DIE STIMME GOTTES


Christlicher Pop? Ein schwieriges Thema. Gnade uns, wenn die Popmusik in ein mitteleuropäisches Gotteshaus fährt! Welche ästhetische Verbrechen möglich sind unter Verwendung eines käsigen Keyboards, von Gitarren, die von befangenen Menschen bedient werden, eines aus dem Hohlkreuz betupften Schlagzeugs sowie unter Einsatz eines Gesangsensembles, das seine aufrechten Töne säuberlich stapelt wie ein Getränkehändler seine Leergutkisten – man mag es gar nicht glauben. Was bleibt von Pop, wenn nichts als Demut, Strebsamkeit und Friedfertigkeit Hände und Stimme führen? So rhetorisch diese Frage, so fürchterlich ihre Antwort.

Doch einige der härteren Kritiker von Prefab Sprout sehen die Band aus dem Nordosten Englands in genau dieser Tradition: steifgeschlagen, süßlich und wolkig wie Schlagsahne, beseelt bis zur Entleibung. Und vielleicht ist da ja sogar was dran. Hatte Paddy McAloon, von Anfang an der Allmächtige hinter Prefab Sprout, nicht das Gitarrenspiel bei jungen Priestern gelernt und sich dem Songwriting in der Manier eines eifrigen Mönchs gewidmet? Vor allem aber hat er die endlos variierbare Frage nach Gott und danach, was die Welt in ihrem Inneren zusammenhält, gleich in einer ganzen Reihe von Songs behandelt.

Bereits mit elf Jahren war der Junge aus dem schroffen Bergarbeiter-Städtchen Consett an das katholische Seminar des Ushaw College im nahen Durham gewechselt. Nicht, um Priester zu werden, er ging dort zu Schule. Und auch am Ushaw College interessierten sich die Jungs vor allem für Fußball und erzählten sich prustend schmutzige Witze. Paddy vorne mit dabei: „Ich war ein Großmaul, ein Prahlhans, zumindest bis ich 16 war.“

Hat man allerdings auch nur einem Journalisten zu viel von einer Jugend in christlichen, gotischen Gemäuern erzählt, hauen sie ihr Bild von einem sogleich in Granit. Da magst du noch so viel zu T. Rex durch dein Jugendzimmer geboogiet sein. Und später mit deinem Bruder und wechselnden Jugendfreunden die Garage gegenüber von Papis Tankstelle, dann Pubs, Clubs, Hotels mit Coverrock aufgemischt haben. Und dir prächtig unsinnige Fantasie-Bandnamen wie Prefab Sprout ausgedacht haben, auf dass sie eines Tages gegen Grand Funk Railroad oder Moby Grape anstinken. Nützt alles nichts. McAloon hatte bald sein Image weg. Der Feingeist. Moralist. Sensibelchen. Stimmt ja auch alles.

Spätestens als Student in Newcastle, wo er Englisch und Geschichte studierte, rückten Bowie, Bolan oder auch Led Zeppelin als Bezugsgrößen in den Hintergrund. Paddy McAloon erweiterte seinen Horizont. Erkannte das Genie von Shakespeare und James Joyce und die Größe Picassos, entwickelte ein Verständnis für die Qualitäten von Broadway-Komponisten und -Autoren wie George Gershwin und Stephen Sondheim, die eine ganz andere Bandbreite abzudecken wussten als Paul McCartney oder Burt Bacharach. Paddy verfiel schließlich dem Schreiben selbst, noch mehr als der Musik sogar. Und er würde nie wieder damit aufh ören können. Unter der Regierung von Slade wie im Bann der Sex Pistols oder später unter den allerprächtigsten Prahlhänsen Liam und Noel Gallagher hätten die vereinigten Lads des Königreichs einem wie McAloon heftig in die Rippen gestoßen: Mach dich mal locker, Junge! Doch Mitte der Achtziger, als der Sprout-Stern am Radiohimmel aufging, befand sich der britische Pop in der Krise. Punk und Postpunk waren in die Geschichtsbücher gewandert. New Wave: old wave. Synthie-Pop: obsolet. Und der neu Glam der New Romantics konnte nicht lange überstrahlen, dass Bands wie Duran Duran oder ABC ihr Pulver bereits auf den ersten Platten verschossen hatten. Der bunte Videoreigen der immer mächtigeren Abspielstation MTV sorgte zudem dafür, dass vor allem dralle US-Produktionen in die Charts drängten.

Wollte man dennoch etwas Originäres aus der britischen Küche kredenzt bekommen, musste man sein Ohr wohl oder übel den Feingeistern und Sensibelchen schenken. Den Songwritern, die aus dem Privaten schrieben und trotz durchaus ansehnlicher Popentwürfe damit auch privat blieben. Lloyd Cole zum Beispiel. Orange Juice. Selbst die flotteren unter ihnen, Aztec Camera, Scritti Politti oder Paul Wellers The Style Council, bekamen dabei ein Etikett verpasst, das nicht unbedingt dafür sprach, dass sich zu ihrer Musik die Faust in die verqualmte Luft eines Pubs recken lässt: Sophisti-Pop. Auch Prefab Sprout wurden hier einsortiert.

Nicht fehlen in dieser Rückschau dürfen freilich The Smiths. Deren Sänger Morrissey galt als Poet und als Rebell und taugt deshalb auf den ersten Blick kaum zu einem Vergleich mit Paddy McAloon, dem bei aller Eloquenz das große Charisma der Gladiolen-Kanone aus Manchester abging. Aber es gibt auch interessante Parallelen zwischen den beiden. Die auff.shortälligste: Beide waren ambitioniert und selbstbewusst genug, klare moralische wie ästhetische Standpunkte zu vertreten und klug genug, sich dabei nur selten zu vergaloppieren. Wo Morrissey allerdings zu Zynismus, Fatalismus und Kontroversen neigte, blieb McAloon ein empathischer, höchstens ironischer Optimist und unverbesserlicher Romantiker.

Am Ende waren The Smiths eine Kultband, die in ihrer Heimat ein großes Publikum fand – und Prefab Sprout eine Popband, die nie richtig zu den Massen durchdrang, dafür aber heute als Kultband gilt. Nach Paddy McAloons Geschmack ist das nicht. Die Idee einer Popmusik aus und vor allem für einen wie auch immer gearteten „Underground“ fand er seit jeher absurd. Er stellte damit das Selbstverständnis der Independent-Musik infrage, der das Grobe und die Unmittelbarkeit des Punk noch lange impliziert war – selbst in ihrer beschwingten, poppigen Ausführung der mittleren Achtziger.

Dass das Albumdebüt seiner Band, SWOON, 1984 selbst noch den Charme des Ungeschliffenen und Ungestümen versprühte, lag daran, dass ihnen das Geld für eine größere Produktion fehlte und die Band ihr Talent noch etwas ungelenk einsetzte. Prefab Sprout galten auf jeden Fall auch als Indie-Act, weil sie ihre erste Single 1982 selbst veröffentlicht und dann bei Kitchenware Records in Newcastle unterschrieben hatten. Das Label präsentierte ein kleines, interessantes Gitarrenband-Programm und persiflierte mit dreisten Slogans und Kampagnen den Protz der Majors. Aber dieser Indie-Status stellte, wie gesagt, für den Chef dieser Band keinen ideellen Wert dar. (Ihre Platten stellte ohnehin bald der Medienriese CBS in die Regale.)“Rebellion“ in der Musik, so mahnte er, sei nur zu einem einzigen Preis zu haben: Der Künstler müsse seiner Vision folgen.

Paddy McAloon würde dies tun. Ihr folgen. Prefab Sprout zu einer universellen Popband machen, die die Menschen berührt ungeachtet irgendwelcher Trends. Er würde Popmusik kreieren, die sich nicht sperrt und doch erst nach mehrmaligem Hören richtig erschließt. Der ganz große Popwurf sollte es werden.

Einen wichtigen Schritt in diese Richtung war McAloon schon 1982 gegangen, als er Wendy Smith zum vierten Bandmitglied berufen hatte. Die Studentin hatte zuvor als Fan der „Sprouts“ regelmäßig an der Bühnenkante geklebt und sollte schließlich auch Paddys Freundin werden. Vor allem aber stand ihre helle, fast körperlose Chorstimme in einem überaus reizvollen Gegensatz zum Frontmann, der zu diesem Zeitpunkt die Sanftheit seines Gesangs erst noch entdecken musste. Bei einem wie Andy Partridge, Kopf der ebenso als „smart“ geltenden Band XTC, löste Wendy Smiths Hauchen und Seufzen hingegen echte Aggression aus: „Würde dieses Mädchen hinter mir sitzen und alle fünf Sekunden ,Ohh, ohh‘ singen, ich müsste sie verprügeln. Mich macht das wahnsinnig!“

Der zweite Schritt hin zum großen Wurf: Paddy McAloon suchte nach einem Produzenten, der seinen Songs eine Inszenierung bescherte, die über die Beschränkungen seiner versierten Gitarren-und-ein-bisschen-Keyboard-Band hinaus führt. Er fand ihn in dem multidisziplinären Grenzgänger Thomas Dolby, der vor allem in den USA bereits Erfolge gefeiert sowie als Session-Musiker für alle möglichen Acts gearbeitet hatte. McAloon war auf ihn aufmerksam geworden, als Dolby in einer Diskussionsrunde auf „Radio One“ einen Sprout-Song gegen die anderen Studiogäste verteidigt hatte: „Diese Band platzt doch fast schon vor lauter Talent!“

McAloon lud Dolby in sein Elternhaus ein, griff zur Gitarre und sang ihm seine Lieder vor. Der Gast war hin und weg. Sie gingen ins Studio und nahmen STEVE MCQUEEN auf. Den Titel, der in keinem inhaltlichen Bezug stand zu den Texten, die stattdessen einige Anspielungen auf J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ enthielten, hatte McAloon wie so viele andere Ideen einer Vision zu verdanken: „Steve McQueen – wunderbar, wie das klingt! Sie werden glauben, wir seien verrückt geworden.“ Die Platte wurde von der Kritik gefeiert, stand Ende 1985 in Jahresbestenlisten und schmückt schließlich bis heute „ewige“ Bestenlisten von Menschen und Institutionen, die nicht ein eher grundsätzliches Problem mit dem Sound und den Gepflogenheiten der Achtziger haben. Ein Quantensprung zu SWOON, erreichte das Album in den UK-Charts dennoch nur Position 21 und war damit gerade einmal einen Platz besser postiert als sein Vorgänger. Obwohl sich Paddy McAloon nicht weiter mit der schnöden, fantasielosen Konkurrenz messen wollte, haderte er doch damit, dass seine Songs nicht an der Spitze der Charts standen.

Bevor er den nächsten Versuch unternahm, dies zu ändern, konnte sich der Junge aber erst einmal locker machen -bei der Aufnahme eines weiteren Albums: PROTEST SONGS sollte Ende 1985 in einer limitierten Ausgabe rund um die anstehende Tour verkauft werden. Eine selbstproduzierte „Down-to-earth“-Platte, wie es Paddy McAloon selbst ausdrückte. Doch CBS stellte sich quer: Zwei aktuelle Sprout-Alben gleichzeitig in den Läden, das würde die Konsumenten nur verwirren. PROTEST SONGS blieb weggesperrt bis 1989, als CBS das Album schließlich veröffentlichte, ohne Band und Management darüber zu informieren.

Statt sich wie Prince acht Jahre später „Slave“ auf die Wange zu pinseln oder sich auf andere Art gegen die Bevormundung durch die Plattenfirma zu wehren, verkroch sich McAloon in sein Schlafzimmer und arbeitete einfach weiter, an Songs für sein nächstes Album – aber auch an „einer Art agnostischer Weihnachtsplatte“, nach dem Vorbild von A CHRISTMAS GIFT FOR YOU FROM PHIL SPECTOR von 1963. Diese Stücke landeten allerdings in der Schublade, gleich neben den Abenteuern des Zeichentrickhelden „Zorro The Fox“, den er sich ausgedacht hatte, um sich mal zu lösen vom ewigen Thema „Mensch“. Wie gesagt: Paddy McAloon musste schreiben. Immer. So würden sich bei ihm über die Jahre die Konzepte, Projekte, Entwürfe und Songs stapeln. Und sein Label würde ihm noch ein paar Mal erklären, wofür der Markt reif sei und wofür eher nicht.

FROM LANGLEY PARK TO MEMPHIS, das dritte Sprout-Album, sollte reifer, allgemeingültiger als sein Vorgänger werden, noch mehr Pop. Und doch auch ein eigenes Konzept übergestülpt bekommen. McAloon streckte sich darauf aus der nordenglischen Provinz nach Amerika aus, nach den mystischen Orten, Figuren und Megastars seiner weltweit exportierten Popkultur, schaute hinter die Fantasiebilder. Wäre aus Prefab Sprout tatsächlich eine Nummer-eins-Band geworden, längst hätte die Welt eine Musical-Umsetzung von LANGLEY PARK erlebt, so wie einen hier die Harfen-Glissandi, Gospel-Chöre und Streicher-Intermezzi anspringen. Teile der Platte wurden in L.A. aufgenommen, um wenigstens einen Teil vom vielbeschäftigten Thomas Dolby produzieren zu lassen. Pete Townshend ließ sich überreden, ein paar Gitarrennoten beizusteuern. Stevie Wonder schaute in der Nacht für ein Mundharmonika-Solo vorbei.

Paddy McAloon war dort angekommen, wo er hinwollte: Er produzierte Popmusik wie die Großen. Und er hatte jetzt endlich auch einen Top-Ten-Hit! Halb Großbritannien trällerte im Frühjahr 1988 den Refrain von „The King Of Rock’n’Roll“:“Hot dog, jumping frog, Albuquerque“? Das war auf den ersten Blick grober Unfug, auf den zweiten ein Songwriter-Kunstgriff: Das Stück handelt von einem abgehalfterten Novelty-Sänger, der sich an den längst verblichenen Ruhm seines einzigen Hits klammert. Und dessen Refrain lautete, genau: „Hot dog, jumping frog, Albuquerque“. So konnte McAloon diese infantile Zeile nicht nur singen, ohne sich selbst lächerlich zu machen. Dadurch, dass ausgerechnet ein solcher Bubblegum-Refrain ihn bis auf Platz sieben der Charts trug, gab er den denkbar treffendsten Kommentar zur Qualität der aktuellen Popmusik und zu den Bedürfnissen des Publikums ab.

Wäre es nach Andy Warhol gegangen, Prefab Sprout hätten danach die nächste Ausfahrt Richtung Vergessenheit nehmen können. Der Frühling des springenden Frosches, das waren ihre 15 berühmten Minuten. Doch Paddy McAloon wurde jetzt erst richtig warm. Dachte noch größer. An ein Album in Suiten. Dazu kehrte Thomas Dolby full time ans Mischpult zurück. Der „fünfte Sprout“, wie ihn McAloon aus gutem Grund nannte. Er würde mit seiner ausladenden bis schwülstigen, künstlich-synthetischen Produktion selbst ein Werk wie das 19 Songs mächtige JORDAN: THE COMEBACK zusammenhalten – koste es, was es wolle (am Ende rund 500 000 Dollar). Neben einem Songzyklus über Elvis Presley, den er in den Western-Banditen Jesse James verwandelte, gab es darauf unter anderem eine „Death and Heaven“-Suite. So deutlich und umfassend wie hier hatte sich selbst McAloon bis dahin noch nicht in seinem Werk mit der christlichen Mythologie auseinandergesetzt. In „One Of The Broken“ spricht er sogar in der Rolle Gottes. Der bittet, man möge nicht ihm all die schönen Hymnen singen, sondern den Menschen, die Rückhalt in schwerer Stunde brauchen können. Was wohl der Ortsgeistliche dazu sagen würde: Läuft das noch unter „Sacropop“ oder ist das schon Blasphemie?

„Wenn ich nie wieder eine Platte machen sollte – das hier ist etwas, worauf ich stolz sein kann“, war McAloons eigenes Urteil zu JORDAN, das 1990 für den „Brit Award“ nominiert wurde. Er sollte tatsächlich für fünf Jahre kein Album mehr machen. Was nicht nur daran liegt, dass ihm sein Label die Veröffentlichung seines nächsten Projekts verweigerte. Es trug den Titel LET’S CHANGE THE WORLD WITH MUSIC und beschäftigte sich mit der Frage: „Wenn es einen Gott gäbe, wäre Musik seine Stimme?“ Doch sakraler Pop galt zumindest Anfang der Neunziger eben nicht so als Marktrenner.

Der zweite Teil der Geschichte beginnt so: Paddy McAloon zieht sich zurück. Desillusioniert, aber ungebrochen kreativ. Er erfüllt sich seinen Traum, als Songwriter für andere zu arbeiten. Nicht für Sinatra und Streisand, wie erträumt, aber immerhin für den Schauspieler und Sänger Jimmy Nail, die Australierin Wendy Matthews sowie Cher. McAloon droht sich allerdings auch mehr und mehr zu verzetteln. „Oh, ich wünschte, ich würde über ein Frank-Zappagroßes Archiv verfügen mit Sachen, die ich nur noch herausbringen müsste. Aber die meisten meiner Stücken sind unfertig. Es gibt unzählige Kassetten, auf denen ich singe, dazu Akkord-Tabellen. Hätte ich doch nur weniger Zeit damit verbracht, im Garten zu sitzen, in den Himmel zu starren und Zigarre zu rauchen“, erzählt er 2009 ME-Autor Hanspeter Künzler.

Trotzdem hat er es über die Jahre geschafft, zwei weitere Sprout-Alben fertigzustellen: Das sanfte, entrückte ANDROMEDA HEIGHTS (1997), dessen Single „Electric Guitars“ Jochen Distelmeyer nicht von ungefähr ins Liveset von Blumfeld einbaut; er hat auf der Suche nach seinem eigenen Weg zu einer Form von „allgemeingültiger“ Popmusik McAloon einiges zu verdanken. Sowie THE GUNMAN AND OTHER STORIES, die Cowboy-Platte von 2001, somit ein weiteres Amerika-Album, das McAloons eigene Interpretationen seiner Auftragsarbeiten für andere versammelt. 2003 folgt mit dem experimentellen, kammermusikalischen I TRAWL THE MEGAHERTZ das erste Solo-Album des Künstlers, der zwischenzeitlich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Ihm droht, durch eine Krankheit sein Augenlicht zu verlieren, ein Tinnitus quält ihn über Monate.

LET’S CHANGE THE WORLD WITH MUSIC darf Paddy McAloon 2009 schließlich veröffentlichen. Die Songs haben ihren Demo-Status allerdings behalten. Sie klingen – eine überarbeitete Atari-Computer-Produktion von 1993 – veraltet, beinahe billig. Aber wer McAloon schätzt, kommt selbst bei diesem Sound nicht vorbei an seinen schönen Kompositionen, hoffnungsfrohen Texten, seiner immer noch erstaunlich jungenhaften Stimme. Auf den Bildern, die zur Veröffentlichung von LET’S CHANGE von McAloon zu sehen sind, sieht er allerdings gar nicht mehr aus wie ein Jüngling. Vielmehr wie ein vollbärtiger Schrat. Ein Schrat, der am liebsten in seinem Garten sitzt und paffend in die Wolken starrt. Das ist dann wohl sein zweites großes Talent, das heute kaum einer mehr zu schätzen weiß: Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

DIE SCHÖNSTEN TEXTZEILEN

All the world loves lovers /All the world loves people in love /Don’t forget it

(„All The World Loves Lovers“)

We were songbirds, we were Greek gods /We were singled out by fate /We were quoted out of context it was great

(„Electric Guitars“)

All boys believe anything, anything

(„All The Boys Believe Anything“)

Life’s not complete /Till your heart’s missed a beat /And you’ll never make it up /Or turn back the clock /No, you won’t

(„Goodbye Lucille #1“)

Any music worth its salt is good for dancing /But I tried to be the Fred Astaire of words

(„Paris Smith“)

INSPIRIERT VON

BURT BACHARACH

THE BEATLES

GEORGE GERSHWIN

MARVIN GAYE

STEPHEN SONDHEIM

STEELY DAN

HABEN INSPIRIERT

JOCHEN DISTELMEYER

BELLE & SEBASTIAN

JUNIOR BOYS

STARS

JUSTUS KÖHNCKE

DESTROYER

DER KATALOG

SWOON (1984)

Sehr ambitioniert, aber auch noch unentschieden zwischen dem, was damals zwischen Postpunk und Soulpop (zum Beispiel auf dem Glasgower Postcard-Label) vor sich ging, und dem, was sich der Visionär McAloon bis dahin schon alles in den Kopf gesetzt hatte. Key Tracks: „Cruel“, „Cue Fanfare“

STEVE MCQUEEN (1985)

Der Klassiker. Songs von nichts als höchster zwischenmenschlicher Dringlichkeit. Aber eben nicht nur lyrisch-romantisch, sondern klug und ehrlich in der Analyse. Von Thomas Dolby mit vor allem synthetischen Mitteln erstaunlicherweise so inszeniert, dass die ganze Platte eine fragile, unwirkliche Aura erhielt. Key Tracks: „Bonny“, „Goodbye Lucille #1“

FROM LANGLEY PARK TO MEMPHIS (1988)

Poppiger, launiger, künstlicher als sein Vorgänger und so auch musikalisch eine Amerika-Platte – der man ihre britische Herkunft dennoch jederzeit anhört. Auch dort, wo die Band mit ihrem Lieblingsklischee arbeitete: Gospelmusik. Key Tracks: „The King Of Rock’n’Roll“, „Cars And Girls“

PROTEST SONGS (1989)

Bis heute oft übersehener Geheimtipp: das Ende 1985 noch unterschlagene Album. Ernst, sensibel und für Sprout-Verhältnisse fast schon abgespeckt arrangiert. Ihre Songwriterplatte, gewissermaßen. Key Tracks: „Tiffanys“, „Dublin“

JORDAN: THE COMEBACK (1990)

McAloons monumentalstes Album. Klang damals bombastisch und heute wie etwas, was es eigentlich gar nicht (mehr) gibt: eine teure, opulente Schlagerproduktion. Doch welcher andere Schlagerkönig würde sich je so wunderbar verheben wie eure melodische Majestät McAloon das hier tut? Key Tracks: „Carnival 2000“, „All The World Loves Lovers“

ANDROMEDA HEIGHTS (1997)

Die Perfektion: zwölf orchestrale, abgehobene Songs von berückender Schönheit. Alle sollten es hören: „Life’s a miracle, we gotta do our best / Before it’s time to rest“. Key Tracks: „Electric Guitars“, „A Prisoner Of The Past“

THE GUNMAN AND OTHER STORIES (2001)

Eine Sammlung von Auftragsarbeiten funktioniert als Konzeptalbum: die „Country-Platte“. Trotz immer noch jugendlicher Stimme (Wendy singt aber leider nicht mehr mit), das erste Alterswerk. Weniger opulente Songs mit Blick zurück. Key Track: „Cowboy Dreams“

LET’S CHANGE THE WORLD WITH MUSIC (2009)

Das zweite unterschlagene Album erscheint mit 16 Jahren Verspätung. Nichts als aufrichtige Pop-Gospels mit gewöhnungsbedürftigen Homecomputer-Arrangements. Key Track: „Let There Be Music“

DIE UNVOLLENDETEN

Konzepte, Songs, Entwürfe und Spinnereien hat Paddy McAloon für weitere Dutzende von Veröffentlichungen in der Schublade. Hier eine Auswahl seiner bislang unvollendeten Projekte und Alben:

Goodbye Lucille (The Album): Eine Idee noch aus den Siebzigern. Ein Album mit Songs, die alle denselben Titel tragen und durchnummeriert werden, aber sich musikalisch wie inhaltlich sehr voneinander unterscheiden. „Goodbye Lucille #1“ bleibt allerdings der einzige brauchbare Song. Er erscheint später auf STEVE MCQUEEN.

Witton Gilbert (The Album): Über das Aufwachsen an der Seite von Bruder Martin in diesem sehr überschaubaren Ort.

Atomic Hymnbook: Eine Sammlung „weltlicher Gospel-Stücke“.

Behind The Veil: Ein ganzes Album über Michael Jackson. Die Geschichte: Ein Hotelpage findet sich nach einem Terroranschlag eingesperrt mit Jacko in einem Fahrstuhl wieder. Lady Di ist auch dabei. Später landen sie dann alle noch auf einer Insel. Aus dem Song „Only The Boogie Music Will Never Let You Down“ wird später die Top-30-Single „The Sound Of Crying“.

Devil Came A-Calling: Der böse, dunkle Zwilling von LET’S CHANGE THE WORLD WITH MUSIC.

Digital Diva: Angeblich mehr als 30 Songs, die sich damit beschäftigen, wie sich durch McAloons Tinnitus-Erkrankung sein Umgang mit Musik geändert hat. Sollte, so sein Plan, mit einem „Stimmvirtuosen“ als Sänger aufgenommen werden.

Geoff & Isolde: Eine Art Oper, „aber mit lauter kleinen Stücken“. Ein Mammutprojekt, bei dem wohl selbst McAloon nicht davon ausging, dass er es eines Tages fertigstellen würde.

DAS FAN-PROJEKT

Was der Entzug von Prefab Sprout, die zumindest als Band schon einige Zeit nicht mehr existieren, mit manchen Menschen macht, lässt sich auf www.theprefabsproutproject.com begutachten. Das Fanprojekt dient dem Ziel, ein Album mit eigenen, neuen Songs einzuspielen, die sich in Komposition, Arrangement und Sound eng an Prefab Sprout anlehnen. Zwei Stücke gibt es schon zu hören, die Ähnlichkeit ist tatsächlich auff.shortällig. Dank erfolgreicher Fundraiser-Aktion konnte Ende April vermeldet werden, dass nun auch genug Geld gesammelt wurde, um Original-Drummer Neil Conti zu engagieren.

COVERVERSIONEN

The Editors (Nachrücker auf dem Sprout-Label Kitchenware Records) „Bonny“

Kylie Minogue „If You Don’t Love Me“

Lisa Stansfield „When Love Breaks Down“

Sondre Lerche „Nightingales“

The Zombies „When Love Breaks Down“

DAS BAND-MASKOTTCHEN

Das Cover der Single „Cars And Girls“ von 1987 ziert ein entflammtes Streichholzmännchen, welches Bruce Springsteen in Style und Pose ähnlich sieht. Das Stück bezog sich auch ausdrücklich auf „Brucie“, spielte mit seinen Lyric-Metaphern, flüsterte ihm: „some things hurt much more than cars and girls“. Die Band behauptete allerdings, „Rollmo!“, so der Name des Männchens, gehe auf eine Spitting-Image-Puppe von Michael Jackson zurück. Und auch der Name „Rollmo!“ stamme vom „King Of Pop“: Paddy McAloon hatte geträumt, dass ihm Jackson Songs seines neuen Albums vorspielte. Da gab es plötzlich Probleme mit einem unfertigen Stück. Und Michael sagte: „Ich glaube, wir brauchen hier ein bisschen Rollmo!“ Er erklärte Paddy, was er damit meint: „So nennen wir diese gewisse Extraportion Magie – das hilft immer“. Paddy war davon so begeistert, dass er „Rollmo!“ auch auf die Rückseite des LANGLEY PARKCovers packen ließ und seinem Heimstudio diesen Namen gab. Und auch ein Sprout-Fanzine wurde so genannt: „Rollmo!“

Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 26 The Clash