Die Rückkehr des Königs


Er war der wichtigste Produzent der 00er-Jahre, Symbolfigur einer Ära. Dann implodierte die Hip-Hop-Industrie und mit ihr Pharrell Williams. Die Revolution fraß zuerst ihr Hätschelkind. Nun hat Williams mit den 60er-Jahren seinen persönlichen Jungbrunnen gefunden. Das neue Album seiner Band N.E.R.D. ist Hippiemusik.

Pharrell sieht blendend aus. Wobei, blendend: Er sieht aus wie immer. T-Shirt. Turnschuhe. Terrakottafarbener Teint. Und dieses schelmische Schulbubengrinsen, das ihm selbst bei ausgewiesen schlechter Laune im Gesicht festgetackert zu sein scheint. In den schmalen Knochen hat er noch den Auftritt vom Vorabend. Bis vier Uhr früh stand er mit N.E.R.D. auf der Bühne. Und bis dann mal alle ausgetrunken und die Urlaubsbekanntschaften verabschiedet haben, das dauert bekanntlich eine Weile. Trotz all dem wirkt er, als sei er gerade frisch einem Videoclip entstiegen. Der Mann muss als kleiner Junge in einen Kessel Photoshop gefallen sein. Ein Außerirdischer in Designerhosen.

Geboren wurde der Außerirdische unter recht irdischen Umständen in Virginia Beach, als Sohn eines Handwerkers und einer Lehrerin. Geld gab es wenig, dafür umso mehr Liebe und noch mehr Musik. Der Legende nach war es die Oma, die ihm zu einer Karriere als Schlagzeuger riet, weil er so motiviert auf ihr Küchenmobiliar eindrosch. Tatsächlich bot die Musik dem jungen Pharrell eine willkommene Abwechslung vom mitunter frustrierenden Alltag am unteren Rand der Mittelschicht. Etwas Farbe in jener Welt zwischen Projects und Vorstadt, in der man sich nicht mal eine anständige Schwarz-Weiß-Wut zulegen kann, weil das matte Grau alles überlagert.

So ging es weiter: das erste Schlagzeug, Pauke in der Marschkapelle, diverse Schulbands. Schließlich eine eigene R&B-Gruppe namens The Neptunes, gegründet mit den Kindheitsfreunden Chad Hugo und Shay Haley, noch heute seine Partner bei N.E.R.D., sowie einem Typen namens Mike Etheridge, heute eher ein Fall für die Millionenfrage bei RTL denn für die Musikpresse. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, die dieser Tage mit Muckertum der Branchenkrise zu trotzen suchen, war Pharrell also schon Musiker, bevor er Produzent, Multimillionär und irgendwann aus Versehen sogar Rapper wurde. Dazwischen liegt nicht weniger als eine Revolution.

Diese Revolution hallt bis heute mächtig nach. Der Beatgott ist in Frankreich, beruflich. Bisschen Filmfest in Cannes, bisschen Formel 1 in Monaco. Und, jaja, acht Gästelistenplätze bitte für die „Vanity Fair“-Party heute Abend. In den wenigen Pausen dieser straff durchgeplanten Socialising-Safari stehen noch kleinere Pflichttermine mit N.E.R.D. an. Das vierte Album soll bald erscheinen, Nothing, und da muss eben auch mal eine grotesk überzeichnete Großraumdiskothek am östlichen Ende der Croisette als Bühne herhalten. Abgesehen von den strammen Getränkepreisen von 50.000 Euro für die größte Flasche Roederer Cristal erinnert hier wenig an den frühsommerlichen Festivalglanz. Dafür hat pünktlich zum Neptunes-Hit „Beautiful“ das halbe Umland von Nizza das Handy in der Luft. Die Stücke des neuen N.E.R.D.-Albums interessieren allenfalls Statistiker. Vielleicht mag er ja noch mal sein T-Shirt hochziehen. Mag er nicht. Lieber noch ein neues Stück, dazwischen ein, zwei Neptunes-Fetenhits vom Band, wieder dieses schelmische Grinsen. Das Volk macht Fotos, die eigens engagierten Animations-zwerge den Humpa Humpa.

Neptunes-Musik war immer schon in allererster Linie Clubmusik. Die schnalzenden Snares. Die bauchigen Basslines. Der ungehobelte Charme des Analogen. Und immer wieder diese unerhört neuen Sounds aus einem anderen, gleißend hellen Sonnensystem. Mit diesem zeitlos zickigen Electrofunk schufen Williams und sein Studiopartner Chad Hugo um die Jahrhundertwende herum eine ureigene Klangästhetik. Rüde Rüpelrapper wie N.O.R.E. und Mystikal, softe Souldiven wie Beyoncé und Toni Braxton, hochtalentierte Freunde wie Clipse und Kelis und natürlich die damaligen Branchenführer Nelly und Jay-Z – sie alle wollten den Neptunes-Sound. Denn der knipste nicht nur binnen Sekundenbruchteilen imaginäre Glühbirnen an, sondern trieb auch noch die hoffnungslosesten Körperkläuse auf die Tanzfläche. Irgendwann hatte sich das alles tot gelaufen. Aber zwischen 1998 und, sagen wir, 2004 gab es nichts, das aufregender, erfrischender und neuer war als ein Neptunes-Beat. Und gleichzeitig lauter knallte. Musik war selten direkter, physischer als bei Hugo und Williams.

„Hast du gesehen, wie die Frauen gestern durchgedreht sind“, eröffnet Pharrell am Folgetag das Gespräch. „Ich sag’s dir: Die waren bereit! Eigentlich bin ich ungern auf Tour, ich mag das Rampenlicht nicht so. Aber gestern war einfach eine dieser Nächte …“

Der letzte Satz ist glatt gelogen. Das mit dem Rampenlicht allerdings nicht. Für jemanden, der sein tägliches Brot seit zehn Jahren mehrheitlich als Promi, Mode-Ikone und Sexsymbol verdient, ist der 37-Jährige erstaunlich scheu. Unglaublich scheu eigentlich. Er hasse es regelrecht, im Mittelpunkt zu stehen, sagte Pharrell einmal. „Zumal wenn ich sehe, wie andere, die genauso viel Herzblut und Arbeit in die Musik stecken, nicht die verdiente Anerkennung bekommen.“ Klar könnte das als Koketterie eines global gefeierten Coverhelden verstanden werden, doch Pharrell sagt das, als meine er es tatsächlich ehrlich. In Musikvideos am Bildrand den süßen, verschmitzten Nerd raushängen lassen? Zu öffentlichen Anlässen ein schickes Oberhemd auftragen? Das hat Pharrell irgendwann gelernt, ja perfektioniert. Aber eine Rampensau mit Stadionausstrahlung wird er in diesem Leben nimmer.

Die Show in der Animationszwergengroßraumdiskothek am Vorabend ist die entsprechende Katastrophe. Die Backing-Band lärmt wie eine Pennälertruppe mit dem Hormonhaushalt eines durchschnittlichen Weddinger Schulhofs. Shay hält sich vornehm im Hintergrund. Dafür tauscht Pharrell konsequent Falsett gegen Gebrüll, seinen patentierten Cool gegen Rockstarposen aus dem Fernsehen. „Party people, are you ready for fucking N.E.R.D. in the house tonight?“, schreit er. Sein Blick sagt: Ich will nach Hause.

Immerhin: Die Gesprächstermine mit der Presse, früher als nicht mal besonders notwendiges Übel ausgesessen, scheint Pharrell mittlerweile für sich entdeckt zu haben. Schließlich hat er etwas mitzuteilen. Und deswegen auch schon mal eine kleine Rede vorbereitet. „Das neue Album bringt eine Seite in mir zum Vorschein, die bislang eher verborgen geblieben ist. Es liegt einfach etwas in der Luft zur Zeit. BP mag vielleicht nur elf Millionen Liter von dem Öl einräumen, das da irgendwo im Ozean herumtreibt. Aber wir wissen, dass es in Wahrheit viel mehr ist. Gleichzeitig gibt es alle zwei Wochen im Schnitt eineinhalb Erdbeben von wirklich zerstörerischem Ausmaß. Der Krieg in Irak, der Krieg gegen den Terrorismus, trans-Fettsäuren, eine durch die Medien komplett verzerrte Vorstellung von Gesundheit und Fitness, ein krankes Frauenbild. Die Zeiten haben sich geändert. Deswegen ist es für uns als Künstler so wichtig, Musik zu machen. Damit wir die Menschen an ihre wahre Bestimmung erinnern können. Ihnen sagen können, dass sie das Leben wertschätzen müssen. Weißt du, wir haben diesen Song, der aus der Perspektive eines Fisches geschrieben ist. Die Fische sind unsere Vorfahren, biologisch gesehen. Ich spreche nicht von jenem Teil von uns, der uns Gott so nahe bringt, dem Bewusstsein. Sondern von jenem Teil, der uns mit allen anderen Arten da draußen verbindet: Fleisch und Knochen. Atome, richtig? Protonen und Elektronen, die sich sehr, sehr schnell bewegen. Und je nachdem, in welche Richtung sie sich bewegen, entsteht entweder Holz oder ein menschliches Wesen. Einstein hatte Recht: Die Quantenmechanik ist real. Und wir haben das zu respektieren, anstatt immer nur weiter unsere Ressourcen auszubeuten. Okay, ich bin ein Hippie. Aber ich bin eine andere Sorte Hippie. Ich glaube an die friedliche Koexistenz von Gegensätzen: Ich kann einen Ferrari genau so lieben wie eine Rose. Denn Kunst lebt von Widersprüchen. Nein, mehr noch: Kunst ist Widerspruch. Der Moment, in dem man den Widerspruch sieht und hört und fühlt – das ist Kunst.“

Und das alles wohlgemerkt auf die Frage, wie es ihm denn sonst so gefalle in Frankreich. Puh. Glücklicherweise ist die Musik auf Nothing ähnlich verspielt, verspult und reich an assoziativen Sprüngen wie Williams‘ Einschätzungen zur Lage des Universums. Die offizielle Sprachregelung, wonach man es hier mit „einer neuen Art Hippiemusik“ zu tun habe, trifft es jedenfalls ganz gut – zumindest dem halben Hördurchlauf nach zu urteilen, der dem eingebetteten Schreibervolk neben Ananasspießchen und vortrefflicher Aussicht über die Côte d’Azur vergönnt ist. Ist die Vorabsingle „Hot-N-Fun“ noch eine vergleichsweise konventionelle Frühsommersause mit unmittelbar ansteckender Bassfigur und Nelly Furtado, gehen N.E.R.D. im Anschluss in die Vollen. Ätherische Folk-Melodien, grober Landhausblues, Big Brother And The Holding Company, Jazzfunk, Gniedelgitarre, Schniedellyrik. Das alles ist manchmal großartig, manchmal anrührend naiv. Klingt manchmal nach perfektem Pop und manchmal nach Jam Session. Aber es zeugt stets von jener überbordenden Spielfreude, die die Kollegen hier einst zu den coolsten Hunden im Geschäft machte.

„Wir hatten bereits vor etwa einem Jahr ein ganzes Album fertig gestellt. Aber dann haben wir alles in die Tonne getreten und komplett von vorne angefangen – deswegen auch der Albumtitel. Die Songs, die wir hatten, waren gut. Aber gut war uns diesmal nicht gut genug. Unser Ziel war es, unvergessliche Musik zu schaffen. Musik, die eine echte Bedeutung hat. Wenn du diese Songs aufschneiden könntest wie ein Chirurg, dann sähest du, dass sie eine ganz eigene, neuartige, reiche DNS haben, aus der du ganze Kulturen züchten könntest.“

Nothing ist die erste N.E.R.D.-Platte, die nicht nach Neptunes klingt. Und das ist unbedingt zu begrüßen. Denn bei aller Sympathie für ein homogenes Klangbild und die circa 5000 Superhits im Katalog: Ein weiteres Update des Neptunes-Sounds mit ein bisschen mehr Musik und eineinhalb Überraschungsgästen hätte nun wirklich keiner gebraucht. Seit 2000 haben Williams und Hugo jedes Jahr mindestens 100 Stücke veröffentlicht, teilweise deutlich mehr. Sie haben alles Lob dieser Erde kassiert, jeden Grammy, jeden erdenklichen Stundenlohn, den ein verzweifelter A&R jemals einem angesagten Produzenten in den Arsch geblasen hat. Gewisse Ermüdungserscheinungen und Motivationslöcher bleiben da eben nicht aus. Auch dann nicht, wenn man sich täglich eine neue Rose leisten kann – und einen Ferrari dazu. „Ich will mal versuchen, das mit Basketball zu erklären. Nur weil man jederzeit einen Jumpshot versenken kann, macht einen das noch lange nicht zu Michael Jordan. Was Mike immer von allen anderen unterschied, war dieses Feuer, das in ihm brannte. Dieser Wille, die unbedingte Liebe für das Spiel. Das hat mir in den vergangenen drei, vier Jahren komplett gefehlt. Und ich merke erst jetzt, wie gelangweilt ich eigentlich war. Ich wusste zu jeder Zeit, was zu tun war, um einen Song zu schreiben, den die Leute mögen. Aber echte Inspiration war das nicht.“

Tatsächlich muss man schon eine Weile zurückdenken, um sich an ein nennenswertes Stück Neptunes-Musik zu erinnern. Für ein wenig Szeneaufsehen war das Duo immer mal wieder gut, mit Anleihen beim Elektro der frühen 80er (Commons „Universal Mind Control“, 2008), mit britischem Dubstep (Lil Waynes „Yes“, 2010) oder filigranem Flanellhemdenfunk (Clipses „I’m Good“, 2009). Musikalische Innovationen aber kamen in den vergangenen Jahren gewiss nicht aus Virginia Beach. Parallel blieb auch noch der kommerzielle Erfolg aus. Eigene Projekte wie Williams‘ Solokarriere und die Alben des von den Neptunes produzierten Synthiepop-Sängers Kenna floppten gnadenlos. Der eingereichte Song zur Fußball-WM wurde selbst von der wenig wählerischen FIFA abgelehnt. Und auch die Studiosessions mit Madonna, Britney Spears, Shakira und Jennifer Lopez mochten keine großen Singles abwerfen.

Aber wie soll man umgehen mit dem Ruf, selbst ein einfaches Zungenschnalzen in einen Billboard-Brecher verwandeln zu können, wie bei Snoop Doggs „Drop It Like It’s Hot“? Wie soll man arbeiten unter dem Druck, das ständig wiederholen zu müssen? Und wohin nur mit dem eigenen Anspruch, auf dem Marsch durch die Charts möglichst auch noch ein paar Barrieren und Regeln einzureißen, obwohl es längst keine mehr gibt? Einfach über Bord damit? Oder lieber daran zerbrechen?

Die Neptunes haben Daft Punk geremixt, als „Raver“ noch ein Schimpfwort war und enge Jeans etwas für Leute wie die Rolling Stones, die sie auch geremixt haben. Sie haben sich von ‚N Sync über die Backstreet Boys bis hin zu Britney Spears ein Aushängeschild des Mickeymauspop nach dem anderem vorgeknöpft, bis das irgendwann zum guten Ton gehörte. Und diese Lebensleistung schließlich mit den beiden Soloalben von Justin Timberlake gekrönt. Was später den Black Eyed Peas zu einer ausgewachsenen Weltkarriere gereichen sollte, haben sie sich schon als Schulkinder ausgemalt. Sie haben erst Hip-Hop verändert und dann die Welt: Wenn irgendwann in zehn Jahren mal keiner mehr wissen sollte, was genau noch mal ein „Genre“ war, dann liegt das nicht nur an Steve Jobs, sondern auch an ihnen. „Ich träume von einer Welt, in der die Phoenixes und MGMTs und Kings Of Leons und Grizzly Bears dieser Erde die Herrschaft übernehmen“, sagt Pharrell. „Ich kann es nicht erwarten, dass Julian Casablancas und Feist auf einer Bühne mit Jay-Z und Kanye West und Lady Gaga stehen.“ Der Mann war offenbar schon länger nicht mehr auf einem Festival.

„Wissen Sie, mir kommen ständig gute Ideen. Unter der Dusche. Wenn ich einfach nur im Studio auf und ab gehe. Ständig. Aber letztlich geht es um deine Intentionen als Künstler. Nur wenn die Leute spüren, dass du die richtigen Absichten hast, werden sie dir zuhören. Kennen Sie ‚So Ambitious‘ vom aktuellen Jay-Z-Album? Ein guter Song. Guter Beat, gute Akkorde. Aber es fehlt das Gefühl. Ich singe dort ‚I’m on a mission, no matter what the condition‘. Aber ich habe es nicht gefühlt. Diese Zeilen kamen vielleicht aus einem Bewusstsein dafür, was ich erreichen könnte, wenn ich wollte. Doch sie kamen nicht aus dem Gefühl heraus, von etwas überwältigt zu sein, das man gerade eben erst selbst entdeckt hat. Aber genau das sind die magischen Momente, die einen als Künstler antreiben. Und ich bin froh, dass sie wieder da sind.“

Albumkritik S. 104

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