Exklusiv vorab: zwei Kapitel aus Mark Bowdens Buch „Worm“


In seinem neuen Buch "Worm" erzählt der investigative Journalist Mark Bowden ("Black Hawk Down") vom ersten digitalen Weltkrieg, den der Computerwurm "Conficker" auslöste. Musikexpress Online präsentiert exklusiv zwei Kapitel.

Als der „Erste digitale Weltkrieg“ ist der Kampf mit Conficker in die Geschichte eingegangen – der Computerwurm, der 2008 das Internet weltweit lahm zu legen drohte und Millionen Rechner infizierte. Bis heute ist unklar, welches Netzwerk hinter Conficker steht: eine kriminelle Vereinigung etwa, oder gar eine Regierung. Mark Bowden, der mit seinen Reportagebüchern „Killing Pablo“ und „Black Hawk Down“ seinen Ruf als einer der führenden investigativen Journalisten begründete, legt mit „Worm“ (Berlin Verlag), ein Reportagebuch vor, das den Kampf der Computerexperten gegen Conficker schildert. „Worm: Der erste digitale Weltkrieg“ erscheint am 25. Februar.

Musikexpress Online bildet exklusiv zwei Kapitel aus „Worm“ ab. Lesen Sie hier Teil 1.

EIN HEER VON AHNUNGSLOSEN

Dass wir über Mutantenfähigkeiten verfügen, gibt uns nicht das Recht, über andere zu herrschen.

– The X-Men Chronicles

Die Idee zu einem infektiösen Computerwurm ist direkt der Science-Fiction-Literatur entnommen. Über ein Jahrzehnt vor der Geburt des Internets entwarf der britische SF-Autor John Brunner in seinem 1975 erschienenen Roman Der Schockwellenreiter das Konzept eines viralen Softwarecodes, der in andere Rechner eindringen und sie sabotieren konnte.

Zu einer Zeit, als Bill Gates eine Auszeit von Harvard nahm und zusammen mit Paul Allen »Micro-Soft« gründete, entwarf Brunner mit erstaunlicher Voraussicht eine im 21. Jahrhundert angesiedelte dystopische Welt, die zu einem globalen »Daten-Netz« verdrahtet ist und von einem tyrannischen Staat kontrolliert wird. Brunners Held, ein begabter Hacker namens Nick Haflinger, schreibt ein Programm, das er als »Bandwurm« bezeichnet. Der Wurm kann in das Daten-Netz eindringen, sich dort verbreiten und am Ende die Regierung zu Fall bringen. »Meine neueste Schöpfung – mein Meisterwerk – pflanzt sich von alleine fort«, verkündet Haflinger, der wie die Schöpfer von WikiLeaks mit seinem Wurm darauf aus ist, über das Daten-Netz in die Regierungsarchive einzudringen und Staatsgeheimnisse öffentlich zu machen. Brunner gab seiner Techno-Waffe den Namen »Bandwurm«, weil der Code wie sein reales Gegenstück aus einem Kopf mit angehängten Segmenten besteht, von denen jedes einzelne sich aus sich selbst heraus zu einem neuen Wurm entwickeln kann.

»Was ich gestern im Netz freigesetzt habe, ist der Vater und die Mutter aller Bandwürmer … es kann nicht getötet werden«, sagt Haflinger. »Es kann sich unbegrenzt selbst erhalten, solange das Netz existiert … Dennoch wird es nicht zu unendlicher Größe expandieren und das Netz für andere Anwendungen verstopfen. Es verfügt über eingebaute Schranken … Aber wie ich selbst gerne sage, es ist ein gelungenes Stück Arbeit.«

Brunners Vorstellungen über das kommende digitale Zeitalter waren geistreich, seine Vision der Zukunft aber war genau genommen ein alter Hut. Sie stand in der Tradition der von George Orwell, Aldous Huxley, Philip K. Dick und anderen SF-Autoren entworfenen Zukunftsvisionen, die in den totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts die Vorboten einer düsteren Zukunft sahen, in der alle Macht in den Händen eines unterdrückerischen Staates konzentriert lag. Jeder dieser Autoren hielt die Technologie der Zukunft für ein wichtiges Instrument staatlicher Unterdrückung – bei Orwell war es das Fernsehen, bei Huxley psychotrope Drogen, bei Dick beides zusammen in Kombination mit der Biotechnologie. Bei Brunner waren es Computer, genauer gesagt Computernetzwerke. Die in Der Schockwellenreiter verarbeiteten Ideen, vor allem jene über das Zeitalter der digitalen Vernetzung, basierten weitgehend auf dem 1970 erschienenen Buch Der Zukunftsschock des Futurologen Alvin Toffler. Sie waren ihrer Zeit so weit voraus, dass Computerprogrammierer sich an Brunners »Bandwurm« erinnerten, als sie etliche Jahre später in den Forschungslaboratorien erstmals die Entwicklung echter Computerwürmer in Angriff nahmen.

Wenngleich die von Orwell, Huxley, Dick und Brunner in ihren Romanen so lebhaft gezeichneten Ängste heute noch durchaus lebendig sind und gleich mehrere eindrucksvolle und erfolgreiche Hollywoodfilme inspiriert haben, haben sie sich bislang noch nicht bewahrheitet, zumindest nicht, was Computernetzwerke angeht. Die Struktur des Internets – vielmehr sein Mangel an Struktur – steht einer zentralisierten staatlichen Kontrolle entgegen. Das Ding hat eine Milliarde Köpfe und ist nicht von oben, sondern von unten her aufgebaut. In dem Maße, wie das Internet zu einem immer wichtigeren Faktor bei weltbewegenden Ereignissen wird, tun sich Regierungen überall auf der Welt zusehends schwerer damit, Geheimnisse zu wahren und sich dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen. Das Daten-Netz hat sich bislang weniger als ein Instrument der Unterdrückung, sondern vielmehr als eines der Befreiung erwiesen. Und die Architekten von Würmern und Viren sind keineswegs die von Brunner ersonnenen heroischen Rebellen, die gegen staatliche Tyrannei ankämpfen, sondern Nihilisten oder ganz gewöhnliche Kriminelle.

Mitte der 1970er Jahre wurden große Computernetzwerke nur von Universitäten, Großunternehmen oder Regierungsbehörden betrieben. Viele der jungen Computerfreaks, die später das Internetzeitalter aus der Taufe heben und in einigen Fällen gewaltige Reichtümer anhäufen sollten, wurden sich des Potenzials derartiger Netzwerke erstmals bewusst, als sie sich (ob mit oder ohne Erlaubnis) Rechenzeit auf den Großrechnern ausliehen, um Spiele zu spielen oder mit ihren Qualitäten als Hacker anzugeben. Gates und Allen nutzten den Computer, der den privilegierten Schülern an der Lakeside School zur Verfügung stand, und als sie mit dem an ihre Grenzen stießen, überredeten sie die Schulleitung, ihnen Rechenzeit auf einem externen Computer zu mieten. Zugangsbeschränkungen gab es so gut wie keine, denn Rechenleistung und Vernetztheit galten zu der Zeit noch als ausschließlich segensreich, und Offenheit war ausschlaggebend für die Anziehungskraft der Bewegung.

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