Französisch bleiben


Ihr weltweiter Erfolg macht Phoenix zu einer Band, für die sich immer häufiger Fragen nach der eigenen Identität stellen. Zum Glück hat man als Mitglied dieser Band immer drei Freunde dabei, mit denen sich so etwas gut diskutieren lässt.

Christian Mazzalai swingt den Hotelflur entlang. Er reibt sich die Hände: „Ich will arbeiten!“ Kann er gleich, denn der Gitarrist des französischen Quartetts Phoenix darf im Berliner Regent Hotel Interviews am Fließband geben. Sein Kollege, Sänger Thomas Mars, telefoniert noch. Er wirkt müde. Möglicherweise weil die Grippe in der Entourage grassiert. Medikamente wandern durch verschiedene Hände, nur Christian streicht sich die schwarzen Haare nach hinten und strahlt wie ein Honigkuchenpferd.

Es ist wohl die Erleichterung, nach vier anstrengenden Jahren endlich ein neues Album produziert zu haben. BANKRUPT! ist der Nachfolger auf die insbesondere in den USA gefeierte Platte WOLFGANG AMADEUS PHOENIX. Ihre Lieder tauchten gleich in mehreren Fernsehserien auf, in Werbeclips und in Kinofilmen. Das Album gewann 2009 einen Grammy als „Best Alternative Music Album“. Thomas Mars reagierte auf die Trophäe so: „Das hört sich nach einem Witz an.“

Bis zu dem preisträchtigen Witz war es ein langer Weg. Als Garagenrocker versuchten sich Thomas Mars, Deck d’Arcy und Christian Mazzalai schon in den Neunzigern. 1995 stieß Mazzalais älterer Bruder, Laurent Brancowitz, dazu, der zuvor sein Beach-Boys-inspiriertes Bandprojekt Darlin zu Grabe getragen hatte – Mitglieder dieser Band: Thomas Bangalter und Guy-Manuel de Homem-Christo, die inzwischen Daft Punk gegründet hatten. Erste Auftritte hatten sie mit den Retro-Elektronikern von Air, die auch aus Versailles stammen, bis 2000 das Phoenix-Debüt UNITED erschien. So viel soften Rock hatte man lange nicht mehr gehört, so viel flirrende Popsongs aber eben auch nicht. Langsam erspielten sie sich eine Fangemeinde, der Modemacher Hedi Slimane war darunter – und auch die Regisseurin Sofia Coppola („Lost in Translation“, „Somewhere“), die Thomas Mars 2011 heiratete.

Über weitere drei Alben hinweg blieben Phoenix ihrem Stil treu und arbeiteten sich vor allen in Fragen des Sounds und der Arrangements weiter voran: leicht klingende, aber durchaus zugkräftige Popmusik, die mit Funk und Elektro aufgehübscht wurde. Und nun also das fünfte Werk, eine energiegeladene Platte mit einem stellenweise beinahe aggressiven Sound – möglicherweise das Album, das entscheiden wird, ob die Mittdreißiger demnächst Millionenseller und Stadionrocker werden – oder weiterhin die Kunststudenten und After-Hour-Mädchen beglücken.

Christian Mazzalai ist bereit, er will arbeiten, und nun hat sich auch Thomas Mars in Position gebracht. Die Haare fallen in die Stirn, der Blick hängt stumpf an der Tischplatte. Ein Stimmungsgetränk täte jetzt nicht schaden.

Enttäuschend. Hier steht gar kein Champagner auf dem Tisch.

Thomas Mars: Ja, nur Wasser. Vielleicht bin ich deshalb so müde.

Die neue Platte soll unter Mithilfe so einiger Champagnerflaschen entstanden sein.

Mars: Das haben wir unserem Produzenten Philippe Zdar zu verdanken. Er hatte immer einen Vorrat im Kühlschrank. Wenn wir den öffneten, stapelten sich die Flaschen darin, von einem kleinen Familiengut aus der Champagne.

Zu welchen Anlässen köpfte er die Flaschen?

Christian Mazzalai: Jeder Anlass war ihm recht. Nein, im Ernst, wenn er dachte, wir hätten eine gute Idee, so jeden zweiten oder dritten Tag, dann öffnete er eine Flasche. Aber wir tranken nur ein Glas, ganz kultiviert.

Das wohltemperierte Trinken scheinen Franzosen von klein auf zu lernen.

Mars: Auf Kindergeburtstagen gab es oft Champagner. Wir tauchten einen Finger in das Glas und durften ihn dann ablecken. Das war bei uns Sitte. In meiner Familie war Champagner nicht exklusiv, sondern für jeden da. Die Champagne ist gar nicht so weit weg von Paris, bei uns ist das Getränk nicht so teuer wie anderswo auf der Welt.

Wie schon Mark Twain sagte: „Zu viel von allem ist schlecht, aber zu viel von Champagner ist herrlich.“

Mazzalai: Klingt nach Oscar Wilde. Ich finde übrigens nicht, dass er Recht hat.

Mars: Ganz sicher nicht! Zu viel Champagner führt zu ganz furchtbaren Kopfschmerzen. Ich kann mich an einige Kater erinnern, die ich ihm verdanke. Gar nicht lustig.

Auch nicht lustig ist euer neuer Albumtitel – BANKRUPT! Allen Ernstes behauptet ihr, das hätte nichts mit der Finanzkrise zu tun. Welcher Teufel hat euch denn da geritten?

Mars: Wieso, für uns steht das in keinem Zusammenhang …

Entschuldigung, in unseren Zeiten klingt das genauso, als würdest du behaupten, McDonald’s habe nichts mit Hamburgern zu tun …

Mars: Es gibt aber ja unterschiedliche Arten des Bankrotts: den finanziellen und den moralischen. Wir setzen uns eher mit letzterem auseinander. Du hast natürlich recht, heutzutage schwingt eine andere Bedeutung bei diesem Wort mit. Für den Titel BANKRUPT! haben wir uns am Ende aber vor allem deshalb entschieden, weil das in der von uns ausgesuchten Typographie einfach gut aussah. Das Ausrufezeichen dahinter – erst dann der Bandname. Diese Kombination hat uns gefallen. Aber Finanzen, Geld … nein, das interessiert uns nicht.

Jeder braucht Geld.

Mars: Aber wir haben nichts mit der ganzen Geschäftemacherei am Hut. Wir wollen keine Marke aus Phoenix machen. Auch wenn das mit dem zunehmenden Erfolg einige Menschen aus unserem Umfeld von uns erwarten: „Benutzt dasselbe Logo wie das letzte Mal! Denkt an den Wiedererkennungswert!“ Doch wir wollen Kunst um der Kunst willen kreieren. Reichtum, Erfolg, das ist nicht relevant für uns. Im Gegenteil: Wir hatten von Anfang an Angst davor, erfolgreich zu werden.

Schlechte Nachricht: Der Plan ist nicht aufgegangen. Wovor hattet ihr denn Angst?

Mars: Dass wir uns künstlerisch verraten. Das ist bis heute unser größter Albtraum.

Seht es doch einmal andersherum: Je mehr Alben ihr verkauft, umso größeren kreativen Spielraum verschafft euch das.

Mars: Erfolgreich und integer zu sein, das ist ein Balanceakt. Und der ist verbunden mit vielen kleinen Kämpfen, jeden Tag. Immer wieder geht es darum, nein zu sagen. Man will eben nicht sein wie ein Konzern, der um des reinen Wachstums willen immer größer wird.

Mazzalai: Ich bin überzeugt davon, dass wir immer noch dieselbe Freiheit wie zu Beginn unserer Karriere haben. Weil wir nie Kompromisse gemacht haben. Wir tun das, was wir tun wollen. So wie wir das auch schon als Teenager mit Phoenix gemacht haben.

Hattet ihr damals ein Vorbild, nach dem ihr eure Karriere aufbauen wolltet?

Mars: Ja, Dinosaur Jr.! Die habe ich live gesehen und sie haben ihr damaliges Album GREEN MIND (1991 – Anm. d. Red.) dermaßen laut und kompromisslos gespielt. Ihnen war völlig egal, ob das die Menschen vielleicht sogar dazu bringt, den Saal zu verlassen. Oder auch Beck in den 90er-Jahren … Der hat damals wirklich unerhörte Musik produziert und trotzdem eine großartige Bühnenshow auf die Beine gestellt. Das hat uns ermutigt, „anders“ zu sein.

Mazzalai: Unser Konzept ist dasselbe wie am Anfang: vier Freunde in einer Band. Wir verdienen nach wie vor alle das gleiche Geld. Nur wir reden nie darüber, wie viel es ist.

Weil das zu bourgeois ist?

Mars: Wir sind in Versailles in den 90er-Jahren aufgewachsen. Da galt die Regel: Wenn du dein Geld zur Schau stellst, guckt dich bald keiner mehr an. So machte man sich keine Freunde … Dabei fällt mir allerdings gerade ein: Als ich Christian kennenlernte, wir waren so etwa 15 Jahre alt, da habe ich ihm ein Sandwich ausgegeben …

Mazzalai: Ich war total schockiert! Es war ziemlich teuer, ich hätte mir das niemals selbst gekauft. Aber ich werde dieses Sandwich nie vergessen: es war mit gebratenem Ei, das zwischen die Brotscheiben gelegt wurde. Wir hatten eine Stunde Zeit zwischen zwei Unterrichtsstunden, und es dauerte 40 Minuten, bis das Ding endlich fertig war.

Mit 18 Jahren habt ihr Versailles sofort in Richtung Paris verlassen …

Mazzalai: … und zwar ganz bewusst.

Weil du nicht „wie in einem Museum“ leben wolltest, wie du einmal gesagt hast?

Mars: Alles Großartige dort ist in der Vergangenheit passiert. Davon lebt die Stadt. Dazwischen gibt es keinen Platz für Neues.

Mazzalai: Es tut sich sehr wenig. Wenn wir heute nach Versailles fahren, gehen wir immer noch in dieselbe Bar, in die wir als Teenager gegangen sind. Mangels Alternativen.

Wie heißt diese Bar?

Mazzalai: Es ist ein Pub: O’Paris. Gegenüber vom Schloss. Um ehrlich zu sein: Er gehört Thomas‘ Vater. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir einmal in den Sommerferien alle zur selben Zeit dort gearbeitet. Ich habe draußen Eis an Touristen verkauft. Schrecklicher Job, ich habe immer gleich wieder vergessen, was die Leute bestellt hatten.

Mars: Ich kellnerte – für etwa zwölf Minuten. Ich hatte einen Teller mit Essen auf dem Arm, ging durch den Pub, dann rief mich jemand von der Bar, ich drehte mich um – und die Sauce tropfte vom Teller direkt in eine Hermès-Handtasche hinein. Zum Glück war die Dame ausgenommen freundlich. Sie hat nicht gezetert und sich nicht beschwert. Es war trotzdem das Ende meiner Kellner-Karriere. Danach habe ich nur noch hinter der Theke gearbeitet.

Mittlerweile nehmt ihr Platten auf der ganzen Welt auf. 2006 kamt ihr nach Berlin, um IT’S NEVER BEEN LIKE THAT zu produzieren. Ihr wart damals erstaunt darüber, dass die Mädchen hier nicht erwarten, wie Prinzessinnen behandelt zu werden – anders als in Paris …

Mars: Pariser Mädchen sind schon eine Marke für sich.

Mazzalai: Stimmt … (Sein Telefon vibriert.) Ah, da klingelt mein Mädchen. Wenn das kein Zeichen ist …

Mars: Sie ist ein gutes Pariser Mädchen. Viele andere haben jedoch diese Haltung, dass nichts gut genug ist für sie. Ich denke, das kommt daher, weil Frankreich ein zentralisiertes Land ist und Paris der Mittelpunkt. Hier ballen sich nicht nur die Künste, sondern auch der Snobismus und die Ignoranz.

Mazzalai: Der Rest von Frankreich existiert für Pariser nicht, auch wenn es nur eine Fahrt von zehn Minuten aus der Stadt raus ist. Versailles ist für Pariser die erste Stadt auf dem Weg in die Hölle. Für die sind wir ein anderes Land.

Thomas, du hast einmal gesagt, jede Platte sei wie ein Fotoalbum für dich. Welche Bilder seht ihr, wenn ihr an eure Berliner Platte zurückdenkt?

Mazzalai: Ich sehe das ß auf dem Straßenschild der Kopenhagener Straße, an dem ich jeden Morgen vorbei ging. Wir haben im Prenzlauer Berg gewohnt und sind immer zu den alten DDR-Rundfunkstudios in Köpenick gefahren.

Mars: Ich sehe die Cafeteria der Studios. Sie wurde zu Zeiten Stalins erbaut, in den Fünfzigern. Sie war seit Jahren fast verlassen. Es gab dort zwei Gerichte: Bockwurst und Bratwurst.

Und welche Bilder erscheinen vor eurem inneren Auge beim Gedanken an BANKRUPT!?

Mazzalai: Ein französisches Bonbon!

Mars: Da tauchen fast keine Bilder auf. Das liegt daran, dass wir uns bei den Aufnahmen kaum Ablenkung gestattet haben. Die einzige Ablenkung, die mir einfällt, ist der Sohn von Philippe Zdar, James. Er war zwei Jahre alt, jeden Tag zwischen zwölf und drei kam er ins Studio. Er saß da auf dem Boden, sagte plötzlich: „Bass!“, und Philippe gab ihm eine Bassgitarre, auf der er mit seinen kleinen Fingern herumspielen konnte. Nach ein paar Minuten hatte er genug davon, dann sagte er: „Gitarre, diese da!“ – und er bekam eine Gitarre. Später gab ihm Philippe Bonbons, um ihn abzulenken. Deshalb denkst du vermutlich an Bonbons, oder, Christian?

Den ersten Teil der Platte habt ihr in New York aufgenommen. Wie wichtig war dieser Ort für die Produktion?

Mars: Die Stadt hat die Musik nicht beeinflusst. Wir hätten auch in Saudi-Arabien aufnehmen können. Ich wohne ja mittlerweile in Manhattan. Das war auch ein Grund, warum wir uns eine Zeit lang dort verkrochen haben.

Mazzalai: Die Stadt hat uns höchstens dahingehend beeinflusst, dass wir uns dort mehr darauf besannen, französisch zu sein. Wir hatten gerade eine zwei Jahre andauernde Welttournee hinter uns, zogen in eine Wohnung nach Chinatown und bemerkten plötzlich, wie fremd wir uns fühlten.

Wie hat sich das geäußert?

Mazzalai: Allein die Tatsache, dass Sport und Unterhaltung dort gleichgesetzt werden, schockierte mich zutiefst.

Mars: Ich vermisse bestimmte Manieren. Ich verstehe nicht, warum Menschen mit Jogginghosen in Flughäfen herumlaufen oder Mädchen in New York sich am Samstagabend wie Nutten auftakeln. Wenn ich dann wieder in Frankreich bin, fehlt mir hingegen die Lebensqualität von New York. In der Stadt kannst du um Mitternacht auf dem Dach Trampolin springen, wenn du willst. Und die zeitgenössische Kunstszene ist wirklich beeindruckend.

Wie habt ihr euer Heimweh bekämpft?

Mazzalai: Wir hörten viel Musik aus Frankreich und sahen uns französische Filme an. Ich habe Eric Rohmer wieder entdeckt, ein toller Regisseur. Filme wie „Vollmondnächte“ oder „Die Sammlerin“ kann ich nur empfehlen.

Mars: Ja, großartig nervtötend!

Mazzalai: Wie bitte?

Mars: Versteh mich nicht falsch, das sind gute Filme, aber als Zuschauer hasst du dennoch jede einzelne Figur.

Thomas, hast du deine Frau, Sofia Coppola, mit Rohmer vertraut gemacht?

Mars: Den kannte sie schon vorher. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihn mag. Wir haben zu Hause eine Rohmer-Box, 16 DVDs oder so. Manchmal schauen wir eine, aber danach braucht man erst einmal wieder eine Pause.

Dazu gibt es dann kalifornischen Rotwein vom Weingut von Francis Ford Coppola …

Mars: Nein, natürlich französischen. Ich bitte dich! Oder italienischen.

Und wenn man dann vielleicht einen über den Durst getrunken hat … Hast du schon einmal Sex zu deiner Musik gehabt?

Mazzalai: Ha ha, was für eine Frage!

Mars: Oh Gott, nein! Es ist schon schlimm genug, die eigene Stimme im Radio oder so hören zu müssen.

Hört ihr euch nie eigene Musik an, nachdem sie erschienen ist?

Mazzalai: Das ertrage ich höchstens direkt nach dem Mastering, danach nicht mehr.

Warum nicht?

Mazzalai: Es ist, als würde ich ein altes Bild von mir betrachten, irgendetwas mag ich daran nicht, weiß aber, dass ich es nicht mehr ändern kann.

Mars: Unser Gitarrist Bronco sagt immer: „Das ist so, als würde ich mich selbst küssen.“

Glaubt ihr, dass andere Menschen Sex zu eurer Musik haben?

Mazzalai: Wäre das was für dich?

Zu soft.

Mars: Schau, mir hat gerade einer deiner Kollegen bestätigt, dass es sehr wohl Menschen gibt, die es zu unserer Musik treiben. Er erzählte, ein Freund hätte den besten Sex seines Lebens bei einem Phoenix-Song gehabt. Und er bestand darauf, dass es am Lied gelegen hat. Ich fand das lustig.

Eines eurer Idole, Prince, ging da ja öfters in die Vollen wie in dem Song „Get Off“: „22 positions in a one-night stand“. Dreht sich die Musik von Phoenix um Sex?

Mars: Ich liebe Prince. Als er in den 90er-Jahren jedoch damit aufhörte, über Sex zu singen, wurde er langweilig. Unsere Musik ist wie eine Landkarte unserer Seelen. Und wir sind Jungs, klar taucht da auch mal Sex auf – aber wir sind nicht besessen davon.

Albumkritik S. 82