takte aus „Sweet Home Chicago“. Pop als emotionales Argument und Affirmation. Das war’s.

Wenn schon nicht in den USA, so hätte Pop seine politischen Themen doch wenigstens in Europa finden können. Aber welche spanische Folk- oder griechische Hardcore-Band hätte den sozialen Kahlschlag auf unüberhörbare Weise angeprangert? Welcher neue Manu Chao hätte den Soundtrack für den Aufruhr geschrieben? Man weiß es nicht, und überhaupt – welcher Aufruhr? Selbst Jay-Z, der zuletzt die globale Occupy-Bewegung unterstützt hatte, fiel dieses Jahr vom Glauben ab: „Ich weiß nicht, wofür wir kämpfen.“

Zumindest das wussten hingegen die zornigen jungen Frauen von Pussy Riot ganz genau. Sie protestierten mit ihrem „Punk-Gebet“ für mehr bürgerliche Freiheit in ihrer Heimat und gegen den engen Schulterschluss von Kirche und Staat. Sie sahen dabei mit ihrer selbst gehäkelten Camouflage gut aus. Sie führten plötzlich den Punk wieder als die provokante Waffe ins Feld, die er nie war. Und sie wurden für ihre Blasphemie ins Lager geschickt. Immerhin elektrisierte der Pussy-Riot-Prozess den Westen insofern, dass sich Gestalten von Peaches über Madonna bis Lady Gaga mal wieder so richtig politisch fühlen durften. Aus sicherer Entfernung. Und in „Free Pussy Riot“-T-Shirts.