Der fröhliche Tanz am Abgrund


Die britische Musikwelt ächzt unter den erdrückenden Erfolgen der vielen Casting-Shows. Zugleich lähmen Konservative und Finanzkrise das Land. Wie soll in solchen Zeiten Pop klingen? The Ting Tings sind eine Antwort.

Die kleinen Wunder sind selten geworden. Popmusik, die aus dem Nichts kommt. Ohne Fernsehcasting und Superproduzenten. Einfach nur eine Soundidee, die zur Weltweisheit und so zum Welthit wird. Jahrzehntelang eine Königsdisziplin in Großbritannien, wo die Hitlisten oft genug auch ein Spiegelbild von Gesellschaft und Politik gewesen sind. Ein Schlagabtausch mit den herrschenden Verhältnissen, ein Abarbeiten an der Wirklichkeit – und sei es nur ein Ignorieren der Realität als bewusstes Statement. Seit einiger Zeit allerdings hat das Spiel mit dem Pop ganz offensichtlich seine Dynamik verloren. Man gräbt lieber wieder und wieder in vergangenen Stilepochen oder werkelt beflissen in der Nische.

So konnte sich vor rund fünf Jahren niemand so recht einen Reim darauf machen, als die Ting Tings vom Himmel fielen und mit der übersprudelnden Energie von „That’s Not My Name“ Madonna von Platz 1 der britischen Charts verdrängten. Für eine Weile waren sie omnipräsent: Die Mischung aus sprühendem Pop-Punk und einer dezent feministischen Message schien einfach unwiderstehlich. „They call me girl / They call me Stacey / They call me her / They call me Jane / That’s not my name.“ Es war, wie Sängerin Katie White erklärt, ihre Antwort auf den latenten Sexismus, den sie in der Branche spürte.

Zwei Millionen Exemplare sollten sie von ihrem Debütalbum We Started Nothing verkaufen, zwei Jahre lang waren sie konstant auf Achse – in Europa und Nordamerika, in Indonesien und Japan. Aus Interviews erfuhr man, dass White, inzwischen 28, im nordenglischen Wigan geboren wurde, während Drummer Jules De Martino, gut zehn Jahre älter, als Sohn eines italienischen Vaters und einer englischen Mutter in London zur Welt kam. White hatte sich erfolglos in einer kommerziellen Girl-Band versucht, während De Martino bei diversen Indie-Kapellen getrommelt hatte. Gemeinsam gründeten sie eine Formation namens Dear Eskiimo, unterschrieben bei einem Major, wurden aber wieder in die Wüste geschickt, bevor sie überhaupt mit den Aufnahmen beginnen konnten. Sie ließen sich nicht irritieren, buchten ein Kellergewölbe in den Islington-Mill-Studios im grauen Manchester-Stadtteil Salford und nahmen in Eigenregie We Started Nothing auf.

Die zweite Version der Band wurde auf den Namen The Ting Tings getauft. White beschreibt den Namen als Zufallsprodukt: Sie hatte in einem Kleiderladen in Manchester mit einer Chinesin zusammengearbeitet, die genau auf diesen Namen hörte – was in Mandarin wohl so viel wie „Hören hören“ bedeutet. „Wir hatten drei Monate zuvor unseren Plattendeal verloren, und da wir nicht damit rechneten, diesmal erfolgreich zu sein, nahmen wir einfach den erstbesten Namen.“ Sie sollten sich täuschen: Plötzlich wollte man ihre Musik hören. Und der Erfolg von „That’s Not My Name“ setzte sich fort. Die Gigs waren ausverkauft. Allerorten begeisterte man sich für ihr cooles Auftreten und die beherzte Do-It-Yourself-Attitüde. Der Nachfolgehit „Shut Up And Let Me Go“ wurde gar in einem iPod-Commercial eingesetzt. Sie verkörperten ein fleischgewordenes Stilgefühl, gaben sich gleichzeitig aber auch geheimnisvoll und distanziert: White bevorzugt grellbunte Klamotten, die sie manchmal wie einen trendigen japanischen Teenager aussehen lassen. Sie verbirgt ihr Gesicht aber hinter einer blonden Mähne, während De Martino seine Sonnenbrille in der Öffentlichkeit nie ablegt.

Sie wirken wie ein Gegengift in einer Musikkultur, die in Dutzende Indie- und Underground-Szenen zersplittert ist und die der allgegenwärtigen Gesellschaftskrise kaum etwas entgegenzusetzen hat. Nicht einmal mehr eine nihilistische Partystimmung nach dem Motto „Wir tanzen unseren Untergang“ wird zelebriert. Es ist ein seltsam energieloses Verharren oder Erstarren, bei dem offenbar niemand mehr die Lust verspürt, mit den Mitteln des Pop auf die Krise zu reagieren oder sich gegen eine Regierung in Upperclass-Nadelstreifen zu stemmen, der nichts Besseres einfällt, als halbherzig den Kurs der Tory-Ikone Margaret Thatcher nachzudrehen und die Distanz zum Rest von Europa zu vergrößern. Auch The Ting Tings haben sich keinen Protest auf die Fahnen geschrieben. Ihre Songs gehorchen keinem höheren Programm, außer vielleicht ihrem Willen, die Popmusik nicht völlig einem Fließbandsystem zu überlassen. Sie sind vor allem dem eigenen Scheitern entwachsen. Zwei Menschen aus dem Maschinenraum des Alltags, die sich mit ihren Frustrationen nicht in eine spirituelle Innerlichkeit zurückziehen wollen. Die verbissene Abgrenzungslogik der Subkulturen ist nicht ihre Sache. Stattdessen testen sie aus, was das wahre Leben ihnen noch zu bieten hat.

Was ihnen natürlich den Vorwurf der flüchtigen Erscheinung eingebracht hat. Klar wirken ihre Songs frisch, aber haben sie auch Substanz, lauteten die üblichen Fragen der Bedenkenträger. Als die Band Ende 2009 von der Bildfläche verschwand, stellte sich die vage Ahnung ein, dass man nie wieder etwas von ihnen hören würde. Stattdessen erscheint jetzt das Album Sounds From Nowheresville. Lieder aus dem Nichts. Wo man sich einst auf Liverpool, Manchester oder Brixton bezogen hatte, bleiben heute nur noch leere Un-Orte. Eine Zustandsbeschreibung der britischen Inspirationswüste, die zu einer eklektischen Mischung aus musikalischer Aufmüpfigkeit und Riot-Grrrl-Attitüde, aus R&B und großem Pop geraten ist.

Und hier sitzen sie nun auf dem Sofa, in einem dunklen Zimmer ihrer Londoner Plattenfirma, sehen ein bisschen älter aus und klingen auch ein wenig weiser. White trägt goldene Schuhe, eine durchsichtige Strumpfhose, einen denkbar knappen Rock, ein knallbuntes T-Shirt und ein braunes Seidentop. De Martino hat inzwischen seine Haare blond gefärbt und sich einen Bart sprießen lassen. Die Sonnenbrille darf natürlich nicht fehlen. Mit seinen Turnschuhen, Jeans und einem braunen Pullover ist er definitiv der konservativere Teil des Duos.

Beide sind freundlich, haben aber so etwas wie ein unsichtbares Kraftfeld um sich aufgebaut – als wollten sie es dem Rest der Welt nicht so einfach machen. Was sie aber nicht davon abhält, mit sichtlichem Stolz über Sounds From Nowheresville zu sprechen.

Deutet der Titel, beginne ich das Gespräch, auf ein Konzept-Album hin? Beide lachen. „Es gab definitiv das Konzept, das Album wie eine Playlist anzulegen“, sagt White. Und De Martino, der im Lauf des Gesprächs den größeren Teil der Antworten beisteuert, ergänzt: „Wir wollten eine Platte machen, die unsere Hörgewohnheiten widerspiegelt – und die orientieren sich inzwischen tatsächlich an Playlists, die einer ständigen Fluktuation unterworfen sind. Meine ganzen Vinyl-Platten habe ich irgendwo eingelagert – und ich kann mich schon nicht mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal eine rausgefischt habe. Wir hören Musik inzwischen in den unterschiedlichsten digitalen Formaten – und springen dabei wild von einem Musiker zum nächsten.“ Und White: „Wir wollten ein Album machen, das die Musik reflektiert, die wir hören: Malcolm McLaren, die Beastie Boys, AC/DC, The XX, Nancy Sinatra.“

Klingt einfach, erwies sich in der Realität aber dann noch als schwere Geburt. Nach Ende ihrer endlosen Welt-Tournee (die White so zugesetzt hatte, dass sie mit Erschöpfungssymptomen ins Krankenhaus musste, während De Martino mit seinen Augen zu kämpfen hatte – er trägt die Brille also nicht als modisches Accessoire, sondern hat „Pupillen, die sich nicht normal verengen und weiten“, so White), waren sie im Januar 2010 nach Berlin gezogen, wo sie in einem früheren Jazz-Club in der Frankfurter Allee ihr Lager aufschlugen. Es war, geben sie offen zu, so etwas wie der Versuch, die britischen Verhältnisse, festgemacht am Studiostandort Islington Mill – gegen eine fremde Stadt auszutauschen. Flucht aus den britischen Verhältnissen, das bedeutete auch ohne die Unterstützung der üblichen Musikerfreunde auszukommen. Sie hatten sich entschieden, das Album selbst zu produzieren und saßen mutterseelenallein in einem fremden Studio – nur ein Toningenieur war anwesend – und quälten sich mit Songs ab, die ihnen selbst nicht gefielen.

Panik machte sich breit. Plötzlich spürten sie den Druck, den Erfolg des Debüts wiederholen zu müssen. „Wenn man zwei Millionen Alben verkauft, erwarten die Leute natürlich, dass das zweite auch ein Selbstläufer ist“, so De Martino. „We Started Nothing war das Resultat einer organischen Entwicklung: Es ging um unser Leben in Manchester, um leere Partys und Besäufnisse, aber auch um die Frustration, von unserem ersten Label gefeuert worden zu sein. Dummerweise konnten wir nicht noch einmal eine Situation kreieren, über die wir spontan hätten schreiben können. Und wir hassen es, Musik am Fließband zu produzieren. Dann verzichten wir lieber ganz darauf, Musiker zu sein. Alles, was wir machen, muss einen Funken von Spontanität haben.“

Sie ergaben sich in ihr Schicksal und produzierten in Berlin etwa ein Dutzend Tracks. Mitarbeiter der Plattenfirma schauten vorbei und fingen an, über mögliche Hits und Radio-Einsätze zu diskutieren. White und De Martino wurden zunehmend deprimierter. „Die sechs Nummern, auf die sich die Plattenfirma eingeschossen hatte, waren genau die sechs Nummern, die wir am meisten hassten“, so De Martino. „Also drückten wir auf den Knopf und löschten sie alle.“

Kam das nicht einer Kriegserklärung gleich? Bei ihrem Label Sony Music wusste man sehr wohl, dass die Ting Tings Eigenbrötler sind, aber war es nicht Selbstmord, sechs fertige, kommerziell vielversprechende Tracks einfach zu löschen? Beide lachen. „Wir saßen im Studio und haben eine Stunde lang darüber gesprochen“, sagt White. „Und wir kamen zur Überzeugung, dass diese sechs Songs einfach nicht zu uns passten. Also löschten wir sie. Es war ein Akt der Befreiung – und ich bin noch immer froh, das wir uns so entschieden haben.“

Mit dem Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein, versuchten sie, „sich für Berlin zu öffnen“. Sie gingen in Ausstellungen und Clubs und lernten Leute kennen. Aber so sehr ihnen auch die Stadt ans Herz wuchs: Wann immer sie in diesem eiskalten Winter wieder ins Studio gingen, wollten sich die gewünschten Geistesblitze partout nicht einstellen. „Berlin ist eine fantastische Stadt“, so De Martino, „aber wir konnten dort einfach nicht kreativ sein. Also nahmen wir die vier Songs, die wir noch immer liebten, und flogen nach Süd-Spanien. Und sofort fiel der Druck von uns ab. Wie ließen tagsüber die Tür auf und liefen nur noch in Badelatschen herum. Wir entspannten uns einfach.“

Der entscheidende Schritt, sagen sie, wurde allerdings erst Ende 2010 in New York gemacht. Sie hatten einen Gig in Las Vegas gespielt, wo sie einige der neuen Songs vorgestellt hatten, und waren dann nach New York geflogen, um sich mit Rob Stringer, dem Chef von Sony Music, zu treffen. Stringer, ein zuvorkommender Zeitgenosse, der sich nicht nur für Profitmargen, sondern tatsächlich auch für Musik interessiert, hörte zwei Roh-Versionen auf einem Ghettoblaster und riet ihnen umgehend, einfach ihr Ding durchzuziehen. „Er sagte uns, dass wir uns nicht den Kopf über Hits zerbrechen sollten“, erzählt De Martino. „Wir sollten lieber ein Album machen, das wir wirklich lieben. Er drückte uns Paul’s Boutique, das zweite Beastie-Boys-Album, in die Hand und erinnerte daran, dass das Album kurz nach Veröffentlichung vom Markt genommen wurde, inzwischen aber allseits gefeiert wird.“

Der Rat fiel auf fruchtbaren Boden. Songs From Nowheresville mäandert leichtfüßig von Patti-Smith-ähnlichem Sprechgesang („Guggenheim“) zu dem TLC-gefärbten „Day T Day“ oder der wundervollen Melancholie von „In Your Life“, das die Band als Hommage an Nancy Sinatra versteht. Man hört Echos der Shangri-Las, der Chemical Brothers, des Tom Tom Clubs. Das Album präsentiert die Ting Tings als eine Band, die nicht nur modischen Pop aus dem Ärmel schütteln kann, sondern die kreative Substanz hat, um den Back-Katalog ihrer Favoriten zu plündern – und das Resultat in einen völlig neuen Aggregatzustand zu transformieren.

Ebenso wichtig: Sie haben sich nicht auf einen einzigen Sound reduziert – wie etwa eine Adele mit ihrem herzerweichenden Soul oder Snow Patrol mit ihrem entrückten Pop oder Mumford and Sons mit ihrem liebenswerten Folk -, sondern sich gleich mehrere Genres angeeignet. White weist darauf hin, dass es ihre Stimme sei, die der Band ihre Grenzen aufzeigen.

„Ich bin keine singende Diva, ich kann nicht wie Adele singen. Also mache ich das, was ich kann.“ Aber sie sagt auch, dass es genau dieses vermeintliche Manko ist, was die Ting Tings auszeichnet.

Als sich De Martino zur Toilette verdrückt (und nicht wieder zurückkommt. Als ich ihn beim Rausgehen treffe, sagt er, White habe das gleiche Spiel mit ihm beim letzten Interview getrieben – dies sei seine Rache), frage ich White, wie sie miteinander klarkommen. „Wir arbeiten miteinander, weil wir völlige Gegensätze sind. Jules ist ein Kontrollfreak, ich bin das Chaos auf zwei Beinen. Ich ziehe eine Spur der Verwüstung hinter mir her. Wenn wir beide so wären wie Jules, hätten wir für das Album 20 Jahre gebraucht; wenn wir beide so wären wie ich, wäre das Album nie abgeschlossen worden.“

White nimmt sich eine Tüte Kartoffelchips vom Tisch und reißt sie auf. „Wir beide lieben Pop, doch wenn wir dann einen Song schreiben, finden wir ihn viel zu poppig und mischen ihn erstmal gehörig auf. Je unperfekter ein Song klingt, desto wohler fühlen wir uns.“ Sie knabbert an einem Chip. „Was vermutlich damit zu tun hat, dass wir die Popstar-Nummer eh nicht glaubwürdig durchziehen könnten. Wir würden als Popstars ganz alt aussehen.“ Sie lässt ihre blonden Haare vors Gesicht fallen, überschlägt ihre langen Beine und sitzt auf dem Sofa wie … ein perfekter Popstar.

Konzertkritik S. 98

The Ting Tings

Jules De Martino und Katie White arbeiten bereits seit 2001 zusammen. Singer/Songwriter Martino wurde damals von Whites Vater angeheuert, Stücke für die kurzlebige Pop-Punk-Band seiner Tochter, TKO (Technical Knock Out), zu schreiben. Whites Vater managte die Band selbst, nachdem er wiederum von seinem Vater, einem Lotteriegewinner, eine Million Pfund geschenkt bekommen und eine Musikmanagementfirma gegründet hatte. Die Band zerbrach nach erfolgloser Suche nach einem Plattenvertrag. Doch De Martino und White hatten Gefallen aneinander gefunden und gründeten zusammen mit Simon Templeman das stark von Portishead beeinflusste Trio Dear Eskiimo. Nach Zerwürfnissen mit Management und Plattenfirma trennte sich die Band, um im Dezember 2007 als Duo The Ting Tings wieder zusammenzukommen. Es folgten der Jahrzehnthit „That’s Not My Name“ und das Nummer-eins-Debütalbum We Started Nothing. Nach vier Jahren Arbeit und einem komplett verworfenen Album erscheint jetzt der Nachfolger, Sounds From Nowheresville.