Ein Leben als Lo-Fi-Comic


Daniel Johnston

The Story Of An Artist

Munster Records/Cargo

*****1/2*

Das großartige Frühwerk des US-Sängers und Songwriters in einer 6-CD-Box.

Machen Sie mal den Fototest! Zeigen Sie einem Bekannten ohne weitere Vorwarnung eines der aktuelleren auf dem Markt befindlichen Fotos von Daniel Johnston mit der einfachen Frage: Wer ist das? Ein Hartz-IV-Empfänger in einem Reality-TV-Wohnzimmer, eine Momentaufnahme aus dem blöden Entblößungsfernsehen? Kenner werden den Kopf schütteln, aber ganz so abwegig ist der Eindruck nicht. Daniel Johnston hat kaum je eine Anstrengung unternommen, nicht diesen von Medikamenten und Cola aufgeschwemmten Typen in Trainingsjacke zu zeigen, der so etwas wie das Spiegelbild seiner armen Seele ist. Eine Schutzschicht hat der 1961 geborene Amerikaner weder seinem Äußeren, noch seinen Songs verpasst, in denen er seit gut 30 Jahren sein Innerstes nach Außen stülpt, auf der Suche nach dem Selbst.

Man kann die Knackpunkte in diesem Leben aus den Songs destillieren: Die unerwiderte Liebe seiner Schulfreundin Laurie Allen, die sich dereinst mit einem Leichenbestatter davonmachte, der unerfüllbare Wunsch, so groß wie die Beatles zu werden, die Verletzungen und Depressionen, die zunehmend Behandlung erforderten, der Verlust über die Kontrolle am Ich. Die Songs von Daniel Johnston mögen im Gut-Böse-Koordinatensystem des christlichen Fundamentalismus geerdet sein, der seiner Familie in West Virginia stets Heimstatt war, ihr Autor zog es von Anbeginn an vor, sie in Form von Pop-Comics zu veröffentlichen.

Irgendwo in den Liner Notes zu dieser Sechs-CD-Box erzählt Daniel Johnston von den sonntäglichen Kirchgängen, wie die ersten Songs damals auf dem Weg ins Gotteshaus in seinem Kopf entstanden. Er hat seine Umgebung mit der Super-8-Kamera seines Vaters gefilmt, seine Welt in einem Audio-Tagebuch dokumentiert und in seinen Cartoons fortgesponnen. Seine selbst eingespielten Cassetten verschenkte er an Freunde; am Anfang war das dieses Jungs-Ding, das Desaster, das in jedem I wanna be famous lauert. Am Anfang waren das Daniel und sein Piano, das Knacken der Stop-Taste am 59-Dollar-Sanyo-Rekorder, den er meist benutzte, zwischen den Aufnahmen Telefon- und Fernseh-Schnipsel, die Mutter, die Daniel anschreit. Später wird man die Etikette Lo-Fi draufpappen, Daniel Johnston aber stand kein besseres Equipment zur Verfügung. Die Bandmaschine gibt den Herzschlag dieser frühen Lieder, Daniel Johnstons Stimme klingt, als hätte jemand Buddy Holly für das Publikum eines Disney-Parks zu schnell abgespielt, eine Heulboje mit gefährlichen Gleichlaufschwankungen. Wenn man heute die ersten Veröffentlichungen aus den frühen 1980ern hört, SONGS OF PAIN und DON’T BE SCARED, wird man in Daniel Johnston aber auch einen Vorboten jenes Singer/Songwriter-Typus‘ erkennen, der später die Indie-Szene dominierte, den gebrochenen Popstar. Nur Popstar sollte Daniel Johnston nie werden.

Nirvanas Kurt Cobain hatte Daniel Johnston bei den MTV-Awards 1992 schon einen Riesen-Dienst erwiesen, als er seinen Helden auf dem T-Shirt grüßte; mit dem Cover des Albums Hi, HOW ARE YOU?. Johnston nimmt in der Folge eine CD für Atlantic Records (FUN, 1994) auf, doch der erhoffte Verkaufserfolg will sich nicht einstellen. Die wachsende Aufmerksamkeit, die Daniel Johnston in den vergangenen Jahren zuteil wird, verdankt sich vielmehr dem Schlüsselloch-Effekt. Diese ersten „Alben“, die Munster Records jetzt in einer Sechs-CD-Box mit Booklet und Poster in vorbildlicher Art neu aufgelegt hat, stehen für eine Grundüberzeugung im Pop; dass man mit den geringsten Mitteln immer noch das Größte sagen kann. Diese Songs katapultieren uns ins Innere des Johnston-Universums, ohne jede Übersetzungsleistung. Dort hören wir von der „Cold Hard World“, von den Träumen und Peinlichkeiten, die sich aus dem Kinderzimmer in die Welt der Erwachsenen fortpflanzten. Von dem Laurie-Allen-Gefühl: „To know her is to love her / And I love her, but I don’t know her“.

THE STORY OF AN ARTIST enthält selbstredend den gleichnamigen Daniel-Johnston-Song, den Liner-Notes-Autor Everett True zum Essential erklärt. Wenn Johnston nie wieder einen anderen Song geschrieben hätte, wenn sein komplettes Werk einem Feuersturm zum Opfer gefallen wäre, dann hätte doch dieses eine Stück gereicht, den Songwriter auf eine Stufe mit John Lennon und Billie Holiday zu stellen, schreibt Everett True. Ob man das nicht auch von „Grievances“, „I Had Lost My Mind“, „Man Obsessed“ oder „Never Relaxed“ sagen könnte? Und je häufiger man diese Songs hört, desto deutlicher scheinen die vielen Facetten des Genies unter den scheppernden Homerecordings auf: Es gibt den aufgedrehten Ragtime-Pianisten Daniel Johnston, den Tin-Pan-Alley-Entertainer und verhinderten Crooner, den Noise-Rocker, den „Fool On The Hill“, der die Beatles beklaut und den Enkel Gershwins, der auf der Akkord-Orgel eine Weise probt.

Am Ende aber ist Daniel Johnston der große Junge, der vor Liebeskummer den Kopf verlor und sein Leben zu einer einzigen großen Suchaktion erklärt hat. Er weiß noch, wie das damals mit dem Kopf passiert ist, es gibt aber Momente, in denen er über sich Witze machen kann: „See I had this tiny crack in my head / That slowly split open and my brain snoozed out / Lyin‘ on the sidewalk and I didn’t even know it / I had lost my mind“.

http://hihowareyou.com

Name: Daniel Johnston

Genre: Singer/Songwriter, Lo-Fi

Aktiv: von 1980 bis heute

Labels: Stress Records, Homestead, Pickled Egg, Sketchbook, Atlantic, Feraltone, Trikont, Hazelwood

Bewundert: The Beatles, Gott, Laurie Allen

Wird bewundert von: Sonic Youth, Kurt Cobain, Beck, Tom Waits, David Bowie, Flaming Lips, Matt Groening