„Es war alles eine Lüge“


Am 11. März zerstörte ein Tsunami Teile Japans, in Fukushima kam es zur nuklearen Katastrophe. Wie weiterleben oder sogar feiern in einem Land, wo nichts mehr normal ist? Der japanische DJ Yudai aus Tokio berichtet.

Yudai Kogawa, 25, wohnt mit seiner Freundin in einem kleinen Apartment in Tokio und arbeitete bislang als Cutter. Wenn er als DJ hinter den Decks der Secobar im Ausgehviertel Shibuya steht oder in einem der Clubs in Kichijoji und House und Elektro auflegt, nennt er sich Genius Harrison Ford. Als am Freitag, 11. März, die Erde bebte, mit dem Epizentrum rund 370 Kilometer nordöstlich von Tokio, wollte sich Yudai gerade Milch in den Kaffee schütten …

„Ich saß in der fensterlosen Küche unseres Büros und trank Kaffee, als es bebte. Ich erinnere mich genau, der Kaffee schmeckte bitter und ich gab mehr Milch hinein. Da begann das Gebäude zu wackeln. Diese Bitterkeit ist das Letzte, was normal war, bevor alles so wurde, wie es jetzt ist: alles andere als normal. Als es vorbei war, kam ein Kollege zu mir. Er war kreidebleich und versicherte mir, die Wolkenkratzer gegenüber wären beinahe auf ihn draufgefallen, so sehr hätten sie geschwankt. Dann ging er aufs Klo. Um zu kotzen, glaube ich. Auf der Homepage von Al Jazeera habe ich die Tsunami-Warnung gesehen, da wurde mir auch schlecht.

Ich bin glimpflich davongekommen, meiner Familie ist nichts passiert. Ich komme aus Aomori, nördlich von Sendai und Fukushima. Nach dem Beben, als wir Angst hatten, dass eine radioaktive Wolke von Fukushima herüber nach Tokio weht, wollte ich zurück nach Aomori und Landwirt werden. Nun liegt die Katastrophe fast drei Monate zurück. Ich bin in Tokio geblieben.

Am Abend nach dem Beben ging ich aus. Nicht um aufzulegen, das habe ich seit der Katastrophe nicht mehr getan. Ich musste mich ablenken. Da sind mir gleich die Spendenbehälter aufgefallen, die überall aufgestellt worden sind. Auch der DJ im Club wollte helfen und kündigte einen Charity-Marathon an. 24 Stunden lang wollte er an den Plattentellern stehen, nonstop. Ich denke mir: Wenn wir nicht ausgehen, wird die Club-Szene der Hauptstadt zum Erliegen kommen und aussterben. In gewisser Weise feiere ich für unser Land. Natürlich ändert das nichts an der Krise. Die ist überall.

Wenn ich nun weggehe, trinke ich Sake aus dem Norden anstatt Bier. Das ist zu einer richtigen Bewegung geworden. Der Norden ist berühmt für seinen Reis, deshalb kommt dort auch der beste Reisschnaps her. Klar, es ist nur eine kleine Geste. Aber Veränderungen beginnen oft im Kleinen. Es war eine ebenso kleine Veränderung, die aus dem bekannten Liebeslied „Ich habe dich die ganze Zeit geliebt“ des Sängers Kazuyoshi Saito einen nicht minder populären Anti-Atomkraftsong machte. Er heißt nun: „Ihr habt uns die ganze Zeit belogen“. Saito singt:

Yeah, es war alles eine Lüge

Euer „Kernenergie ist absolut sicher“

Ihr habt uns die ganze Zeit angelogen

Nur einmal noch möchte ich diesen köstlichen

Spinat essen

Wenn ich dieses Lied höre, muss ich mit den Tränen kämpfen. Das klingt vielleicht nicht normal, sich um den Spinat Sorgen zu machen. Aber wie gesagt, es ist hier auch alles andere als normal.“

(Protokolliert von Tim Rittmann)