Der Osten ist tot


Zwei Jahre immerhin hat er sich nicht sehen lassen in der Heldenstadt Leipzig, der Hannoveraner Sänger und Texter Heinz Rudolf Kunze. Der Einheitsschock, sagt er, er saß tief beim bekennenden linken Sozialdemokraten, der noch wenige Wochen vor der Wende bei der vom DDR-Einheits-Jugendverband FDJ organisierten „Rockpoetentour“ in eben jenem Leipzig den „Höhepunkt meiner Karriere“ (Kunze) erlebte.

80.000 kamen damals zur Festwiese am Zentralstadion. Und das nicht wegen der Rolling Stones oder den Dire Straits, sondern allein seinetwegen. „Unvergeßlich“ sei das gewesen, schwärmt Kunze heule noch.

Natürlich, denn die fetten Zeiten, als die West-Rocker im Osten abräumten, die Kassen klingelten wie sonst nur im Weihnachtsgeschäft und jeder Auftritt automatisch als Triumphzug endete, sind vorbei. Wie alle seine Kollegen backt auch der in der DDR so erfolgsverwöhnte Kunze heute kleinere Brötchen in kleineren Hallen. Die Eroberung der ostdeutschen Bühnen beginnt von vorn.

Denn wo der Kartenverkauf früher ohne jede Werbung nur durch Mundpropaganda lief und die auch in Rock „n“ Roll-Angelegenheiten allgegenwärtige Freie Deutsche Staats-Jugend höchstens Probleme hatte, genügend große Freiflächen für ihre rockmusikalischen Riesenveranstaltungen zu finden, dümpelt das Geschäft im Jahr zwei der gesamtdeutsch freien Rockerei nunmehr nur noch traurig vor sich hin. Mangels Kartennachfrage fallen Konzerte häufiger aus, als sie stattfinden.

ganze großangelegte Tourneen platzen oder schrumpfen zu mageren One-Night-Stands in der keuchenden Enge winziger Clubs.

Selbst BAP – einst von SED-Politbüro zum musikalischen Staatsfeind Nummer 1 erklärt und dafür vom Fanvolk hinter der Mauer geliebt wie keine zweite deutsche Kapelle — konnte beim einzigen Open-Air trotz gewaltigem Werbeaufwand kaum 15.000 Getreue auf eben jene Leipziger Festwiese locken.

Andere aber traf es noch härter. Wolf Maahn zum Beispiel, am 1. September 1989 in Dresden noch von 60.000 aus allen Ecken der DDR angereisten Fans gefeiert, muß sich heute ebenso wie Phillip Boa mit Auftritten in Vorstadtclubs bescheiden. Karten an der Abendkasse. Dieter Bohlen setzte für einen Open-Air-Gig, zu dem „mindestens zehntausend“ Leute erwartet wurden, in zwölf Wochen Vorverkauf gerade 74 Karten ab. Und „Brille“ Heinz Rudolf Kunze bucht in den neuen Ländern weitsichtigerweise gleich nicht mehr das Stadion (wie zuvor noch in jedem Jahr seit 1987), sondern den zehnmal kleineren Disco-Tempel nebenan.

Die alten Helden sind in den neuen Ländern nicht mehr gefragt. Früher als eine Art Stellvertreter auserkoren, den alten senilen Greisen da oben mal so richtig die Meinung zu geigen, haben die Rockstars ihre Rebellenfunktion heute auch in Ostdeutschland verloren. Was nützt da das nun richtig professionelle Management? Was nützen Tausende an die bröckeligen Fassaden der Innenstädte gepinnte bunte Plakate und

hektisch ausgetüftelte Eintrittskarten-Gewinnspiele? Das Geschäft läuft einfach nicht mehr, seit auf den Bühnen zwischen Rostock und Suhl alles erlaubt ist und kein Herrschender es mehr für nötig hält, Rocksängem besonders bissige Bemerkungen übelzunehmen. Ja. einst, als sie dem „Boss“ Bruce wegen einer Bemerkung zur Mauer noch vor einer Viertelmillion Fans drastisch den Ton abdrehten! Als BAP zensiert, Kunze im Radio beschnitten, Lindenberg ein- und dann vorsichtshalber gleich wieder ausgeladen wurde!

Das waren noch Zeiten!

Aber der Boss ist weg. die Fans haben sich längst verlaufen. Nicht mal um die freigiebig verteilten Freikarten für Grönemeyer und BAP wollen sich die Massen jetzt noch schlagen. Geschweige denn, daß sie gar Geld dafür ausgeben wollen. So gähnen Simple Minds und Tina Turner, den Cure und Bob Geldof in Leipzig, Schwerin und Erfurt große, halbleere Freiflächen entgegen.

Dabei: Konzertmüde können die Ossis einfach nicht sein. Im Vergleich zum Westteil Deutschlands ¿

nämlich ist das Angebot an Rockkonzerten in der Ex-DDR auch heute noch ausgesprochen mies. Viele der internationalen Branchengrößen nehmen den erweiterten Auftrittsmarkt schlicht und einfach nicht zur Kenntnis. Ob Bee Gees, Paul Simon oder Sting — sie alle gastieren lieber dreimal in München, Frankfurt oder Dortmund, als einmal nach Dresden, Chemnitz oder Halle zu kommen.

Zwar würde nun nicht mehr die früher so lästige Ostmark das Konzertieren im Osten verhindern. Doch mit ihrem Verschwinden verabschiedete sich auch der exotische Reiz deutsch-demokratischer Tristesse. Und dieser Reiz war es, der vor allem die „progressiven“ unter den internationalen Popstars in den finalen Jahren der DDR gleich im Halbdutzend in die Provinzen hinter dem eisernen Vorhang lockte.

Geblieben von der Exotik der nach diversen Klassenkämpfen benannten Hallen sind nur die hundsmiserable Infrastruktur, die baufälligen und viel zu kleinen Säle, die von „extrem“ bis „saumäßig“ variierenden Backstage-Bedingungen und die unerfahrenen örtlichen Veranstalter, die zumeist identisch sind mit den früheren FDJ-Rockbüromachern.

Dazu Bombendrohungen und Überfälle durch kahlgeschorene Fascho-Gangs, deren spezielles Interesse vor allen Bands wie den Goldenen Zitronen, den Straßenjungs, den Toten Hosen oder Normahl gilt. Also halten sich die Stars zurück, bedienen sie lieber den Westen wie üblich. Da weiß man wenigstens, was man hat.

Die Wachstumsraten der Musikindustrie gerade in den neuen Ländern sprechen ja außerdem für sich: Bei Platten, Cassetten, CDs und Videos muß man die Ossis nämlich gar nicht erst lange bitten. Da wird zugegriffen, ohne auf die Mark zu schauen. Allein im ersten halben Jahr nach der Währungsunion orderten die armen Ossis rhythmische Geräusche im Wert von weit über 350 Millionen Mark — so groß ist die Nachfrage, daß die wenigen, schlechtausgestatteten Plattenhändler kaum noch mit dem Bestellen nachkommen.

In die zugigen Konzertsäle der FNL verirren sich dagegen fast nur noch falsche Heilige wie der Punkpriester Justin Sullivan oder unverbesserliche Freiheitskämpfer wie Billy“.der Rote“ Bragg.

Ja, und natürlich die deutschen Oberrocker, die das Missionieren in den fünf neuen Ländern wohl auch als eine Art nationale Aufgabe betrachten und deshalb ausnahmsweise mal nicht so aufs schnelle Geld sehen. Niedecken, Lindi. Gröni, Maffay und Kunze, ja sogar PDS-Mitglied Rio Reiser, sie sind eben doch irgendwie allesamt ein klein bissei Überzeugungstäter, ein bissei die Einheizer für die Einheit.

Trotzdem bleibt die West-Rockmusik, die gerade in der früheren DDR immer eine durch und durch politische Ersatzhandlung war, dort vorerst vollkommen out. Einzig monströse „Volksmusikanten“ wie die Wildecker Herzbuben werden vom Publikum mit offenen Armen und vollen Hallen empfangen. Die Helden von damals aber rocken in halbvollen Hallen und müssen sich dazu teilweise gar noch ihr einst heftig bejubeltes „Kollaborieren“ mit FDJ und SED vorwerfen lassen.

Die Fans indes, die damals noch keine FDJ-Versammlung ausließen und notfalls sogar bereit waren, sich für ein paar Maffay-Konzertkarten tagelang auf der berüchtigten „Messe der Meister von Morgen“ zum Max zu machen, strömen heute anderswohin. Zum Beispiel zu „Keimzeit“, einer Band aus dem lauschigen Örtchen Beizig bei Berlin. Wenn die irgendwo zwischen Rostock und Suhl auftaucht, ist alles zu spät. Vor den Hallen ballen sich die Massen, Veranstalter reiben sich die Augen und anschließend zufrieden die Hände — und schon ein paar hundert Meter vorm Eingang betteln dich die ersten um überzählige Eintrittskarten an. Keimzeit, die zu Zeiten der alten DDR so recht zu keiner Szene gehören wollten — auch nicht zu der der sogenannten „anderen“ Bands —, trotzdem aber natürlich nie eine Platte machen durften, sind seit nun schon drei Jahren die unumstrittene Nummer l im Ost-Rock. Puhdys, Silly, City und was es da noch gab an DDR-Rock — alles vergessen. Im Schatten der Wende wurde aus dem ewigen Geheimtip der Abräumer schlechthin. Bei Keimzeit, die eine Art Musik irgendwo zwischen Dire Straits, Dixie und bleiernem Blues machen, meint der heimatlos gewordene DDR-Jugendliche etwas von seinem Lebensgefühl, etwas von seiner Verlorenheit wiederzufinden: „Akkord ohne Grundton“, heißt es bei Keimzeit, „Flugzeug ohne Räder“.

Und das klingt wie der Soundtrack zu dem, was viele junge Ostler im Augenblick erleben. Da bekommt auch der gute alte Rock „n“ Roll plötzlich wieder eine Funktion neben dem reinen Unterhaltungswert. Wenn ihn dann auch noch Antistars wie Keimzeit darbieten, vier, fünf Stunden lang, in Leinenturnschuhen für fünfachtzig und schmuddeligen Karohemden aus dem Ausverkauf, dazu dasselbe Bier aus denselben Bechern saufend und anschließend wieder ausschwitzend wie die im Saal, dann wird der Unterschied zwischen Ostund West-Rock deutlich.

Und für Deutschland, nur mal rein konzerttechnisch gesehen, gilt deshalb bis auf Widerruf: Geduld ist die Mutter der Einheit.