Fixing a hole


Liam Gallaghers unerschütterlicher Glaube an die eigene Allmacht hat ihn zum letzten großen Rockstar gemacht. Ohne seinen Bruder Noel ein Album aufzunehmen, war seine Meisterprüfung. Oasis waren gestern, heute heißt Gallaghers Band Beady Eye.

Die Zeiten, in denen Liam Gallagher skandierte, er werde zeitlebens nur Songs von Noel Gallagher oder John Lennon singen, sind lange vorbei. Aber so vorbei wie 2011 waren sie noch nie. Liam Gallagher steht mit seiner neuen Band Beady Eye kurz vor einer Mini-Tour durch Europa. Zum ersten Mal seit dem 18. August 1991, dem Tag der ersten und einzigen Oasis-Show, bevor Noel zur Band stieß, wird Liam Gallagher Konzerte ohne die Songs seines Bruders geben. Dieses Bruders, den man den größten Songwriter seiner Generation, ja den größten Songwriter seit dem im Oasis-Kosmos allgegenwärtigen John Lennon nannte. Die Credits für alle Songs von Beady Eye lauten Liam Gallagher/Gem Archer/Andy Bell (einzig Schlagzeuger Chris Sharrock hielt sich beim Komponieren zurück). Seit Noel im Jahr 2000 von seinem Songwriting-Monopol abrückte, sind es genau die Songs dieser drei, die die letzten Alben von Oasis verwässert haben. Gut, Noels Songs waren ab Be Here Now sicherlich auch nicht mehr das, was sie noch kurz zuvor waren. Doch Liams Songs hätten von Teenagern sein können, banale Lyrics um primitive Riffs. Die Ramones schufen mit diesem Rezept eine Handvoll der tollsten Songs aller Zeiten. Bei Liam ging die Mischung kein einziges Mal auf – auch nicht beim Fan-Favoriten „Songbird“: ein niedliches Liedchen, aber nicht in Ansätzen mit „Champagne Supernova“ zu vergleichen. Colin „Gem“ Archer, nach Noels Weggang zum Leadgitarristen aufgestiegen, verkrampfte sich mit seinen Kompositionen für Oasis, eiferte zu sehr seinem Idol Noel nach, nahm wie er Vorlagen und baute sie nach dem Oscar-Wilde-Motto „Talent borrows, genius steals“ aus. Aber es braucht eben ein Genie, um gut stehlen zu können. Das Stooges-Rip-off „Hung In A Bad Place“ zeigte, dass Archer kein Genie ist. Und Andy Bell verfasste zwar mit Ride Großtaten des Shoegaze, für Oasis schrieb er dann aber Zeilen wie „But I’m not your keeper, I don’t have a key /I got a piano, I can’t find the ‚C'“. Auch Noels Texte sind meistens Nonsens, aber sie inspirierten Millionen, die Welt in sie hineinzudenken.

Die Geburt von Beady Eye fiel auf denselben Tag wie der Tod von Oasis, auf den 28. August 2009. Minuten vor einem Auftritt beim Pariser Rock-en-Seine-Festival eskalierte ein Streit zwischen den Gallagher-Brüdern, Liam soll Noels Gitarre zerstört haben. Noel verließ die Band. Liam und die anderen drei gingen zurück ins Hotel und beschlossen an der Bar, weiterzumachen. Allen war klar, dass sich ihre Zukunft nicht unter dem Namen Oasis abspielen wird. Einen Monat vor seinem Abschied hatte Noel schließlich noch klargestellt: „Ich kann Oasis gar nicht verlassen. Ich bin Oasis.“ Das demonstrierte er mit zwei begeistert aufgenommenen Solokonzerten im März 2010, die er ausschließlich mit Oasis-Songs, mit seinen Songs also, bestritt. „The Masterplan“, „Slide Away“, „Whatever“ – eine Machtdemonstration? Mit ihrem im November vorgestellten Stück „Bring The Light“ versuchten Beady Eye den Sprung über die Messlatte – und gerieten ins Straucheln. Liam Gallagher singt einen Refrain aus den Wörtern „Baby hold on, baby come on“. Dazu schematisches Boogie-Piano und das Gitarrensolo aus „Everybody’s Got Something To Hide Except Me And My Monkey“ von den Beatles. Der Zuspruch von Fans und Kritikern hielt sich in Grenzen. Eine Steilvorlage für den so leidenschaftlich lästernden Noel, der aber die Größe besitzt, sich nicht öffentlich über die Emanzipationsversuche seines kleinen Bruders zu amüsieren. Nur einmal konnte er sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Als der Bandname verkündet wurde, raunzte Noel: „Der Typ hat ein Jahr Zeit, sich einen Namen zu überlegen und es fällt ihm nichts Besseres ein als, Beady Eye‘?“ Strategische Zurückhaltung? Noel weiß, dass er seinen Bruder noch brauchen wird. Ohne Liams fordernden Gesang und seine einnehmende Bühnenpräsenz sind Noels Songs, die so oft von der Erreichbarkeit unmöglich zu erreichen scheinender Ziele handeln, nicht vollendet. Auch Liams öffentliche Anfeindungen werden weniger. Dass Beady Eye größer als Oasis werden würden, dass Noel daher „very fucking soon“ zu ihnen zurückkriechen werde, behauptet er schon lange nicht mehr. Stattdessen schickte er seinem Bruder Weihnachtsgrüße über Twitter und antwortete in einem Interview auf die Frage, wer der größte Frontmann der Geschichte sei: „Noel Gallagher“. Bahnt sich da bereits die Aussöhnung an? Noch werden wir es nicht erfahren. Beim Interviewtermin mit Liam Gallagher und Gem Archer am Potsdamer Platz in Berlin sind Fragen zum Verhältnis der Brüder untersagt. Es soll allein um Beady Eye und ihr Album Different Gear, Still Speeding gehen.

Es ist eine Zeit her, dass Sie wegen Interviews nach Deutschland kamen. Wenn man Sie in den späten Neunzigern sprechen wollte, musste man schon zu Ihnen nach London reisen.

Liam Gallagher: Glauben Sie nicht, dass wir hausieren gehen! Wir sind hier, weil wir hier sein wollen. Es ist gut, aus dem Haus zu kommen. Wir sind stolz auf unsere Platte, und jetzt reisen wir herum und erzählen das den Leuten.

Diese Platte heißt Different Gear, Still Speeding. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Sie bereits im Titel so eindeutig Bezug auf Ihren Status quo nehmen.

Gallagher: Wie meinen Sie das?

Na ja, mit „Different Gear“ ist doch wohl Ihr neues, um eine Person verkürztes Line-up gemeint. Und mit „Still Speeding“ das Versprechen, dass Ihnen der Verlust dieser einen Person nichts anhaben kann.

Gallagher: So habe ich das noch nie gesehen.

Gem Archer: Der Titel kann vieles bedeuten. In England sagt man zu seinen Drogen auch „Gear“. Und dann steckt da noch „Speed“ im Titel, das fanden wir witzig. Ein guter Titel ist interpretierfähig. Er war Liams Idee.

Dabei haben gerade Sie, Liam, in der Vergangenheit häufig betont, sich mit Wörtern sehr schwer zu tun.

Gallagher: Ich brauche schon noch mehr Hilfe als die anderen bei meinen Stücken. Ich habe aber auch grade erst angefangen, Songs zu schreiben

Aber es sind doch bereits elf Jahre vergangen, seit Sie mit „Little James“ zum ersten Mal einen Song auf einer Oasis-Platte hatten.

Gallagher: Stimmt schon, aber ich bin Sänger. Ich bin nur nebenberuflich Songwriter. Texte zu schreiben finde ich hart. Das sollte aber auch für jeden hart sein. Texte sind wichtig, Mann.

An dieser Stelle verweist Archer auf die Abkürzung GAB der Autorencredits Gallagher/Archer/Bell: „The gift of the gab“. „Gab“ ist ein altes englisches Wort für „Mund“, die Redewendung feiert die Sprachfähigkeit des Menschen. Doch Gallaghers Sprache zählt sicher nicht zu seinen Stärken. In einem Interview für das britische Magazin „Q“ antwortete er auf die Frage, ob er sich inartikuliert fühle: „Was bedeutet dieses Wort?“ Bevor er seine Sätze zu Ende bringt, lässt er sie gern in ein „D’you know what I mean?“ übergehen, „fuckin'“, besser: „fookin'“ dürfte sein Lieblingsadjektiv sein. Seit seiner Geburt wird er von seinem Bruder wegen mangelnder Eloquenz gehänselt. Keine Frage, woher Liams ständige Kampfbereitschaft kommt. 38 Jahre hatte er Zeit, seine Aura der Unberührbarkeit zu perfektionieren. Stechend starrt er sein Gegenüber unter einem klettverschlussartigen Verbund aus wuchernden Augenbrauen und Mireille-Mathieu-Pony an. Doch trotz seines scheinbar unveränderlichen Blicks ist Gallagher ständig in Bewegung, ballt seine Hände zu Fäusten wie eines dieser Aggrokids, aufgrund deren man an der nächsten Station das U-Bahn-Abteil wechselt. Dabei geht es Gallagher, befreit vom Spott des Bruders, so gut wie seit Jahren nicht mehr.

Oasis war eine wohlwollende Diktatur. Beady Eye scheinen demokratischer organisiert zu sein.

Archer: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Noels Abschied ist keine Erlösung für uns! Noel ist mein Freund, wir stehen in Kontakt.

Gallagher: Wir nicht. Und das ist okay so. Mir ging’s aber auch bei Oasis gut. Warum ich mich heute freier fühle, hat weniger mit Noel als mit unserer Produktionsweise zu tun. Bei Oasis sang ich meine Spuren als Allerletztes ein, ich musste also vor allem warten. Diesmal kam ich direkt nach Gitarre und Schlagzeug dran, war viel involvierter. Die Stimmung hat mich sehr an die von den offenen, spontanen Aufnahmen zu Definitely Maybe und Morning Glory? erinnert. Jeder hatte immer was zu tun. Außerdem war es Sommer. Die Sonne schien uns an und wir schienen zurück. Ich bin glücklich – auch wenn man mir das nicht ansieht. Ich muss nicht den ganzen Tag lächeln.

Mit 13 Songs verfügt Ihr neues Album über mehr Stücke als jede Oasis-Platte. Ist bereits die Länge der Tracklist Ausdruck Ihrer Zufriedenheit mit dem neuen Material?

Gallagher: Die Platte steht auf diesen 13 Songs. Hätten wir einen weggenommen, müsste die Platte humpeln. Und das sähe doch lächerlich aus.

Auf dem Album finden sich nicht nur neue Songs. Manche davon, wie „The Roller“, führten seit Jahren eine Existenz als Demo.

Gallagher: Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass diese Songs für Oasis gedacht waren und von Sie-wissen-schon-wem abgelehnt wurden, dann liegen Sie falsch. Ich verrate Ihnen nicht, welche Songs alt sind, aber ich sage Ihnen, welcher der neueste ist: „Bring The Light“.

Ein simpler Südstaatenrocker. Eine kontroverse Wahl als Vorbote für ein Album, das sehr nach dem Norden klingt, nach den Beatles und den Stones. Das Stück kam bei Fans und Kritikern nicht gut an.

Gallagher: Wir haben uns für ihn entschieden, weil er der verrückteste Song auf dem Album ist. Er klingt nach Elvis. Spiel einem Kind den Song vor und das Kind tanzt. Es gab immer Leute, die unsere Musik verachtet haben. Aber Kontroversen sind gut – sie bedeuten, dass du wahrgenommen wirst.

Es dürfte unausweichlich sein, dass Besucher Ihrer Konzerte Oasis-Songs fordern. Wie werden Sie reagieren?

Gallagher: Die werden gar keine Zeit haben, irgendwas zu fordern. Wir werden die mit einem Kracher nach dem anderen bombardieren.

Archer: Ich liebe die alten Oasis-Sachen. Aber jetzt ist es an der Zeit, diese neuen Songs zu spielen.

Nach zehn Jahren als Bassist bei Oasis ist Andy Bell zu seinem Ursprungsinstrument, der Gitarre, zurückgekehrt. Sie haben also keinen festen Bassisten. Ist Ihre Personalplanung dennoch abgeschlossen?

Archer: Im Moment fühlen wir uns sehr zufrieden so. Auf der Platte teilen Andy und ich uns die Bassspuren, das war auch bei Oasis schon so. Live spielt Jeff Wootton den Bass.

Der Live-Gitarrist der Gorillaz, ausgerechnet.

archer: Damon Albarn findet das saukomisch, ich finde einfach, dass Jeff ein großartiger Musiker ist. Ironie des Schicksals gehört zum Leben.

Als Sie damals mit Oasis anfingen, wurde Ihnen nicht länger als zwei Jahre gegeben. Die Implosion der Band bedrohte Sie durch die ständigen Streits mit Ihrem Bruder vom ersten Tag an. 20 Jahre später stehen Sie erneut vor einer Tour mit neuen Songs, während viele Ihrer ehemaligen Konkurrenten wie Blur, Suede und Pulp Nostalgieshows spielen. Beeindruckt Sie das?

gallagher: Gute Beobachtung, aber nein: Mich beeindruckt gar nichts mehr. Die sind stehengeblieben, wir machen weiter. Beim Gedanken daran, in zehn Jahren wieder mit Oasis zu touren, könnte ich kotzen. Wozu soll eine Reunion gut sein? Warum löst du eine Band auf, um sie später wieder zusammenzubringen und alte Songs zu spielen? Was soll die Scheiße? Wir sind jetzt in dieser Band Beady Eye solange wir Bock drauf haben. Währenddessen machen wir ein paar verdammt gute Platten. Die nächste wird der Hammer, das kann ich Ihnen heute schon sagen!

Ein Liam-Gallagher-Schlusssatz wie man ihn sich wünscht. Vielen Dank für das Gespräch!

Gallagher: Klar, Mann! Darf ich Ihnen noch schnell eine Frage stellen?

Aber natürlich.

Gallagher: Dackel kommen doch aus Deutschland, oder?

Soweit ich weiß, ja.

Gallagher: Ich hab‘ jetzt auch so einen, hier: Ruby heißt sie (kramt sein iPhone hervor und zeigt darauf das Bild eines schwarzbraunen, in einem Bett liegenden Dachshundes).

Süß. Der Dackel ist in Deutschland leider fast vom Aussterben bedroht. Hundert Jahre lang war er fester Bestandteil der deutschen Durchschnittsfamilie, doch seit ein paar Jahren gehen die Geburtenzahlen stark zurück. Vielleicht wird bald der letzte Dackel geboren.

Gallagher: (springt auf, tänzelt mit etwas Fantasie wie Muhammad Ali durch den Raum) Das werde ich zu verhindern wissen! Sobald ich wieder in England bin, kaufe ich 900 Dackel. Ich rette die vor dem Untergang!

Dann lacht er. Laut. Ein sehr selten vernommenes Geräusch aus dem strengen Mund Gallaghers. Und trotz des offensichtlichen Scherzes könnte man ihm tatsächlich kurz glauben. Dass er die Dackel wirklich retten kann. Gallagher weiß, wie wichtig Inszenierung in seinem Geschäft ist. Das Wesen des Fans zeichnet sich – den ersten Schmetterlingswochen einer Beziehung nicht unähnlich – durch den Spaß am bewussten Irrglauben aus, durch die Projektion eigener Wünsche und Hoffnungen auf den Verehrten. Besonders reizvoll ist dieses Spiel, wenn die Fantasie einen wahren Kern hat. Als Söhne eines prügelnden Vaters, die bereits in Kindestagen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, schien die Zukunft der Gallaghers vorhersehbar. Dann nahmen sie die drittmeistverkaufte Platte der britischen Geschichte auf. Oasis haben mit ihrer Biografie mindestens einer Generation Perspektiven geschenkt, so eskapistisch diese auch sein mögen. Genau das sollten Rockstars tun. Liam Gallagher ist der letzte ihrer Gattung. Live Forever … und spätestens die übernächste Platte wieder mit Bruder, jede Wette!