Die 40 besten Platten des Deutschrap – Teil 1


Von Migranten-Rap über Stuttgarter und Hamburger Schule hin zu den wahren Gangstern aus Berlin und hinüber zu den jungen Wilden, zum Pop-Rap, Cloud-Rap, Phantasten-Rap von heute. Diese Liste sollte man schnell wegknuspern, denn in sechs Monaten kann das schon wieder ganz anders aussehen!

Die folgende Liste ist chronologisch sortiert und zuerst im Deutschrap-Special der November-Ausgabe des Musikexpress erschienen. Inklusive Deutschrap-Quartett! Darin verraten wir Euch die 30 weiteren besten Deutschrap-Platten. Nach und nach aber auch online:

Rödelheim Hartreim Projekt

Direkt aus Rödelheim (1994)

1_rodelheim-hartreim-projektIm Jahr zwei nach „Die da!?!“ von Die Fantastischen Vier machten ein paar hundert Kilometer weiter nördlich im Bundesland Hessen Thomas H. und Moses P. als Rödelheim Hartreim Projekt unmissverständlich klar, dass deutscher Rap mehr als nur poppige Possen über Polyamorie sein sollte. Von Frankfurt am Main aus brachte das Duo brachialen Battlerap, der in seiner Tonalität und sprachlichen Varianz (schon 20 Jahre vor Haftbefehl findet sich hier multilingualer Straßenslang a la Chabo) einzigartig war. Flapsig-stumpfe Raps auf der einen, wurde auf der anderen Seite durch Moses Pelhams Vorliebe für echte und warme Instrumentierung schon damals der Grundstein für den bis heute typischen 3P-Sound gelegt. (Jan Wehn)

Fischmob

Männer können seine Gefühle nicht zeigen (1995)

2_-fischmobNur auf den ersten flüchtigen Blick konnte man Fischmob nach ihrer Beteiligung an Fettes Brot´ „Nordisch By Nature“ als weitere Hamburger Fun-Rap-Formation missverstehen. Hinter „Bonanzarad“-Eskapaden mit Wandergitarre, Wum-und-Wendelin-Fahrstuhljazz und hashtagtauglichen Slogans (#fickmeingehirn) eröffnet das Quartett überraschend roughe Einblicke in die Welt derer, die nichts mehr zu verlieren haben – oder das zumindest eine Nacht lang glauben. Prolls, Alkis und Kiezkneipen-Dudes bekommen ebenso eine Stimme wie der Vergewaltiger und sein Opfer im bedrückenden „4′ 55““ und der Bahnhof-Obdachlose in „Du nennst mich Penner“. Reflektierter als viele Zeitgenossen pendeln DJ Koze (ja, der!), Cosmic DJ, Der schreckliche Sven und DJ Stachy zwischen Satire, Zynismus und dreistem Kalauer, erinnern im Rückblick an die Zeit, als Crossover noch kein ganz schmutziges Wort war und begründen nebenbei deutschen TripHop. (Ralf Theil)

Die Fantastischen Vier

Lauschgift
 (1995)

3_fanta4Die Worte „Die Fantastischen Vier“ und „HipHop“ in einem Satz zu nennen, fällt im Jahr 2016 echt nicht mehr so leicht. Andere Assoziationen kommen da viel schneller. Dass Fanta 4 auch 30 Jahre nach Gründung noch so eine Art Sprechgesang betreiben, ändert daran wenig. 1995 war LAUSCHGIFT aber tatsächlich sowas von HipHop! Das Album war eine Antwort auf den Charterfolg von VIER GEWINNT mit dem Witzsong „Die Da!?!“ und die Kommerzvorwürfe der damaligen Rapszene. Und die saß: Fanta 4 brachten hier vieles zusammen, was auch die großen Genre-Werke der kommenden Jahre prägen sollte: Hits („Sie ist weg“, „Populär“, „Was geht“), ironischen Beef (der Diss gegen Moses P.), Ernsthaftigkeit, Albernheiten und Abriss. (Ayke Süthoff)

Advanced Chemistry


Advanced Chemistry (
1995
)

4_advanced-chemistryAls Advanced Chemistry endlich auf Albumlänge debütierten, waren Torch, Toni L und Linguist schon fast aus der Zeit gefallen. Die Szene nach ihnen emanzipierte und veränderte sich hochbeschleunigt. Der Longplayer war vor allem eine Sammlung von bekanntem Material der Jahre 1992 bis 1994, dazu kamen nur noch eine Handvoll unveröffentlichter Tracks der Gruppe, die sich zudem gerade auflöste. Aber gerade in dieser geballten Form mit Migrationshintergrund-Politrap, poetischen Battle-Blaupausen und epochentypisch dogmatischer HipHop-Standortbestimmung bleibt ADVANCED CHEMISTRY ein unerlässliches Zeitdokument. Hiermit wurde der Schlussstrich gezogen unter die Gründerzeit des Deutschrap. (Ralf Theil)

Massive Töne

Kopfnicker (1996)

5_massive-toneEines der ersten deutschsprachigen Rap-Alben, das man sich als US-sozialisierter HipHop-Fan tatsächlich anhören mochte. Keine veralteten 110-BPM-Britcore-Beats, kein Aggro-Denglisch, keine verkrampfte politische Agitation mit Holterdipolter-Flows. Stattdessen produzierte Wasi minimalistisch-reduzierte New-York-Beats nach dem Stand der Kunst im Jahr 1996. Ju und Schowi rappten flüssige, glaubwürdige Hymnen an den Untergrund („Kopfnicker“), die Heimat („Mutterstadt“ mit Afrob und Max Herre) und die Crew („Schoß der Kolchose“ mit allen, die damals im Stuttgarter Jugendhaus Mitte ein- und ausgingen). Aus heutiger Sicht mag das furchtbar unspektakulär klingen, für Deutschrap war es eine kleine Erleuchtung. (Stephan Szillus)

Kinderzimmer Productions

Im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit (1996)

6_kinderzimmer-productionsDer Mythos behauptet, dass diese Platte aus Ulm mit Absicht nicht radiokompatibel gemischt worden sei. Ist natürlich Unsinn, der teils erratische Entwurf von Sprechgesang, zwischen Kontrabass, Kalauer und Kant, hatte per se keine Chance auf Airplay. Dafür aber Dauermietrecht für bundesdeutsche Studenten-WGs, Indie-Diskos und Mixtapes von Menschen, die Rap doch eigentlich doof fanden. Rap war für Sascha Klammt (Quasimodo) und Henrik von Holtum (Textor) sowieso nur Zweckmittel, um dem eigenen Wahn Sinn zu geben. Dass sie dadurch Deutschrap ganz neue, ungeahnt freigeistige Möglichkeiten aufzeigten, ist ihnen gar nicht hoch genug anzurechen. Proseminaristen-Swag hin oder her. (Daniel Köhler)

Stieber Twins

Fenster zum Hof (1997)

7_stieber-twinsSeit Mitte der 80er galt die einfache Faustregel: „Egal, wie real du bist, die Stiebers sind realer!“ Sie gehören zur ersten Generation deutschsprachiger MCs, die drei Elemente Rap/Breaken/Graffiti stecken in ihrer DNS. Im Unterhemd an Mamas Esstisch sahen sie cooler aus als die gesamte Konkurrenz in Rapperverkleidung: Bei Bedarf google man die betreffende Werbeanzeige von „Fett MTV“. FENSTER ZUM HOF blieb das einzige Album der Heidelberger Zwillinge. Besser, sagen viele, ist es im Deutschrap nicht mehr geworden. Hier sitzt jede Drum, jeder Cut, jedes Sample, jedes Wort. Mit geometrischer Präzision zersägte vor allem Luxus Chris die funky Beats, Marshall Mar brachte die Mehrheit der Beats und eine Extraportion Attitüde. So schufen sie mit beinahe jeder Zeile ein geflügeltes Wort. „Lieber ehrlich der Letzte als durch Beschiss der Beste“ wollten sie sein. Schön, dass sie auch so die besten wurden. Ehrlich jetzt. (Davide Bortot)

Cora E.

CORAgE (1998)

8_cora-eWie das nun mal so ist mit den HipHop-Pionieren: Jeder kennt Namen und Leistung, aber die Zeugnisse für die Nachwelt sind rar gesät – oder, wie im Falle der Kieler/Heidelberger Rapperin Cora E., verwirrend sortiert. Die Tracks, die die CD CORAgE ansammelt, kamen 1997 fast deckungsgleich schon auf Vinyl heraus (… UND DER MC IST WEIBLICH). Einen umfassenden Überblick, was Cora E. für HipHop in D bedeutet, bieten leider beide Formate nicht. Klar, der sogar von Casper zitierte Über-Untergrundhit „Schlüsselkind“ ist dabei, auch die legendäre Stiebers-Kollabo „Einmal Macco, zweimal Stieber“ und die Realness-Hymne „Lügen“ – aber den Rest der Legende muss man sich von Maxis und VHS-Kassetten zusammenreimen. (Marc Leopoldseder)

Fünf Sterne Deluxe


Sillium
 (1998
)

9_fuenf-sterne-deluxeDas Fünf-Sterne-Debüt ist wohl das trippigste Werk der deutschen Rapgeschichte. Offenbar konsumierte die Band während des Schreibprozesses mehrere Plantagen Gras und säckeweise Pilze. Heraus kam so etwas wie ein Rap gewordener Bewusstseinsstrom: Wären James Joyce oder Allen Ginsberg Deutschrapper, das hier wäre ihr Album gewesen. Fünf Sterne haben allerdings die besseren Beats. Dass SILLIUM auch richtig albern wurde, fand man 1998 tendenziell uncool, aus heutiger Sicht freut man sich darüber: FSD verarschten mit Songs wie „HipHop Clowns & Party Rapper“ das ganze selbstrefenzielle Business, sparten nicht an homoerotischen Andeutungen und machten sich unablässig über sich selbst lustig. Sehr derbe. (Ayke Süthoff)

Eins Zwo

Sport EP (1998)

10_eins-zwoAktuell liefert Dendemann den besten Part auf dem neuen Beginner-Album und ist damit so etwas wie die hiesige Entsprechung zu Andre3000. Im Jahr 1998 war der Sauerländer, der damals in Hamburg lebte und der Mongo Clikke um die (Absoluten) Beginner, Dynamite Deluxe und das Eimsbush-Label zugerechnet wurde, der Ausnahme-Lyricist der Szene. Die Beats, die er zusammen mit DJ Rabauke produzierte, bezogen sich auf den New Yorker Underground um Pete Rock und Company Flow. Neben schlauer Kritik an der schleichenden Vereinnahmung der Szene durch die Pop-Industrie ging es um nervtötende Pizzaboten und andere Slacker-Befindlichkeiten. Humorvoller, lässiger Brot-und-Butter-Rap für die Ewigkeit. (Stephan Szillus)

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Die 30 weiteren besten Deutschrap-Platten verraten wir Euch im Deutschrap-Special des neuen Musikexpress. Nach und nach aber auch online in vier Teilen.