Leonard Cohen

Der Prophet, der seine Vorahnungen noch erleben durfte – im Bösen wie im Guten


Leonard Cohen floh aus der Welt, stürzte sich mitten hinein, suchte den Rausch und fand seinen Gott. Wie aus einem jungen Dichter ein Mann der Frauen wurde, des Wortes, der Spiritualität – und auf seine letzten Tage einer der wenigen Säulenheiligen des Songwritertums überhaupt.

Wir sind im Nahen Osten, es ist Nacht, und durch die Wüste ostwärts prescht ein alter Ford Falcon. Darin vier Musiker, hin und wieder besorgt den sternenklaren Himmel nach Spuren feindlicher Flugzeuge oder Raketen absuchend.

Es ist Oktober 1973, und gerade versucht die arabische Welt, Israel von der Landkarte zu radieren. Im Norden überrannten syrische Einheiten mit Hubschrauberunterstützung die Golanhöhen, im Süden überquerten ägyptische Panzer auf Pontons den Suezkanal und drangen auf die Halbinsel Sinai vor, flankiert von Raketen, 1 650 Geschützen und 220 Kampfflugzeugen. Die Invasoren hatten ihren Überfall absichtlich auf den 6. Oktober gelegt, während Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Zwar trifft der Angriff Israel unvorbereitet. Aber schon 24 Stunden nach Kriegsbeginn stehen erste Reservedivisionen an der Front – die Leute waren alle zu Hause anzutreffen, die Straßen für Konvois alle frei.

Die Luftschutzsirenen heulten, als der Sänger Oshik Levi in einem Künstlercafé in Tel Aviv unversehens Leonard Cohen begegnet. Zu diesem Zeitpunkt, 1973, ist Leonard Cohen im Zenit seiner Laufbahn. Er hat sein Haus auf der ägäischen Insel Hydra zurückgelassen, um über Athen nach Tel Aviv zu reisen und als Jude den Juden zu helfen. Levi kann nicht glauben, dass dort der Sänger sitzt, ganz allein und schmal, der erst im vergangenen Jahr triumphale Konzerte in Jerusalem gegeben hat.

Er fasst sich ein Herz und spricht den berühmten Kollegen an. Er, Levi, stelle gerade eine Band zur Truppenbetreuung zusammen. „Ach, meine Lieder sind so traurig“, gibt Cohen zu bedenken. Levi winkt ab, und noch am gleichen Abend fährt die ambulante Eingreiftruppe in Levis altem Ford hinaus auf eine Luftwaffenbasis in der Wüste, um für die Soldaten zu singen.

Für drei Wochen, die komplette Dauer des Krieges, gibt Cohen täglich bis zu acht Konzerte. Nie wissen die Musiker vorher, wohin sie verfrachtet werden. Einmal spielen sie morgens für eine Einheit von Fallschirmjägern auf dem Weg nach Suez und abends in einem Lazarett für deren verwundete Heimkehrer. Ein anderes Mal treten sie für acht Soldaten auf, die in einem dunklen Loch eine Haubitze bedienen. Mitten im Song, erinnert sich Levi, unterbricht der Offizier, „eine Sekunde bitte“, hebt den Lauf der Kanone, lädt, feuert, und die Musiker singen weiter. Ein Foto zeigt Cohen singend neben dem damaligen General und späteren Premierminister Ariel Scharon.

Es ist die seltsamste – und unbekannteste – Tournee in der Karriere von Leonard Cohen. Während John Lennon sich in „Imagine“ vorstellt, da wäre „nothing to kill or die for“, springt Cohen mitten hinein in den Krieg – und bringt zwei seiner tiefgründigsten Songs mit. Der Inhalt von „Who By Fire“ entspricht einem alten hebräischen Gebet, „Lover, Lover, Lover“ nimmt einen noch deutlicheren Bezug zum Krieg: „And may the spirit of this song, may it rise up, pure and free. May it be a shield for all of you, a shield against the enemy“. Er habe, erklärte Cohen später, das Lied in einer Feuerpause geschrieben – für Soldaten beider Seiten.

Mit Cohens zweifelhaftem Langzeitruf als Weichspülbarde für teelichtbeleuchtete Studentenbuden lässt sich diese Episode kaum zur Deckung bringen. Er ist nicht nur der einzige Songwriter, der es in lyrischer und musikalischer Hinsicht mit Bob Dylan und Paul Simon aufnehmen kann – sein Leben bietet mehr Stoff für Legenden als die seiner beiden Kollegen zusammen. Er zieht in den Krieg, während alle anderen um Frieden winseln. Und er kommt immer, immer zur Unzeit. Er ist zu jung, um Beat-Poet zu sein und zu alt für einen Hippie. Er zieht nach Nashville, bevor Country sein Revival erlebt. In den Achtzigern, als alles bunt wird, bleibt er schwarz – und wird lustig in den ernsten Neunzigern. Als alle alten Recken zurückkehren, bleibt er verschwunden. Und erlebt spät erst seinen vierten oder fünften Frühling.

Geboren wird Leonard Cohen im Juli 1934 im kanadischen Montreal, kurz nachdem seine Eltern aus Litauen emigriert sind. Der Vater, Nathan, ist Inhaber eines großen Bekleidungsgeschäftes, seine Mutter Masha die Tochter eines einflussreichen Talmud-Interpreten und Rabbis. Cohen wächst sehr behütet auf, ein kleiner Prinz. Sein Vater stirbt, als der Junge gerade neun Jahre alt ist. Wenige Tage nach der Beisetzung begräbt der Sohn ein paar Krawatten des Vaters – zusammen mit einem Gedicht: „Ich weiß nicht, warum ich das getan habe“, wird Cohen seine erste Hinwendung zur Poesie später relativieren. Wichtiger vielleicht ist das väterliche Erbe, das Leonard Cohen schon früh davon entbindet, für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen. Klavier und Klarinette lernt er, ein vagabundierender Straßenmusiker aus Spanien bringt ihm die wenigen Akkorde auf der Akustischen bei, die er jemals beherrschen wird.

Neben dem Dandytum kommt auch die Erotik schon früh zum Zug. Mit 13 Jahren bekommt der Junge ein Buch über Hypnose geschenkt und schafft es, mit den angelesenen Kenntnissen eine Dienerin des Hauses dazu zu bewegen, sich nackt auszuziehen. Für den Pubertierenden eine erste „sneak preview“, welche Rolle das Wort beim Anbändeln mit dem anderen Geschlecht spielen kann.

Richtig ernst wird es drei Jahre später, da fällt Leonard Cohen ein Gedichtband des 1936 von Faschisten erschossenen Poeten Federico García Lorca in die Hände. Lorca, der noch heute als bester spanischer Dichter des Jahrhunderts gilt, pflegte eine einfache, aber sehr symbolische und metaphernsatte Sprache – und die Entscheidung, selbst Dichter werden zu wollen, ist gefallen.

Noch Jahrzehnte später wird Cohen 150 Stunden darauf verwenden, Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienes“ in seinen Song „Take This Waltz (After Lorca)“ zu übersetzen. Er wird seine Tochter Lorca nennen. Und er wird sich niemals einer anderen Sprache bedienen als der von Federico García Lorca. Oder, wie er es selbst sagte: „Als junger Mann suchte ich eine Stimme und studierte die englischen Dichter, Byron, Yeats. Aber erst mit Lorca fand ich diese Stimme. Ich habe sie nicht kopiert, das würde ich nicht wagen. Aber er gab mir die Erlaubnis, eine eigene Stimme zu finden, und das bedeutet: ein eigenes Selbst.“ Und die besteht für Cohen darin, die Unwägbarkeiten des Lebens und Sterbens „mit Würde und Schönheit“ einzukleiden.