Fünf flogen übers Kuckucksnest


Der Weg des geringsten Widerstands war für Radiohead nie eine Option - die Umwege führten sie immer wieder an Abgründe von Wahn und Depression. Jetzt sind sie zurück, mit neuem Selbstvertrauen und einem grandiosen sechsten Album. Der ME kartographiert die Historie der ehrgeizigsten und faszinierendsten Band unserer Tage. Und trifft ihren notorisch nervenbündeligen Kopf Thom Yorke zu einem überraschend entspannten Gespräch.

Wenn man Thom-Yorke-Interviews aus früheren Jahren liest, kann einem ganz anders werden: Gestatten, Yorke, der Gesprächspartner mit dem tötenden Sarkasmus, der Interviewern die Hälfte ihrer Prägen in Fetzen gerissen wieder ins Gesicht zurückspuckt. Der einem Redakteur, der ihm in der Vergangenheit übe! mitgespielt hatte, noch vor zwei Jahren anbot, er werbereiten. Oder einfach gar nichts sagt und die Augen Kur Zimmerdecke rollt.

Man betritt die Suite im mondänen Londoner Landmark-Hotel, wo Radiohead an diesem Freitag im April Teile der Huropa-Presse zu ihrem neuen Album Hail To The Thief erledigen, also mit einigem Respekt. Thom spricht ziemlich leise, etwa so“, hilft die Dame von Parlophone/EMI beim Einstellen des Minidisc-Pegels, dann schlurft er herein, Thom Yorke, zierlich, eine schicke Meerschweinchenfrisur auf dem Kopf, und lächelt verhuscht mit fürchterlich sympathisch schiefen Zahnen. Freundlich erkundigt er sich nach dem Namen des Interviewers, den man ihm draußen schon gesagt hat aber nur zur Sicherheit, wie war der nochmal? „Ah ja, hallo.“ Und: „Wie geht’s?“ Ach ja, ein bisschen gestresst. „Wirklich?“ Der Schrecken von Oxford lohnt sich in seinem Sessel zurück…Dann entspannen wir uns doch eine Minute.“ Entspannen? Nun ja. in der Tat ist wenig zu spüren von dem „stalinistischen Angstklima“, das Yorke einst unter seiner Band und seinen Mitarbeitern geschaffen haben will. Nichts zu merken vom „ängstlichen Trippeln der Leute um ihn herum wie Hofdiener um einen Tyrannen“, das der Journalist Stephen Dalton vor Jahren beobachtete. Entspannen also. Das wäre jetzt der richtige Zeitpunkt Für so einen Flashback-Schwurbel, wie in einem dieser Filme. Ah, praktisch, da kommt er schon. Shwiiiing…

1982. Thomas Edward Yorke ist 14, als er Sänger von TNT wird, einer Punkband an der Abingdon Public School nahe Oxford. in der auch sein Klassenkamerad Colin Greenwood spielt. Yorke hat zu diesem Zeitpunkt bereits Songs geschrieben und sein erstes Bandprojekt, ein crashiges Art-Pop-Duo, hinter sich. Nach dem Ende von TNT, etwa fünf Jahre später, bietet Yorke Greenwood an, als Bassist in der neuen Band anzufangen, die er drauf und dran ist, mit einem Jungen aus dem Jahrgang über ihnen, Ed O’Brien, zu gründen. Als Drummer kommt ein ruhiger Typ aus der Klasse über O’Brien dazu, Phil Selway. Yorkes erste Worte zu ihm sind Legende: „Kannst du nicht etwas schneller spielen?“ Zum Unwillen der um ihre Coolness besorgten Post-Pubertierer will auch Colins zwei Jahre jüngerer Bruder Jonny in die Band – beim Debüt-Gig von On A Friday (so benannt, weil die Bandmitglieder wegen ihrer Uni-Verpflichtungen nur an Wochenenden Zeit zum Proben finden). 1987 in der Jericho Tavern in Oxford darf Jonny als viereinhalbtes Bandmitglied mit seiner Harmonika herumlungern. Jahrelang passiert dann zunächst wenig. Die Bandmitglieder studieren außerhalb Oxfords (Yorke Englisch und Kunst in Exeter. wo er Gitarre in der Elektronikband Flickernoise und in der Avant-Punk-Band Headless Chicken, später Headless, spielt), proben wenig. 1990 wandert ein Tape mit den gesammelten Werken von On A Friday in die Hände von Chris I Ulfford und Bryce Edge (in den 80ern Mitglieder der New-Romantics-Band Aerial FX), die im nahe gelegenen Weiler Sutton Courtnenay das Courtyard Studio betreiben. Sie sind wenig angetan von der Kraut-und-Rüben-Mischung aus Rip-offs von The Jam bis Pixies – erst beim letzten Track wird Hufford hellhörig. „Das war so ein loopiges Dance-Ding, komplett durchgedreht“, erinnert er sich später.

Nachdem sie im Frühsommer 1991 ihre Unis abgeschlossen haben (außer Jonny, der gerade einen Psychologie-und-Musik-Kurs am Oxford Poly anfängt), beschließen die Mitglieder von On A Friday, sich ernsthaft ihrer auf Sparflamme kochenden Band zu widmen. Eine heruntergekommene Doppelhaushälfte dient als Übungsraum. Bei einem Gig in der Jericho Tavern – dem Zentrum der „anderen“ Oxforder Szene abseits von angesagten Shoegazern wie Ride und Slowdive glaubt Chris Hufford, den ein weiteres, ausgefeilteres Demo (Titel: „The Manie Hedgehog“, u.a. mit „Stop Whispering“) neugierig gemacht hat, seinen Ohren nicht zu trauen: „Ich war hin und weg“, sagt er später. „Unter den jungen Bands in der Gegend damals gab es keine guten Performer und Sänger. Aber Thom war unglaublich. Und diese brillanten Songs mit der Power von drei Gitarren – ich konnte sie mir auf Weltniveau vorstellen, damals schon“ Mitte August haben die hageren Figuren von On A Friday, bekannt als „Oxfords thinnest band“, einen Management-Vertrag mit Hufford und Edge in der Tasche.

Etwa zu dieser Zeit kommt Keith Wozencroft, Vertriebs-Vertreter bei der EMI, in die Our-Price-Filiale in Oxford und erzählt dem Angestellten an der Kasse des Plattenladens von seinem neuen Posten als EMI-A&R-Mann, den er in den nächsten Tagen antreten wird. „Du solltest meine Band signen“, empfiehlt der und gibt Wozencroft das neue Demo von On A Friday. Der Angestellte ist Colin Greenwood – und Wozencroft beeindruckt von dem , was er hört. On A Friday ist das erste Thema, das er seinem neuen Boss, EMI-A&R Director Nick Gatfield (Ex-Dexy’s Midnight Runners), präsentiert. Auch der ist angetan, und im Herbst taucht das EMI-Team bei einem On A Friday-Gig in der Jericho Tavern auf, dem – das Demo hat Wellen geschlagen – auch Vertreter anderer Major-Labels beiwohnen. Am 22. Dezember 1991 unterschreiben Thom Yorke, Colin Greenwood, Ed O’Brien, Phil Selway und Jonny Greenwood, der inzwischen die Uni geschmissen hat und volles Bandmitglied ist, in London einen Acht-Alben-Deal mit dem EMI-Label Parlophone, demselben Label, auf dem einst die Beatles waren. „Wir standen am Lekester Square rum: ,Yeah! Wir sind gesignt!‘ Bei der Rückfahrt nach Oxford im Regen machten wir uns dann schon Sorgen“, erzählt Colin Greenwood später dem Magazin Uncut. In Oxford, wo man noch einen heben wollte, verpasst man sich dann. Greenwood: „Ein typischer Radiohead-Tag!“ Nur gibt es damals noch gar keine Radiohead-Tage. Das sollte sich bald ändern.

Seit Monaten hat Ed O’Brien ihn mit Einladungen zu Konzerten von On A Friday überhäuft, im Februar 1992 endlich macht sich der Student John Harris, Oxford-Korrespondent des Melody Maker, später Chefredakteur des Magazins Select, auf, um sie sich in der Co-Op Dining Hall anzusehen. Sein Bericht ist begeistert („Viel versprechend‘ wäre glatt untertrieben! „) -bis auf eine Sache: „Fürchterlicher Name. Passt zu bierbäuchigen Pubrock-Typen, aber nicht zu dieser Band.“ On A Friday nehmen sich Harris‘ Bemerkung zu Herzen und überlegen eine Namensänderung: Gravitate, Jude und Music (die Idee schnappten sich später andere) sind Kandidaten, das Rennen macht der Titel eines Songs vom i987er-Talking Heads-Album True stories: „Radio Head“.

Am 5. Mai erscheint Radioheads erster Release, die von Hufford produzierte „Drill E.P.“, angesiedelt zwischen Pixies und Dinosaur Jr. Obwohl das Stück „Prove Yourself“ unerwartete Unterstützung von Radio-One-DJ Gary Davies (eine Art Thomas Gottschalk) bekommt, der den Song mit seinen Suizid-Anspielungen mehrmals in seiner Mainstream-Morgenshow spielt, erreicht die EP. nur Platz 101 der UK-Singles-Charts. Die ehrgeizige Band ist enttäuscht, Wozencroft erfreut über den Debüt-Erfolg.

Für Nick Gatfield ist klar, dass die Band, die weniger mit den die UK-Szene dominierenden Shoegazer- oder Baggy-Typen als mit US-Indierock/Grunge zu tun hat, Leute brauchte, die mit diesem Sound umgehen können. Für die nächste Single holt er das Bostoner Produzenten-Duo Paul Q. Kolderie und Sean Slade, die – zum Entzücken der Band – schon mit den Pixies, Dinosaur Jr. und Buffalo Tom gearbeitet haben. Die Sessions mit den von Gatfield ausgesuchten Songs „Inside My Head“ und „Lurgee“ verlaufen aber stockend. Um die Stimmung zu heben, schlägt Kolderie vor, die Band solle doch einen Song probieren, den sie Tage zuvor einmal angespielt und den Yorke als „unseren Scott-Walker-Song bezeichnet hat. (Kolderie und Slade missverstehen die Bemerkung anfangs als „ein Scott-Walker-Song“; Kolderie: „Wir dachten: Schade, ihr bestes Stück ist ein Cover“.) Die Band spielt das Stück in einem Take ein, nur Yorkes Gesang wird später overdubbt. „Als sie fertig waren“, so Kolderie, „war es kurz still im Studio, dann brach Applaus los!‘ Der Song, ein von Minderwertigkeitskomplexen gerittener Abgesang Yorkes auf eine „ernste, aber erfolglose Obsession“, offenbar mit einer Studentin in Exeter, war „Creep“. Bald ist klar, dass er die nächste Single sein wird und Kolderie und Slade Radioheads erstes Album produzieren sollen.

Pablo Honey entsteht in drei Wochen im Sommer 92, wird dann zunächst auf Eis gelegt. In der Zwischenzeit tourt die Band, unter anderem als Support von The Frank And Walters. Drummer Ashley Keating erinnert sich später: „Ich hatte noch nie so eine Band erlebt. Tranken nicht, waren nicht hinter den Mädchen her. Man konnte nicht unbedingt von der Musik her drauf schließen, dass sie groß werden würden, aber von der Art, wie sie zusammenhingen. Die hatten ganz klar einen Plan in der Tasche, sie sahen the bigger picture.“

Am 21. September erscheint „Creep“, geht aber nach 6.000 verkauften Stück (Platz 78) zunächst unter; Radio One ist der Song „zu deprimierend“. Ein noch herberer Schlag kommt Ende des Jahres: In der Weihnachtsausgabe des NME vollzieht Keith Cameron in einem Konzertbericht eine rituelle Schlachtung der Band: „Radiohead sind eine jämmerliche Weichscheißer-Ausrede von Rockband „steht neben vier betont unvorteilhaften Yorke-Fotos. Es ist der Beginn einer wundervollen Feindschaft.

Von der Veröffentlichung von Pablo Honey am 22. Februar 1993 nimmt niemand viel Notiz, da kommen plötzlich gute Nachrichten aus dem Nahen Osten: Ein DJ des israelischen Armee-Senders IDF hat „Creep“ zu einem Hit im ganzen Land gemacht. „Die Jungs haben seither einen ‚softspot‘ für Israel“, erzählt Carol Baxter vom Parlophone International Department später. Radiohead touren in Israel, Jonny Greenwood lernt auf der Reise seine spätere Frau Sharona kennen. Mittlerweile haben auch amerikanische Sender wie LA KROQ „Creep“ entdeckt, und Radioheads US-Label Capitol beutet den Hit gnadenlos aus. Es folgt ein zermürbender Promo-Zirkus mit 18-Stunden-Tagen vollgestopft mit Interviews, peinlichen Promo-Aktionen und Konzerten vor Kids, die sich einzig und allein für diesen Song interessieren, der sich – wie kurz zuvor „Smells Like Teen Spirit“ für Nirvana-zum Fluch für die Band entwickelt hat und von Yorke längst in „Crap“

(„Scheißdreck“) umbenannt worden ist. „Ich saß nur bleich daneben und schwor mir: So was lasse ich nie wieder mit einer meiner Bands anstellen „, erinnert sich Baxter, seither schier mütterliche Betreuerin der Band für alle Belange außerhalb des UK, später an die PR-Hölle von 1993. Radiohead touren im Vorprogramm von Belly, P] Harvey und schließlich James, immer mehr Shows, darunter ein wichtiger Auftritt beim Reading Festival, müssen wegen Yorkes psychosomatischer Stimmprobleme abgesagt werden. Am Ende des Jahres kehren sie ausgelaugt und depressiv nach Oxford zurück: Die Band, die so gut wie nicht mehr miteinander kommuniziert, am Rande des Zerfalls; Yorke mit wasserstoffblonder L.A.-Rockermatte, ein zynisches, selbstzerstörerisches, lethargisches Wrack.

Die ersten Monate 1994 beschreibt Ed O’Brien später als „riesiges, energiesaugendes schwarzes Loch. Schrecklich „. In ihrem neuen Proberaum, einem umgebauten Schuppen, arbeiten Radiohead der Selbstauflösung nahe an neuen Songs, im Frühjahr geht es mit John Leckie, der sich gerade von den auf Grund gelaufenen „Second Coming“-Sessions der Stone Roses verabschiedet hat, in die Londoner RAK-Studios. Die Plattenfirmen, speziell Amerika, drängen auf einen Nachfolger zu „Creep“. Der Band geht es derweil nicht nur um eine zu befriedigende Erwartungshaltung, sondern darum, sich der Öffentlichkeit und sich selbst gegenüber neu zu definieren. „Ich hatte diese tief sitzende Angst, so viel beweisen zu müssen “ gesteht Yorke später.  „Wir wussten, dass wir etwas Brillantes machen mussten, und wir wussten auch, dass wir das konnten. Es war nur die Frage: Wird es passieren?“ Und Hufford berichtet: „Es war der Tiefpunkt meiner Beziehung zu Thom. Er war zutiefst verunsichert und misstraute allem und jedem.“

Die Sessions – an denen erstmals auch ein junger Techniker namens Nigel Godrich mitarbeitet – ziehen sich qualvoll hin. Auftrieb gibt schließlich ein von MTV gefilmter Auftritt im Londoner Astoria am 27. Mai und eine darauffolgende Japan/Australien Tournee, bei der sie erstmals neue Songs wie „Just“, „Bone“, „Black Star“, „The Bends“ und „My Iron Lung“ live spielen. Ein weiterer Motivationsschub für Yorke kommt am 1. September, als Leckie die Band drängt, sich mit ihm das Konzert von Jeff Buckley in der Londoner Garage anzuschauen. Yorke – bereits ein Verehrer von Jeffs Vater Tim – wird an diesem Abend darin bestärkt, dass man „Falsettsingen kann, ohne weinerlich zu Hingen“ (Leckie). Die Atmosphäre im Studio aber bleibt gespannt, schließlich kommt es bei einer Kurztour in Mexiko im Oktober zum Meltdown: „Wir spuckten und stritten und warfen uns all die Sachen an den Kopf, die wir die ganze Zeit in uns reingefressen hatten“ sagt Yorke später. „Und plötzlich war alles verändert, wir fuhren nach Hause, machten das Album fertig, und alles ergab Sinn.“

Am 13. März 1995 erscheint Radioheads zweites Album The Bends, mit seinen düsteren Soundscapes und grandiosen Gitarrensongs ein Quantensprung vom Debüt und, wie Yorke später zugibt, „ein unglaublich persönliches Album, weswegen ich mich auch so bemühte abzustreiten, es sei irgendwie persönlich. „Parallel druckt der Melody Maker die Titelgeschichte „Thom Yorke – Another Rock Martyr In The Making?“, die in Yorkes Psyche stochert und der Frage nachgeht, ob er nach Kurt Cobain und dem kürzlich verschwundenen Manics-Gitarristen Richey Edwards der nächste potenzielle Rock-Selbstmörder sei. Noch sechs Jahre später schäumt Yorke dem Uncut-Reporter Stephen Dalton (dessen Chefredakteur Paul Lester 1995 MM-Chef ist) gegenüber vor Wut: „Du hast ja keine Ahnung, wie sich das auf meine Freunde und Familie auswirkte! Wie ich jahrelang daran arbeiten musste, sie zu überzeugen, dass alles nicht so war wie es da stand. Ich bin heute noch stigmatisiert durch diesen Artikel!“ Das Kriegsbeil mit der Presse ist endgültig ausgegraben.

Während Rezensenten sich von The Bends positiv überrascht zeigen, tut sich das Album in den Charts zunächst so schwer wie die vorausgegangenen Singles „My Iron Lung‘ und „High And Dry/Planet Telex“: In Großbritannien reiten neue Helden wie Oasis die Britpop-Welle, mit der Radiohead so gar nichts zu tun haben; der Rest der Welt vermisst ein neues „Creep“. Erst im Januar ’96 wird die Band mit der Single „Street Spirit (Fade Out)“ wieder in Top -10-Regionen vorstoßen und THE BENDS zum mundpropagierten „Slow Burner“-Bestseller avanciert sein.

Radioheads 1995 ist einmal mehr dominiert von einem gnadenlosen Tour- und Promo-Zeitplan, auch und vor allem in den USA. Das Reisen und die Fliegerei nagen an der Gesundheit der Mitglieder: Jonny Greenwood leidet unter Problemen mit Wasser im Innenohr und trägt auf der Bühne Gehörschutz, Yorke, schlaflos, entkräftet und depressiv, ist oft dem Zusammenbruch nahe. Hilfe naht zwischenzeitlich in Gestalt von Michael Stipe, der verkündet hat, Radiohead seien „so gut, sie machen mir Angst“, und der seinen strauchelnden langjährigen Fan Yorke auf einer zweimonatigen Tour im Vorprogramm von R.E.M. unter seine väterlich-freundschaftliche Fittiche nimmt. „Von Michael Stipe habe ich gelernt, dass man nicht die ganze Zeit mit sich kämpfen und ringen muss“, sagt Yorke später über die fast spirituelle Verbindung der beiden.

Der Eindruck von Entwurzelung und Entfremdung dieses emotional aufreibenden Jahres („So ein Gefühl von Limbo kann durchaus inspirierend sein“ gesteht Yorke 1997 Mojo zu) durchdringt die neuen Songs, an denen Radiohead ab Frühjahr 1996 arbeiten. Nach einer US-Tour als Support von Alanis Morissette im August („Wir machten es wegen des idiotisch vielen Geldes“ erklärte Colin Greenwood später amüsiert, „und wegen desperversen Kicks, als fünf Männer in Schwarz diese prä-pubertären amerikanischen Mädchen im Publikum zu erschrecken“), bei der sie erstes neues Material testen, ziehen sie sich mit ihrem mobilen Studio „The Fruit Farm“ und Nigel Godrich als Produzent für zwei Monate in ein mondänes 15.-Jahrhundert-Landhaus in der Nähe von Bath zurück, „the full Led-Zep-/Deep-Purple-monty „(Greenwood). Yorke spricht später von einer unheimlichen Präsenz in dem alten Gemäuer. „Da war überall Angst“, erzählt er 1997 Select, „sie drang aus den Wänden und Fußböden. Ob wir sie mitgebracht hatten, ob wir sie einfingen oder ob es nur die Kifferei war, weiß ich nicht. Das Haus wurde wie ein Sumpf, in dem wir feststeckten. Es packte mich bei den Handgelenken und schüttelte mich aus, bis nichts mehr in mir war.“ In dieser spukigen Atmosphäre, fernab vom Summer Of Britpop in „Cool Britannia“, nehmen Radiohead das Gros des Albums auf, das ihr Leben und die Rockmusik der späten 90er verändern wird.

Am 26. Mai 1997 veröffentlichen Radiohead die Single „Paranoid Android“, ein sechseinhalbminütiges Epos aus drei Motiven, featuring Jonny Greenwood endgültig als Gitarrenheld einer neuen Generation und ein rätselhaft-bizarres Animations-Video. Irgendwo murmeln noch ein paar Marketingmenschen, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, etwas von „zu sperrig“, dann folgt im Juni das Album OK Computer – und es gibt kein Halten mehr. Die Kritiken für dieses außerweltliche Meisterwerk mit seinen komplexen Strukturen, dichten Rhythmen, grandiosen Sounds und Songs sind überschwänglich, vom „ersten Album des zi. Jahrhunderts“ ‚ist die Rede und von Radiohead als den, wahren Erben der Beatles “ während die wenigen Ungläubigen Prog-Schmonz orten (den fälligen Pink-Floyd-Vergleich bringen logischerweise beide Seiten aufs Tapet).

Die Band beruft sich in Interviews auf Einflüsse von – unter anderen – DJ Shadow, Tricky, Pixies, Morricone, Can, Biörk, Johnny Cash, Miles Davis‘ „Bitches Bxew“, „Supergrass, Górecki und- ähem – einen kleinen Sound von einem Genesis-Album“ Qonny Greenwood). Inhaltlich spiegelt das Album mit dem Schlüsseltrack „Fitter Happier“ – einem beißenden Kommentar auf moderne Konsumgewohnheiten in Form einer von einer Computerstimme vorgetragenen Liste – Yorkes durch einschlägige Literatur (Eric Hobsbawms „Das Zeitalter der Extreme“, Noam Chomsky, John Pilger, später Naomi Kleins „No Logo“) gewecktes Interesse an „voodoo economics“ und manipulativen Gesellschafts-Mechanismen wider. Seine Texte sollten Reportage-Charakter haben, in der Art von „A Day In The Life“ von den Beatles, sagt er Mojo; Yorke ist vom selbstquälerischen Sezierer seines Innersten zum angewiderten, sarkastischen, gewaltphantasierenden, aber auch empathischen Beobachter und Kommentator einer verstörenden, lebensfeindlichen Konsum- und Medienwelt geworden. Ende 1997 werden sich Presse wie Publikum einig sein: ok Computer ist das Album des Jahres. Und mehr als das: Dickschiffe wie R.E.M., U2 und Pearl Jam haben zuletzt vergleichsweise Flops gelandet, Radiohead stehen plötzlich als unerwartete Rock-Retter im Fokus der Industrie. Das Album wird ihr größter Triumph und zum ultimativen Fluch, der die nächsten Jahre der Band überschatten wird.

Die zersetzenden Effekte eines schon bekannten, jetzt jedoch im Hysterie-Overdrive laufenden Promo-Rummels zeigen sich früh. Beklemmend nachgezeichnet ist das Jahr nach der Veröffentlichung von OK Computer in Grant Gees Doku-Film „Meeting People Is Easy“. Der zeigt die Band in einem hektisch geschnittenen Wirbel aus Konzerten, stumpfem Touralltag, Foto-Shoots, Goldplattenüberreichungen durch Plattenfirmen-Executives, Radioterminen, Videodrehs, stumpfsinnigen TV-Auftritten und Interviews. „Letztes Jahr waren wir die meistgehypte Band des Planeten ‚/sieht man Yorke im Januar ’98 in Japan seine Kollegen anschnauzen, „Nummer eins in allen Polls. Und das ist alles nur ein Haufen Mist! „Zwar schwächt Colin Greenwood später ab, der Film zeige nicht die Grillparties und Go-Kart-Sessions, bei denen man in Neuseeland später entspannt habe. Aber es ist klar: Radiohead sind mal wieder am Ende ihrer Nerven. Und diesmal ist es ernst. „Ein Teil von mir war nur noch dieses grauenvolle Ego, das völlig außer Kontrolle war“ gibt Yorke später zu. „Ich kann im Nachhinein kaum fassen, dass ich derart schrecklich war-aber ich war es. Ich schuf ein Klima von Angst um mich herum, wie Stalin.“

Mitte 1998 spuckt die Rockmaschine eine zerrüttete Band aus, die sich mit einer potenziell unlösbaren Frage konfrontiert sieht: Was kann man dem angeblich „besten Album aller Zeiten“ (Q) folgen lassen? Die Nummer Sicher OK Computer ii, mit dem sie mit leichter Hand die neuen U2 werden könnten, ist für Yorke 8t Co. mit ihrem Art-School-Ethos keine Option. Stattdessen beginnt eine zermürbende künstlerisch^ Selbstfindungs- Odyssee, eine der gigantischste Verzettelungen der Rockgeschichte, die allen Mi gliedern verwirrende Lernprozesse abverlangt und Ausrichtung der Gruppe grundsätzlich in Frage stell! Yorke, Sänger einer Drei-Gitarren-Rockband, kein Interesse mehr an Gitarrenrock und Gesang, leidet an Schreibblockade und ist besessen von der Musik des Techno-Labels Warp und deren emotionsfreien Kaskaden. „Ich wollte nur Rhythmus. Melodien waren nur noch Peinlichkeit“, erklärt er später.

Während von ihnen beeinflusste Emotionspressen wie Coldplay, Travis und Muse die Charts stürmen, machen sich Radiohead daran, das Niemandsland zwischen Rock und Techno zu erkunden. Es geht zäh. In letztendlich 373 Studiotagen – es gibt keine Deadline von Parlophone -, geprägt von Spannungen und Krisensitzungen, verteilt auf Sessions in Paris, Kopenhagen, Gloucestershire und schließlich Oxford, ward, oft parallel, an einem ständig wachsenden Fundus von letztlich ca. 60 Songskizzen herumgebastelt. „Wir arbeiten seit Januar dran, und nichts Substanzielles ist rübergekommen, außer ein paar harschen Lektionen, wie man bestimmte Sachen NICHT anpackt“, schreibt Ed O’Brien im August ’99 in seinem Online-Tagebuch zu den Sessions. „Wir haben sieben Jahre gebraucht, um so viel Freihen zu bekommen, aber es könnte so leicht passieren, dass wir jetzt alles in den Sand setzen.“

Am Happy End dieser abgründigen Zeit steht ein dunkles Juwel: Das sehnsüchtig, aber auch skeptisch erwartete vierte Radiohead-Album Kid A erscheint am 3. Oktober 2000 und schießt trotz seines vorauseilenden Rufes als „schwierig“ beiderseits des Atlantiks, auch in Deutschland, auf Platz 1 der Charts. Radiohead, die großen Außenseiter, haben die größte Prüfung ihrer Karriere überstanden und triumphieren, künstlerisch wie kommerziell. Einen Grund für sein Durchhalten auch in grimmen Zeiten formuliert Ed O’Brien im Oktober in Q: „Ich bin der Meinung, Thom steht in einer Linie mit den Lennons und Bowies. Er hat eine unglaubliche Gabe.“

Mit der Veröffentlichung von Amnesiac, dem zweiten Album mit Songs aus den 1999/2000er-Sessions, schließt sich für Radiohead im Juni 2001 ein Kapitel. Einige ziemlich fiese Dämonen scheinen ausgetrieben, nach einer langen Nacht der Verunsicherung und Unzufriedenheit funkelt die Sonne zwischen den aufbrechenden Wolken. Yorke ist im Frühjahr Vater geworden und hat schon deshalb handfestere Sorgen als sich noch bis früh morgens von seiner Arbeit die Seele aufessen zu lassen. Aber er schreibt auch schon wieder an neuen Songs, Jonny Greenwood redet von „vielen lauten Gitarren „darin. 2001 verbringen sie mit einer entspannten Welttournee mit vielen Off-Tagen, dann gönnt man sich eine lange Pause. Nach vorbereitenden Proben/Schreibesessions im Frühjahr und einigen sonnigen Südeuropa-Daten, bei denen im Sommer neue Songs getestet werden, entsteht ab September 2002 innerhalb eines selbst gesetzten Limits nie wieder offene Deadlines! – von netto achteinhalb Studiowochen eine neue Platte, natürlich wieder mit Nigel Godrich als (Co-) Produzent.

Jetzt ist es draußen, das sechste Radiohead-Album, ihr fünftes – und dieses Wort ist hier mit Bedacht gewählt- Meisterwerk in Folge (ja, es ist gestattet, mal zu überlegen, welche anderen Bands/Künstler hier noch mithalten können), ein Album, das alle Stärken der Band bündelt: Hail To The Thief. Schon dieser einem Slogan der Protestbewegung gegen die dubiosen Umstände der „Wahl“ von George W. Bush und seiner Clique ins Weiße Haus entliehene Titel ist ein Geniestreich. Da können Yorke und Kollegen noch so vehement eine platt-politische Intention abstreiten (die ihnen eh nicht unterstellt sei): Als Titel eines der heißest gehandelten Major-Rockalbumen des Jahres wird dieser Slogan mit allem, wofür er als Chiffre steht und womit er demnächst noch aufgeladen wird (mit Bush, selber ja nur ein – wenn auch besonders unsympathischer – Agent dieser Matrix, hat das nur noch wenig zu tun), in Medien, Werbung, allen Organen der großen, weiten Corporate World präsent sein und seinen Stachel setzen: Ein beispielloser subversiver Akt im Pop. Es ist was dran, wenn der NME schreibt, Radiohead seien „die politisch bei weitem wichtigste Band, die unsere Generation hervorgebracht hat“. Und auch, wenn Colin Greenwood sagt: „Die Leute müssen ihren Fokus auf größere Themen richten als darauf, ob George Bush ein Idiot ist oder nicht.“

Aber der Reihe nach. Der Flashback hat ausgeschwurbelt, wir haben uns entspannt – nicht, dass Thom Yorke, der lächelnd in seinem Sessel hängt, das nötig gehabt hätte. Jetzt sag doch mal…

Wie kommt es, dass du wieder Interviews gibst?

Na ja, ein paar. Nicht so viele. Aber es macht mir nicht wirklich was aus. Ich werde sie sowieso nicht lesen, also ist es mir ziemlich scheißegal. (grinst)

Du liest auch keine Kritiken?

Nein. Kritiken schon mal definitiv gar nicht. Die sind das… Das bedeutet mir auch nichts mehr.

Haben sie denn früher was bedeutet?

Manchmal, ja. Manchmal reißen sie dich von deinem Pfad runter, und es kostet Energie, wieder draufzukommen. Und ich habe keine Zeit mehr, mich von meinem Pfad reißen zu lassen. Lieber weitergehen.

Du konsumierst also keine Medienberichte über euch ?

Ich kriege was mit, wenn es mir in recycleter Form in anderen Interviews dann wieder vorgesetzt wird. Das wird dann richtig seltsam. Die Leute reden von was, was du nicht gelesen hast, man muss auf etwas antworten, das irgendjemand geschrieben hat. Das wird dann so eine Art schlechte Echo-Box.

Was die Medien uns seit Amnesiac sagen ist, dass Radiohead wieder Spaß haben.

(schmunzelt) Ah, das sagen sie uns? Naja. Diese Platte jetzt hat in gewisser Weise Spaß gemacht. Ich meine, sie war nicht ganz so eine Achterbahnfahrt wie die davor. Aber irgendwann bleibt man immer stecken, sonst ist das, was man da macht, vielleicht gar nicht so gut, wenn es von vorn bis hinten einfach geht. Ja, es war… positiv für uns. Was immer das heißt.

Mit „Spaß“ meinen sie natürlich…

(lacht) Das bezieht sich darauf, dass wir so wehleidige Bastarde sind! (lacht gackernd) Ich bin auch wirklich wehleidig. Schau nur: (Pause; hängt in seinem Sessel und grient) Ich zerfetze mich innerlich.

Oh. Jetzt gerade?

Ja. Kannst du s sehen?

Also: Echobox. Ed hat in einem Interview gesagt…

„Das nächste Album wird eine straighte Gitarrenplatte.“ Stimmt’s? Wolltest du das sagen?

Ach, das. Ja, das ist diese alte Sache.

Das ist einer unserer running jokes. So: Ja ja, alles klar, Ed! – Schnell! Holt die Sequencer raus!“ (lacht) Ed beschreibt die Band-Atmosphäre als „brillant“.

Doch. Es ist gut. Mellow. Keine großen Streitereien, nur am Ende, beim Abmischen. Aber das ist normal.

Gab es nach der Kid A Amnesiac-Phase einen festmachbaren Punkt, wo die Entspannung einsetzte?

Als wir anfingen, die Songs live zu spielen. Früher bedeutete Touren für mich diesen Prozess der… Auflösung, wie bei OK COMPUTER. Aber diesmal haben wir’s genossen. Sich klar zu werden, dass wir es genießen zusammen zu spielen, das war… (sein Handy klingelt) Sorry. Jonny? Warte mal. Jonny? (Gespräch ist weg). Er ist im Studio und mastert die B -Seiten.

Würdest du sagen, dass Hail To The Thief nach Kind A/Amnesiac ein neues Kapitel aufschlägt?

Nein, im Gegenteil. Weil wir diese Platten immer noch sehr mögen. Normal ist, dass man die letzte Platte, die man gemacht hat, hasst. Aber diesmal war das nicht so. Wir zogen viel Selbstvertrauen aus ihnen, weil wir alles Selbstvertrauen verloren hatten, als wir sie machten. Die ganze OK COMPUTER-Sache ließ uns in Frage stellen, warum wir weitermachen sollten. Vor allem mich. Und diese Platte jetzt war sehr… wir sind 4 jetzt an einem guten Ort und machen jetzt weiter und genießen es. Wir hatten diesmal nicht so eine große Agenda und nahmen nicht immer automatisch von vornherein an, dass etwas scheiße war, bevor wir es überhaupt anpackten. Ich hab mich sehr zurückgenommen. Ich wusste nicht mal, welche Songs gut waren. Das haben die anderen entschieden. Seltsames Gefühl, angenehm. Und ein wenig angsteinflößend. Das Gegenteil davon, wie ich bei Sachen früher war. (Tyrannen-Thom-Tonfall) „Nein, nein nein! Das da! Nein! Nein! Das da! (schlägt manisch auf seine Armlehne)

Woher kam diese Veränderung? Etwa ganz natürlich?

Zum einen war es wohl, wieder auf der Bühne zu stehen statt vor einem PTO-Tools-System. Ich bin lockerer geworden. Einen Jungen zu bekommen hat geholfen, glaub ich. Ich hab eine andere Sicht auf Musikbekommen, dass sie mehr Geschenk ist als Fluch – als Letzteres habe ich sie in der Vergangenheit oft gesehen, hauptsächlich mein eigenes Problem, aber eben auch die Natur dieser Industrie. Ich habe das irgendwie geregelt bekommen. Mit der Hilfe anderer Leute.

Der Band?

Ja. Und auch die Sachen mit Björk und Polly (Pj Harvey; mitbeiden hat er zuletzt Duette aufgenommen) haben geholfen, über ein paar Dinge hinwegzukommen. Wie mir Michael Stipe zuvor geholfen hatte.

Gab es eine wichtige Lektion, die du gelernt hast?

Einfach Leute genießen sehen, was sie machen. Keine große Sache. Eine sehr natürliche Einstellung zum Singen zu entdecken. Bei Kid A und Amnesiac war alles sehr unnatürlich, ich versuchte mich hinter Klangschichten und Effekten zu verstecken.

Gab es direkte Inspirationen zum neuen Album?

Ja. Ich … Ich bin umgezogen, und alle meine Platten wurden eingelagert. Sechs Monate hatte ich kaum was anderes zu hören als die paar Sachen auf meinem iPod. Das war die Platte von Mad Lib, ein HipHopper. Und Beatles. Etwas Penderecki, Mahalia Jackson und Ege Bamyasi von Can. Und diese Beatles-Sachen haben mich sehr inspiriert. Nicht so: „Hey, wir sollten klingen wie die Beatles, her mit den Mellotrons!“, sondern durch die Direktheit und Prägnanz, die diese Songs haben. Ich war verblüfft, wie kurz sie sind, auch wenn sie sehr komplex sind. Das wollte ich auch probieren.

Welche Beatles-Platten genau? Frühe?

Weißes Album. Mit den doofen Songs über Schweinchen und so (grinst). Und Magical Mystery Tour und Abbey Road. Nicht Sgt. Pepper’s. Das waren Einflüsse. Auf seltsame, nicht offensichtliche Art.

Was ist dein Lieblingssong auf dem Album?

Ich werde sie mir nie wieder anhören, also kann ich nur von Songs reden, die mir im Kopf rumgehen.

Du hörst sie dir nicht mehr an?

Nein. Nein, nein. Wenn die Sachen mal gemastert sind, heißt es bye-bye. Ab und zu muss ich vielleicht mal was anhören, wenn ich was vergessen habe.

Und wie ist das dann ?

Das Grauen, (kichert) Aaargh! Schrecklich. Gott…

Aber du sagtest doch, du magst die Platte ?

Das hat damit nichts zu tun. Sondern damit, dass die Songs dich in emotionale Sphären schicken, in denen du mal warst, aber nicht mehr bist. Es ist, als ob man sie durch einen extremen Zerrspiegel sieht. And it freaks me out. Aber was war deine Frage?

Der Lieblingssong.

Im Badezimmer singe ich momentan „I Will‘. Der Song geht mir im Kopf rum. Sehr zufrieden damit.

Eine Skizze hört man schon in „Meeting People Is Easy“.

Ja, ein Song kann sich schnell entwickeln oder verdammte Ewigkeiten dauern. „I Will“ klang am Anfang wie sehr, sehr schlechte Ultravox oder so was. Grauenvoll. Ich hoffe, irgendjemand verbrennt dieses Tape… Manche Songs haben wir seit 19-fucking-94 rumliegen und wissen immer noch nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Das macht uns irre. Und die Leute im Internet, die fragen: „Warum habt ihr diesen oder jenen Song noch nicht aufgenommen?“

Und ab und zu zieht ihr einen raus ?

Ja. Aber offensichtlich nicht oft genug für die. (lacht) Aber ein paar Hoffnungsfrohe sind darunter.

Ich meine, sie sind alle gut, darum geht s nicht. Wir haben nur noch keinen Ansatz für sie gefunden. Wogegen etwa bei „Sail To The Moon“ jeder gleich wusste, wie das hinhauen sollte, zack, das war’s. „There There“ hat Ewigkeiten gedauert. Es ist auch so, dass die, die am längsten dauern, am meisten Spaß machen, wenn sie fertig sind. Du versuchst dich neun Monate in einen Song reinzufinden. Und dann klappt’s plötzlich, das ist das beste Gefühl der Welt.

Welcher Song ging am schnellsten?

„We Suck Young Blood“ war einfach und „The Gloaming“. „Backdrifts“ gingschnell. „Where I End…“ war ein Albtraum, „Go To Sleep“ ein noch viel größerer Alptraum, (kichert). Da dachten wir schon, wir kriegen es nie hin, und jetzt ist es eines der Stücke, auf die ich am stolzesten bin. Aber sechs Monate lang war es so ein ganz, ganz schlechtes Westcoast-Rock-Ding, wo wir uns nur immer wieder anschauten: „Was machen wir hier eigentlich? Das ist fürchterlich!

Ist es wahr, dass ihr euch diesmal vorgenommen hattet, keine Computer zu verwenden?

Ja. Ja! Fuck, richtig. Das hatte ich ganz vergessen. Wir hatten diese große Sache, hatten uns vorgenommen, nur sehr frühe Taktsysteme zu verwenden. Und es sind auf der Platte auch wirklich nur ein, zwei Sachen, die auf einem digitalen Raster konstruiert sind.

Raster? Dieses Pro-Tools-Ding?

Ja, genau. Und wir wollten ein Raster, das auf etwas Menschlichem aufbaute, haben also alles selber ausgemessen. Ein Haufen Arbeit, aber wir waren besessen davon, dass nichts auf dem Digital-Raster hing. Weil das das Problem mit Musik heute ist: Alles hängt heutzutage auf dem Raster. Wir benutzten alte Bandmaschinen und dieses System Control Voltage Clockaus den 7oern. Sehr krude.

Sehr retro auch.

Oh ja, komplett.Wir hatten uns das in den Kopf gesetzt. Weil es was Deprimierendes hat – vor allem für eine Liveband -, sich so an Computer zu binden. Auch Sachen auf der Platte, die sich anhören, als seien sie digitale Patterns, wenn etwas so lospuckert (pocht rhythmisch), hat das jemand wirklich geklopft.

Der Albumtitel…

Ah, fuck! Ich dachte, ich käme davon damit, (kichert)

Der Titel, dieser Slogan, wird über das nächste Jahr hinweg auf allen Billboards, in allen Läden sein.

Hm. (überlegt halb amüsiert) Das ist eine nette Vorstellung. Hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht.

Was war denn der Gedanke hinter dem Titel ?

Nun… (gezählte zehn Sekunden Stille) Der Hauptgrund war die Musik. Gar nicht die Texte. Ich hatte Listen von möglichen Titeln, und der war der einzige, wo alle sofort sagten: „Ja!“ Ich hab gesagt: „Okay, aber wenn wir die Platte so nennen, wird es heißen, es sei ein Polit-Statement blabla“, und alle: „Scheiß drauf Wir wissen, wo der Titel herkommt, was er bedeutet.“ Es ist… so eine Art… der Satz hat so was Jubilierendes, aber eben sehr Falsches, so ein Des-Kaisers-neue-Kleider-Ding, verzweifelter Versuch, sich der Masse anzupassen. Du weißt, dass da etwas nicht stimmt, aber du ziehst mit der Masse mit, weil du zu viel Scheißangst hast, was anderes zu tun… Klar, die Zeile ist in „2+2=5“, aber als ich den Song damals geschrieben habe, hatte ich einen anderen, früheren US -Präsidenten im Kopf, über den ich eine Radiosendung gehört hatte. Den hatten sie auch den „Dieb“ genannt. Ich wusste zu der Zeit gar nicht, dass so eine Sache auch bei Bushs Wahl gelaufen war. Wirklich nicht. Wir werden wohl den Großteil des Jahres damit verbringen zu beteuern: „Nein, wir haben diese Plane nicht deshalb so genannt.“ Aber ja: Der Titel hat all diese Konnotationen. Man kann sich aussuchen, wie man ihn interpretieren will. Aber wenn das nur ein platter Protestslogan wäre, wäre das ziemlich deprimierend. Und würde der Musik nicht gerecht.

Auch die Texte selbst sind sehr politisch.

Ich weiß, ja. Aber ich habe mich nicht hingesetzt mit der Absicht, eine politische Platte zu machen. Ich schwöre, Hand aufs Herz, (lacht) Ich habe mich zu der Zeit sehr viel mit Polit-Jargon beschäftigt, weil ich wie besessen Radio (Radio Four, Nachrichten/ Feature-Radio der BBC; Anm. d. Red.) gehört habe. Diese Sprache wurde das Material für die Texte. Ich hatte endlose Listen von Notizen, die dann auch ins Artwork geflossen sind. Aber es war im Grunde das Gegenteil von politisch, weil ich versuchte, diese Sachen zu abstrahieren. Ich bin da nicht so Clash-mäßig rangegangen: (klatscht agitatorisch in die Hände) „Verdammt! Ich muss da mal ein paar Sachen klarstellen!“

Einige Texte könnten direkt auf die Bush-Regierung hingeschneidert sein.

Ich weiß. Das ist auch… okay. Aber wenn ich wirklich einen Text mit so einer Absicht geschrieben hätte, hätte a) der Rest der Band mir gesagt, ich soll ihn wegschmeißen, und b) wäre das absolut unüberzeugend. Weil man so keine gute Musik machen kann … Du siehst, ich versuche schon ein bisschen Übung darin zu kriegen, meinen Fall zu verhandeln. Weil ich das wohl noch eine Weile werde machen müssen. (lacht)

Also keine Angst vor dem Boykott der US-Massen ?

Was den Leuten in Europa nicht klar ist, ist, dass mindestens die Hälfte des Landes nichts mit dieser Polit-Karikatur am Hut hat, die da am Werk ist. Die stehen noch unter einer Art Schock. Und haben nichts mit dieser Einstellung am Hut, mit dieser CD -Verbrennerei.

Wie sie die Dixie Chicks zu spüren bekamen

Ja. Die Dixie Chicks sind auf Eins eingechartet und haben zwei Tage später ihre Tour ausverkauft. Eben. Und genau darum machen wir das: Es ist ein zynisches Marketing-Manöver, um an die versteckte Linke in den USA ranzukommen, (gackert aufgedreht)

„Hey Genossen, ihr kennt Radiohead noch nicht?“

„Dann kommt mit uns! Hier! Kauft!“ Haha!

Die Zeit ist um, man hat sich unter vielen hin- und hergereichten Thankyous verabschiedet, und Yorke ist davongetrapst, um Jonny Greenwood zurückzurufen. Na so was. Thom Yorke interviewt und viel gelacht dabei. Entspannt. Jetzt wäre es Zeit für so einen Schwurbel und einen Blick in die Zukunft, aber erstens ist kein Platz mehr, und zweitens kann man sich da bei diesen unberechenbaren Typen sowieso nur verspekulieren. Erwarten wir einfach weiterhin Großartiges. Damit sollte man gut fahren. Wenn man Thom-Yorke-Interviews aus früheren Jahren liest, kann einem ganz anders werden: Gestatten, Yorke, der Gesprächspartner mit dem tötenden Sarkasmus, der Interviewern die Hälfte ihrer Prägen in Fetzen gerissen wieder ins Gesicht zurückspuckt. Der einem Redakteur, der ihm in der Vergangenheit übe! mitgespielt hatte, noch vor zwei Jahren anbot, er werbereiten. Oder einfach gar nichts sagt und die Augen Kur Zimmerdecke rollt.

Man betritt die Suite im mondänen Londoner Landmark-Hotel, wo Radiohead an diesem Freitag im April Teile der Huropa-Presse zu ihrem neuen Album Hail To The Thief erledigen, also mit einigem Respekt. Thom spricht ziemlich leise, etwa so“, hilft die Dame von Parlophone/EMI beim Einstellen des Minidisc-Pegels, dann schlurft er herein, Thom Yorke, zierlich, eine schicke Meerschweinchenfrisur auf dem Kopf, und lächelt verhuscht mit fürchterlich sympathisch schiefen Zahnen. Freundlich erkundigt er sich nach dem Namen des Interviewers, den man ihm draußen schon gesagt hat aber nur zur Sicherheit, wie war der nochmal? „Ah ia, hallo. „Und: „Wie geht ’s?“ Ach ja, ein bisschen gestresst. „Wirklich?“ Der Schrecken von Oxford lohnt sich in seinem Sessel zurück…Dann entspannen wir uns doch eine Minut.“ Entspannen? Nun ja. in der Tat ist wenig zu spüren von dem „stalinistischen Angstklima“, das Yorke einst unter seiner Band und seinen Mitarbeitern geschaffen haben will. Nichts zu merken vom „ängstlichen Trippeln der Leute um ihn herum wie Hofdiener um einen Tyrannen“, das der Journalist Stephen Dalton vor Jahren beobachtete. Entspannen also. Das wäre jetzt der richtige Zeitpunkt Für so einen Flashback-Schwurbel, wie in einem dieser Filme. Ah, praktisch, da kommt er schon. Shwiiiing…

1982. Thomas Edward Yorke ist 14, als er Sänger von TNT wird, einer Punkband an der Abingdon Public School nahe Oxford. in der auch sein Klassenkamerad Colin Greenwood spielt. Yorke hat zu diesem Zeitpunkt bereits Songs geschrieben und sein erstes Bandprojekt, ein crashiges Art-Pop-Duo, hinter sich. Nach dem Ende von TNT, etwa fünf Jahre später, bietet Yorke Greenwood an, als Bassist in der neuen Band anzufangen, die er drauf und dran ist, mit einem Jungen aus dem Jahrgang über ihnen, Ed O’Brien, zu gründen. Als Drummer kommt ein ruhiger Typ aus der Klasse über O’Brien dazu, Phil Selway. Yorkes erste Worte zu ihm sind Legende: „Kannst du nicht etwas schneller spielen?“ Zum Unwillen der um ihre Coolness besorgten Post-Pubertierer will auch Colins zwei Jahre jüngerer Bruder Jonny in die Band – beim Debüt-Gig von On A Friday (so benannt, weil die Bandmitglieder wegen ihrer Uni-Verpflichtungen nur an Wochenenden Zeit zum Proben finden). 1987 in der Jericho Tavern in Oxford darf Jonny als viereinhalbtes Bandmitglied mit seiner Harmonika herumlungern. Jahrelang passiert dann zunächst wenig. Die Bandmitglieder studieren außerhalb Oxfords (Yorke Englisch und Kunst in Exeter. wo er Gitarre in der Elektronikband Flickernoise und in der Avant-Punk-Band Headless Chicken, später Headless, spielt), proben wenig. 1990 wandert ein Tape mit den gesammelten Werken von On A Friday in die Hände von Chris I Ulfford und Bryce Edge (in den 80ern Mitglieder der New-Romantics-Band Aerial FX), die im nahe gelegenen Weiler Sutton Courtnenay das Courtyard Studio betreiben. Sie sind wenig angetan von der Kraut-und-Rüben-Mischung aus Rip-offs von The Jam bis Pixies – erst beim letzten Track wird Hufford hellhörig. „Das war so ein loopiges Dance-Ding, komplett durchgedreht“, erinnert er sich später.

Nachdem sie im Frühsommer 1991 ihre Unis abgeschlossen haben (außer Jonny, der gerade einen Psychologie-und-Musik-Kurs am Oxford Poly anfängt), beschließen die Mitglieder von On A Friday, sich ernsthaft ihrer auf Sparflamme kochenden Band zu widmen. Eine heruntergekommene Doppelhaushälfte dient als Übungsraum. Bei einem Gig in der Jericho Tavern – dem Zentrum der „anderen“ Oxforder Szene abseits von angesagten Shoegazern wie Ride und Slowdive glaubt Chris Hufford, den ein weiteres, ausgefeilteres Demo (Titel: „The Manie Hedgehog“, u.a. mit „Stop Whispering“) neugierig gemacht hat, seinen Ohren nicht zu trauen: „Ich war hin und weg“, sagt er später. „Unter den jungen Bands in der Gegend damals gab es keine guten Performer und Sänger. Aber Thom war unglaublich. Und diese brillanten Songs mit der Power von drei Gitarren – ich konnte sie mir auf Weltniveau vorstellen, damals schon“ Mitte August haben die hageren Figuren von On A Friday, bekannt als „Oxfords thinnest band“, einen Management-Vertrag mit Hufford und Edge in der Tasche.

Etwa zu dieser Zeit kommt Keith Wozencroft, Vertriebs-Vertreter bei der EMI, in die Our-Price-Filiale in Oxford und erzählt dem Angestellten an der Kasse des Plattenladens von seinem neuen Posten als EMI-A&.R-Mann, den er in den nächsten Tagen antreten wird. „Du solltest meine Band signen“, empfiehlt der und gibt Wozencroft das neue Demo von On A Friday. Der Angestellte ist Colin Greenwood – und Wozencroft beeindruckt von dem , was er hört. On A Friday ist das erste Thema, das er seinem neuen Boss, EMI-A&R Director Nick Gatfield (Ex-Dexy’s Midnight Runners), präsentiert. Auch der ist angetan, und im Herbst taucht das EMI-Team bei einem On A Friday-Gig in der Jericho Tavern auf, dem – das Demo hat Wellen geschlagen – auch Vertreter anderer Major-Labels beiwohnen. Am 22. Dezember 1991 unterschreiben Thom Yorke, Colin Greenwood, Ed O’Brien, Phil Selway und Jonny Greenwood, der inzwischen die Uni geschmissen hat und volles Bandmitglied ist, in London einen Acht-Alben-Deal mit dem EMI-Label Parlophone, demselben Label, auf dem einst die Beatles waren. „Wir standen am Lekester Square rum: ,Yeah! Wir sind gesignt!‘ Bei der Rückfahrt nach Oxford im Regen machten wir uns dann schon Sorgen“, erzählt Colin Greenwood später dem Magazin Uncut. In Oxford, wo man noch einen heben wollte, verpasst man sich dann. Greenwood: „Ein typischer Radiohead-Tag!“ Nur gibt es damals noch gar keine Radiohead-Tage. Das sollte sich bald ändern.

Seit Monaten hat Ed O’Brien ihn mit Einladungen zu Konzerten von On A Friday überhäuft, im Februar 1992 endlich macht sich der Student John Harris, Oxford-Korrespondent des Melody Maker, später Chefredakteur des Magazins Select, auf, um sie sich in der Co-Op Dining Hall anzusehen. Sein Bericht ist begeistert („Viel versprechend‘ wäre glatt untertrieben!“) – bis auf eine Sache: „Fürchterlicher Name. Passt zu bierbäuchigen Pubrock-Typen, aber nicht zu dieser Band.“ On A Friday nehmen sich Harris‘ Bemerkung zu Herzen und überlegen eine Namensänderung: Gravitate, Jude und Music (die Idee schnappten sich später andere) sind Kandidaten, das Rennen macht der Titel eines Songs vom i987er-Talking Heads-Album True stories: „Radio Head“.

Am 5. Mai erscheint Radioheads erster Release, die von Hufford produzierte „Drill E.P.“, angesiedelt zwischen Pixies und Dinosaur Jr. Obwohl das Stück „Prove Yourself“ unerwartete Unterstützung von Radio-One-DJ Gary Davies (eine Art Thomas Gottschalk) bekommt, der den Song mit seinen Suizid-Anspielungen mehrmals in seiner Mainstream-Morgenshow spielt, erreicht die EP. nur Platz 101 der UK-Singles-Charts. Die ehrgeizige Band ist enttäuscht, Wozencroft erfreut über den Debüt-Erfolg.

Für Nick Gatfield ist klar, dass die Band, die weniger mit den die UK-Szene dominierenden Shoegazer- oder Baggy-Typen als mit US-Indierock/Grunge zu tun hat, Leute brauchte, die mit diesem Sound umgehen können. Für die nächste Single holt er das Bostoner Produzenten-Duo Paul Q. Kolderie und Sean Slade, die – zum Entzücken der Band – schon mit den Pixies, Dinosaur Jr. und Buffalo Tom gearbeitet haben. Die Sessions mit den von Gatfield ausgesuchten Songs „Inside My Head“ und „Lurgee“ verlaufen aber stockend. Um die Stimmung zu heben, schlägt Kolderie vor, die Band solle doch einen Song probieren, den sie Tage zuvor einmal angespielt und den Yorke als „unseren Scott-Walker-Song bezeichnet hat. (Kolderie und Slade missverstehen die Bemerkung anfangs als „ein Scott-Walker-Song“; Kolderie: „Wir dachten: Schade, ihr bestes Stück ist ein Cover“.) Die Band spielt das Stück in einem Take ein, nur Yorkes Gesang wird später overdubbt. „Als sie fertig waren“, so Kolderie, „war es kurz still im Studio, dann brach Applaus los!‘ Der Song, ein von Minderwertigkeitskomplexen gerittener Abgesang Yorkes auf eine „ernste, aber erfolglose Obsession“, offenbar mit einer Studentin in Exeter, war „Creep“. Bald ist klar, dass er die nächste Single sein wird und Kolderie und Slade Radioheads erstes Album produzieren sollen.

Pablo Honey entsteht in drei Wochen im Sommer 92, wird dann zunächst auf Eis gelegt. In der Zwischenzeit tourt die Band, unter anderem als Support von The Frank And Walters. Drummer Ashley Keating erinnert sich später: „Ich hatte noch nie so eine Band erlebt. Tranken nicht, waren nicht hinter den Mädchen her. Man konnte nicht unbedingt von der Musik her drauf schließen, dass sie groß werden würden, aber von der Art, wie sie zusammenhingen. Die hatten ganz klar einen Plan in der Tasche, sie sahen the bigger picture.“

Am 21. September erscheint „Creep“, geht aber nach 6.000 verkauften Stück (Platz 78) zunächst unter; Radio One ist der Song „zu deprimierend“. Ein noch herberer Schlag kommt Ende des Jahres: In der Weihnachtsausgabe des NME vollzieht Keith Cameron in einem Konzertbericht eine rituelle Schlachtung der Band: „Radiohead sind eine jämmerliche Weichscheißer-Ausrede von Rockband „steht neben vier betont unvorteilhaften Yorke-Fotos. Es ist der Beginn einer wundervollen Feindschaft.

Von der Veröffentlichung von Pablo Honey am 22. Februar 1993 nimmt niemand viel Notiz, da kommen plötzlich gute Nachrichten aus dem Nahen Osten: Ein DJ des israelischen Armee-Senders IDF hat „Creep“ zu einem Hit im ganzen Land gemacht. „Die Jungs haben seither einen ‚softspot‘ für Israel“, erzählt Carol Baxter vom Parlophone International Department später. Radiohead touren in Israel, Jonny Greenwood lernt auf der Reise seine spätere Frau Sharona kennen. Mittlerweile haben auch amerikanische Sender wie LA KROQ „Creep“ entdeckt, und Radioheads US-Label Capitol beutet den Hit gnadenlos aus. Es folgt ein zermürbender Promo-Zirkus mit 18-Stunden-Tagen vollgestopft mit Interviews, peinlichen Promo-Aktionen und Konzerten vor Kids, die sich einzig und allein für diesen Song interessieren, der sich – wie kurz zuvor „Smells Like Teen Spirit“ für Nirvana-zum Fluch für die Band entwickelt hat und von Yorke längst in „Crap“

(„Scheißdreck ) umbenannt worden ist. „Ich saß nur bleich daneben und schwor mir: So was lasse ich nie wieder mit einer meiner Bands anstellen „, erinnert sich Baxter, seither schier mütterliche Betreuerin der Band für alle Belange außerhalb des UK, später an die PR-Hölle von 1993. Radiohead touren im Vorprogramm von Belly, P] Harvey und schließlich James, immer mehr Shows, darunter ein wichtiger Auftritt beim Reading Festival, müssen wegen Yorkes psychosomatischer Stimmprobleme abgesagt werden. Am Ende des Jahres kehren sie ausgelaugt und depressiv nach Oxford zurück: Die Band, die so gut wie nicht mehr miteinander kommuniziert, am Rande des Zerfalls; Yorke mit wasserstoffblonder L A-Rockermatte, ein zynisches, selbstzerstörerisches, lethargisches Wrack.

Die ersten Monate 1994 beschreibt Ed O’Brien später als „riesiges, energiesaugendes schwarzes Loch. Schrecklich „. In ihrem neuen Proberaum, einem umgebauten Schuppen, arbeiten Radiohead der Selbstauflösung nahe an neuen Songs, im Frühjahr geht es mit John Leckie, der sich gerade von den auf Grund gelaufenen „Second Coming“-Sessions der Stone Roses verabschiedet hat, in die Londoner RAK-Studios. Die Plattenfirmen, speziell Amerika, drängen auf einen Nachfolger zu „Creep“. Der Band geht es derweil nicht nur um eine zu befriedigende Erwartungshaltung, sondern darum, sich der Öffentlichkeit und sich selbst gegenüber neu zu definieren. „Ich hatte diese tief sitzende Angst, so viel beweisen zu müssen “ gesteht Yorke später.  „Wir wussten, dass wir etwas Brillantes machen mussten, und wir wussten auch, dass wir das konnten. Es war nur die Frage: Wird es passieren?“ Und Hufford berichtet: „Es war der Tiefpunkt meiner Beziehung zu Thom. Er war zutiefst verunsichert und misstraute allem und jedem.“

Die Sessions – an denen erstmals auch ein junger Techniker namens Nigel Godrich mitarbeitet – ziehen sich qualvoll hin. Auftrieb gibt schließlich ein von MTV gefilmter Auftritt im Londoner Astoria am 27. Mai und eine darauffolgende Japan/Australien Tournee, bei der sie erstmals neue Songs wie „Just“, „Bone“, „Black Star“, „The Bends“ und „My Iron Lung“ live spielen. Ein weiterer Motivarionsschub für Yorke kommt am 1. September, als Leckie die Band drängt, sich mit ihm das Konzert von Jeff Buckley in der Londoner Garage anzuschauen. Yorke – bereits ein Verehrer von Jeffs Vater Tim – wird an diesem Abend darin bestärkt, dass man „Falsettsingen kann, ohne weinerlich zu Hingen“ (Leckie). Die Atmosphäre im Studio aber bleibt gespannt, schließlich kommt es bei einer Kurztour in Mexiko im Oktober zum Meltdown: „Wir spuckten und stritten und warfen uns all die Sachen an den Kopf, die wir die ganze Zeit in uns reingefressen hatten“ sagt Yorke später. „Und plötzlich war alles verändert, wir fuhren nach Hause, machten das Album fertig, und alles ergab Sinn.“

Am 13. März 1995 erscheint Radioheads zweites Album The Bends, mit seinen düsteren Soundscapes und grandiosen Gitarrensongs ein Quantensprung vom Debüt und, wie Yorke später zugibt, „ein unglaublich persönliches Album, weswegen ich mich auch so bemühte abzustreiten, es sei irgendwie persönlich. „Parallel druckt der Melody Maker die Titelgeschichte „Thom Yorke – Another Rock Martyr In The Making?“, die in Yorkes Psyche stochert und der Frage nachgeht, ob er nach Kurt Cobain und dem kürzlich verschwundenen Manics-Gitarristen Richey Edwards der nächste potenzielle Rock-Selbstmörder sei. Noch sechs Jahre später schäumt Yorke dem Uncut-Reporter Stephen Dalton (dessen Chefredakteur Paul Lester 1995 MM-Chef ist) gegenüber vor Wut: „Du hast ja keine Ahnung, wie sich das auf meine Freunde und Familie auswirkte! Wie ich jahrelang daran arbeiten musste, sie zu überzeugen, dass alles nicht so war wie es da stand. Ich bin heute noch stigmatisiert durch diesen Artikel!“ Das Kriegsbeil mit der Presse ist endgültig ausgegraben.

Während Rezensenten sich von The Bends positiv überrascht zeigen, tut sich das Album in den Charts zunächst so schwer wie die vorausgegangenen Singles „My Iron Lung‘ und „High And Dry/Planet Telex“: In Großbritannien reiten neue Helden wie Oasis die Britpop-Welle, mit der Radiohead so gar nichts zu tun haben; der Rest der Welt vermisst ein neues „Creep“. Erst im Januar ’96 wird die Band mit der Single „Street Spirit (Fade Out)“ wieder in Top -1 o -Regionen vorstoßen und THE BENDS zum mundpropagierten „Slow Burner‘-Bestseller avanciert sein.

Radioheads 1995 ist einmal mehr dominiert von einem gnadenlosen Tour- und Promo-Zeitplan, auch und vor allem in den USA. Das Reisen und die Fliegerei nagen an der Gesundheit der Mitglieder: Jonny Greenwood leidet unter Problemen mit Wasser im Innenohr und trägt auf der Bühne Gehörschutz, Yorke, schlaflos, entkräftet und depressiv, ist oft dem Zusammenbruch nahe. Hilfe naht zwischenzeitlich in Gestalt von Michael Stipe, der verkündet hat, Radiohead seien „so gut, sie machen mir Angst“, und der seinen strauchelnden langjährigen Fan Yorke auf einer zweimonatigen Tour im Vorprogramm von R.E.M. unter seine väterlich-freundschaftliche Fittiche nimmt. „Von Michael Stipe habe ich gelernt, dass man nicht die ganze Zeit mit sich kämpfen und ringen muss“, sagt Yorke später über die fast spirituelle Verbindung der beiden.

Der Eindruck von Entwurzelung und Entfremdung dieses emotional aufreibenden Jahres („So ein Gefühl von Limbo kann durchaus inspirierend sein“ gesteht Yorke 1997 Mojo zu) durchdringt die neuen Songs, an denen Radiohead ab Frühjahr 1996 arbeiten. Nach einer US-Tour als Support von Alanis Morissette im August („Wir machten es wegen des idiotisch vielen Geldes“ erklärte Colin Greenwood später amüsiert, „und wegen desperversen Kicks, als fünf Männer in Schwarz diese prä-pubertären amerikanischen Mädchen im Publikum zu erschrecken „), bei der sie erstes neues Material testen, ziehen sie sich mit ihrem mobilen Studio „The Fruit Farm“ und Nigel Godrich als Produzent für zwei Monate in ein mondänes i5.-)ahrhundert-Landhaus in der Nähe von Bath zurück, „the full Led-Zep-/Deep-Purple-monty „(Greenwood). Yorke spricht später von einer unheimlichen Präsenz in dem alten Gemäuer. „Da war überall Angst“, erzählt er 1997 Select, „sie drang aus den Wänden und Fußböden. Ob wir sie mitgebracht hatten, ob wir sie einfingen oder ob es nur die Kifferei war, weiß ich nicht. Das Haus wurde wie ein Sumpf, in dem wir feststeckten. Es packte mich bei den Handgelenken und schüttelte mich aus, bis nichts mehr in mir war.“ In dieser spukigen Atmosphäre, fernab vom Summer Of Britpop in „Cool Britannia“, nehmen Radiohead das Gros des Albums auf, das ihr Leben und die Rockmusik der späten 90er verändern wird.

Am 26. Mai 1997 veröffentlichen Radiohead die Single „Paranoid Android“, ein sechseinhalbminütiges Epos aus drei Motiven, featuring Jonny Greenwood endgültig als Gitarrenheld einer neuen Generation und ein rätselhaft-bizarres Animations-Video. Irgendwo murmeln noch ein paar Marketingmenschen, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, etwas von „zu sperrig“, dann folgt im Juni das Album OK Computer – und es gibt kein Halten mehr. Die Kritiken für dieses außerweltliche Meisterwerk mit seinen komplexen Strukturen, dichten Rhythmen, grandiosen Sounds und Songs sind überschwänglich, vom „ersten Album des zi. Jahrhunderts“ ‚ist die Rede und von Radiohead als den, wahren Erben der Beatles “ während die wenigen Ungläubigen Prog-Schmonz orten (den fälligen Pink-Floyd-Vergleich bringen logischerweise beide Seiten aufs Tapet).

Die Band beruft sich in Interviews auf Einflüsse von – unter anderen – DJ Shadow, Tricky, Pixies, Morricone, Can, Biörk, Johnny Cash, Miles Davis‘ „Bitches Bxew“, „Supergrass, Górecki und- ähem – einen kleinen Sound von einem Genesis-Album“ Qonny Greenwood). Inhaltlich spiegelt das Album mit dem Schlüsseltrack „Fitter Happier“ – einem beißenden Kommentar auf moderne Konsumgewohnheiten in Form einer von einer Computerstimme vorgetragenen Liste – Yorkes durch einschlägige Literatur (Eric Hobsbawms „Das Zeitalter der Extreme“, Noam Chomsky, John Pilger, später Naomi Kleins „No Logo“) gewecktes Interesse an „voodoo economics“ und manipulativen Gesellschafts-Mechanismen wider. Seine Texte sollten Reportage-Charakter haben, in der Art von „A Day In The Life“ von den Beatles, sagt er Mojo; Yorke ist vom selbstquälerischen Sezierer seines Innersten zum angewiderten, sarkastischen, gewaltphantasierenden, aber auch empathischen Beobachter und Kommentator einer verstörenden, lebensfeindlichen Konsum- und Medienwelt geworden. Ende 1997 werden sich Presse wie Publikum einig sein: ok Computer ist das Album des Jahres. Und mehr als das: Dickschiffe wie R.E.M., U2 und Pearl Jam haben zuletzt vergleichsweise Flops gelandet, Radiohead stehen plötzlich als unerwartete Rock-Retter im Fokus der Industrie. Das Album wird ihr größter Triumph und zum ultimativen Fluch, der die nächsten Jahre der Band überschatten wird.

Die zersetzenden Effekte eines schon bekannten, jetzt jedoch im Hysterie- Overdrive laufenden Promo-Rummels zeigen sich früh. Beklemmend nachgezeichnet ist das Jahr nach der Veröffentlichung von OK Computer in Grant Gees Doku-Film „Meeting People Is Easy“. Der zeigt die Band in einem hektisch geschnittenen Wirbel aus Konzerten, stumpfem Touralltag, Foto-Shoots, Goldplattenüberreichungen durch Plattenfirmen-Executives, Radioterminen, Videodrehs, stumpfsinnigen TV-Auftritten und Interviews. „Letztes Jahr waren wir die meistgehypte Band des Planeten ‚/sieht man Yorke im Januar ’98 in Japan seine Kollegen anschnauzen, „Nummer eins in allen Polls. Und das ist alles nur ein Haufen Mist! „Zwar schwächt Colin Greenwood später ab, der Film zeige nicht die Grillparties und Go-Kart-Sessions, bei denen man in Neuseeland später entspannt habe. Aber es ist klar: Radiohead sind mal wieder am Ende ihrer Nerven. Und diesmal ist es ernst. „Ein Teil von mir war nur noch dieses grauenvolle Ego, das völlig außer Kontrolle war“ gibt Yorke später zu. „Ich kann im Nachhinein kaum fassen, dass ich derart schrecklich war-aber ich war es. Ich schuf ein Klima von Angst um mich herum, wie Stalin.“

Mitte 1998 spuckt die Rockmaschine eine zerrüttete Band aus, die sich mit einer potenziell unlösbaren Frage konfrontiert sieht: Was kann man dem angeblich „besten Album aller Zeiten“ (Q) folgen lassen? Die Nummer Sicher OK Computer ii, mit dem sie mit leichter Hand die neuen U2 werden könnten, ist für Yorke 8t Co. mit ihrem Art-School-Ethos keine Option. Stattdessen beginnt eine zermürbende künstlerisch^ Selbstfindungs- Odyssee, eine der gigantischste Verzettelungen der Rockgeschichte, die allen Mi gliedern verwirrende Lernprozesse abverlangt und Ausrichtung der Gruppe grundsätzlich in Frage stell! Yorke, Sänger einer Drei-Gitarren-Rockband, kein Interesse mehr an Gitarrenrock und Gesang, leidet an Schreibblockade und ist besessen von der Musik des Techno-Labels Warp und deren emotionsfreien Kaskaden. „Ich wollte nur Rhythmus. Melodien waren nur noch Peinlichkeit“, erklärt er später.

Während von ihnen beeinflusste Emotionspressen wie Coldplay, Travis und Muse die Charts stürmen, machen sich Radiohead daran, das Niemandsland zwischen Rock und Techno zu erkunden. Es geht zäh. In letztendlich 373 Studiotagen – es gibt keine Deadline von Parlophone -, geprägt von Spannungen und Krisensitzungen, verteilt auf Sessions in Paris, Kopenhagen, Gloucestershire und schließlich Oxford, ward, oft parallel, an einem ständig wachsenden Fundus von letztlich ca. 60 Songskizzen herumgebastelt. „Wir arbeiten seit Januar dran, und nichts Substanzielles ist rübergekommen, außer ein paar harschen Lektionen, wie man bestimmte Sachen NICHT anpackt“, schreibt Ed O’Brien im August ’99 in seinem Online-Tagebuch zu den Sessions. „Wir haben sieben Jahre gebraucht, um so viel Freihen zu bekommen, aber es könnte so leicht passieren, dass wir jetzt alles in den Sand setzen.“

Am Happy End dieser abgründigen Zeit steht ein dunkles Juwel: Das sehnsüchtig, aber auch skeptisch erwartete vierte Radiohead-Album Kid A erscheint am 3. Oktober 2000 und schießt trotz seines vorauseilenden Rufes als „schwierig“ beiderseits des Atlantiks, auch in Deutschland, auf Platz 1 der Charts. Radiohead, die großen Außenseiter, haben die größte Prüfung ihrer Karriere überstanden und triumphieren, künstlerisch wie ^-^“ kommerziell. Einen Grund für sein Durchhalten auch in grimmen Zeiten formuliert Ed O’Brien im Oktober in Q: „Ich bin der Meinung, Thom steht in einer Linie mit den Lennons und Bowies. Er hat eine unglaubliche Gabe.“

Mit der Veröffentlichung von Amnesiac, dem zweiten Album mit Songs aus den 1999/20ooer-Sessions, schließt sich für Radiohead im Juni 2001 ein Kapitel. Einige ziemlich fiese Dämonen scheinen ausgetrieben, nach einer langen Nacht der Verunsicherung und Unzufriedenheit funkelt die Sonne zwischen den aufbrechenden Wolken. Yorke ist im Frühjahr Vater geworden und hat schon deshalb handfestere Sorgen als sich noch bis früh morgens von seiner Arbeit die Seele aufessen zu lassen. Aber er schreibt auch schon wieder an neuen Songs, Jonny Greenwood redet von „vielen lauten Gitarren „darin. 2001 verbringen sie mit einer entspannten Welttournee mit vielen Off-Tagen, dann gönnt man sich eine lange Pause. Nach vorbereitenden Proben/Schreibesessions im Frühjahr und einigen sonnigen Südeuropa-Daten, bei denen im Sommer neue Songs getestet werden, entsteht ab September 2002 innerhalb eines selbst gesetzten Limits nie wieder offene Deadlines! – von netto achteinhalb Studiowochen eine neue Platte, natürlich wieder mit Nigel Godrich als (Co-) Produzent.

Jetzt ist es draußen, das sechste Radiohead-Album, ihr fünftes – und dieses Wort ist hier mit Bedacht gewählt- Meisterwerk in Folge (ja, es ist gestattet, mal zu überlegen, welche anderen Bands/Künstler hier noch mithalten können), ein Album, das alle Stärken der Band bündelt: Hail To The Thief. Schon dieser einem Slogan der Protestbewegung gegen die dubiosen Umstände der „Wahl“ von George W. Bush und seiner Clique ins Weiße Haus entliehene Titel ist ein Geniestreich. Da können Yorke und Kollegen noch so vehement eine platt-politische Intention abstreiten (die ihnen eh nicht unterstellt sei): Als Titel eines der heißest gehandelten Major-Rockalbumen des Jahres wird dieser Slogan mit allem, wofür er als Chiffre steht und womit er demnächst noch aufgeladen wird (mit Bush, selber ja nur ein – wenn auch besonders unsympathischer – Agent dieser Matrix, hat das nur noch wenig zu tun), in Medien, Werbung, allen Organen der großen, weiten Corporate World präsent sein und seinen Stachel setzen: Ein beispielloser subversiver Akt im Pop. Es ist was dran, wenn der NME schreibt, Radiohead seien „die politisch bei weitem wichtigste Band, die unsere Generation hervorgebracht hat“. Und auch, wenn Colin Greenwood sagt: „Die Leute müssen ihren Fokus auf größere Themen richten als darauf, ob George Bush ein Idiot ist oder nicht.“

Aber der Reihe nach. Der Flashback hat ausgeschwurbelt, wir haben uns entspannt – nicht, dass Thom Yorke, der lächelnd in seinem Sessel hängt, das nötig gehabt hätte. Jetzt sag doch mal…

Wie kommt es, dass du wieder Interviews gibst?

Na ja, ein paar. Nicht so viele. Aber es macht mir nicht wirklich was aus. Ich werde sie sowieso nicht lesen, also ist es mir ziemlich scheißegal, (grinst)

Du liest auch keine Kritiken?

Nein. Kritiken schon mal definitiv gar nicht. Die sind das… Das bedeutet mir auch nichts mehr.

Haben sie denn früher was bedeutet?

Manchmal, ja. Manchmal reißen sie dich von deinem Pfad runter, und es kostet Energie, wieder draufzukommen. Und ich habe keine Zeit mehr, mich von meinem Pfad reißen zu lassen. Lieber weitergehen.

Du konsumierst also keine Medienberichte über euch ?

Ich kriege was mit, wenn es mir in recycleter Form in anderen Interviews dann wieder vorgesetzt wird. Das wird dann richtig seltsam. Die Leute reden von was, was du nicht gelesen hast, man muss auf etwas antworten, das irgendjemand geschrieben hat. Das wird dann so eine Art schlechte Echo-Box.

Was die Medien uns seit Amnesiac sagen ist, dass Radiohead wieder Spaß haben.

(schmunzelt) Ah, das sagen sie uns? Naja. Diese Platte jetzt hat in gewisser Weise Spaß gemacht. Ich meine, sie war nicht ganz so eine Achterbahnfahrt wie die davor. Aber irgendwann bleibt man immer stecken, sonst ist das, was man da macht, vielleicht gar nicht so gut, wenn es von vorn bis hinten einfach geht. Ja, es war… positiv für uns. Was immer das heißt.

Mit „Spaß“ meinen sie natürlich…

(lacht) Das bezieht sich darauf, dass wir so wehleidige Bastarde sind! (lacht gackernd) Ich bin auch wirklich wehleidig. Schau nur: (Pause; hängt in seinem Sessel und grient) Ich zerfetze mich innerlich.

Oh. Jetzt gerade?

Ja. Kannst du s sehen?

Also: Echobox. Ed hat in einem Interview gesagt…

„Das nächste Album wird eine straighte Gitarrenplatte.“ Stimmt’s? Wolltest du das sagen?

Ach, das. Ja, das ist diese alte Sache.

 Das ist einer unserer running jokes. So: Ja ja, alles klar, Ed! – Schnell! Holt die Sequencer raus!“ (lacht) Ed beschreibt die Band-Atmosphäre als „brillant“.

Doch. Es ist gut. Mellow. Keine großen Streitereien, nur am Ende, beim Abmischen. Aber das ist normal.

Gab es nach der Kid A Amnesiac-Phase einen festmachbaren Punkt, wo die Entspannung einsetzte?

Als wir anfingen, die Songs live zu spielen. Früher bedeutete Touren für mich diesen Prozess der… Auflösung, wie bei OK COMPUTER. Aber diesmal haben wir’s genossen. Sich klar zu werden, dass wir es genießen zusammen zu spielen, das war… (sein Handy klingelt) Sorry. Jonny? Warte mal. Jonny? (Gespräch ist weg). Er ist im Studio und mastert die B -Seiten.

Würdest du sagen, dass Hail To The Thief nach Kind A/Amnesiac ein neues Kapitel aufschlägt?

Nein, im Gegenteil. Weil wir diese Platten immer noch sehr mögen. Normal ist, dass man die letzte Platte, die man gemacht hat, hasst. Aber diesmal war das nicht so. Wir zogen viel Selbstvertrauen aus ihnen, weil wir alles Selbstvertrauen verloren hatten, als wir sie machten. Die ganze OK COMPUTER-Sache ließ uns in Frage stellen, warum wir weitermachen sollten. Vor allem mich. Und diese Platte jetzt war sehr… wir sind 4 jetzt an einem guten Ort und machen jetzt weiter und genießen es. Wir hatten diesmal nicht so eine große Agenda und nahmen nicht immer automatisch von vornherein an, dass etwas scheiße war, bevor wir es überhaupt anpackten. Ich hab mich sehr zurückgenommen. Ich wusste nicht mal, welche Songs gut waren. Das haben die anderen entschieden. Seltsames Gefühl, angenehm. Und ein wenig angsteinflößend. Das Gegenteil davon, wie ich bei Sachen früher war. (Tyrannen-Thom-Tonfall) „Nein, nein nein! Das da! Nein! Nein! Das da! (schlägt manisch auf seine Armlehne)

Woher kam diese Veränderung ? Etwa ganz natürlich ?

Zum einen war es wohl, wieder auf der Bühne zu stehen statt vor einem PTO-Tools-System. Ich bin lockerer geworden. Einen Jungen zu bekommen hat geholfen, glaub ich. Ich hab eine andere Sicht auf Musikbekommen, dass sie mehr Geschenk ist als Fluch – als Letzteres habe ich sie in der Vergangenheit oft gesehen, hauptsächlich mein eigenes Problem, aber eben auch die Natur dieser Industrie. Ich habe das irgendwie geregelt bekommen. Mit der Hilfe anderer Leute.

Der Band?

Ja. Und auch die Sachen mit Björk und Polly (Pj Harvey; mitbeiden hat er zuletzt Duette aufgenommen) haben geholfen, über ein paar Dinge hinwegzukommen. Wie mir Michael Stipe zuvor geholfen hatte.

Gab es eine wichtige Lektion, die du gelernt hast?

Einfach Leute genießen sehen, was sie machen. Keine große Sache. Eine sehr natürliche Einstellung zum Singen zu entdecken. Bei Kid A und Amnesiac war alles sehr unnatürlich, ich versuchte mich hinter Klangschichten und Effekten zu verstecken.

Gab es direkte Inspirationen zum neuen Album ?

Ja. Ich … Ich bin umgezogen, und alle meine Platten wurden eingelagert. Sechs Monate hatte ich kaum was anderes zu hören als die paar Sachen auf meinem iPod. Das war die Platte von Mad Lib, ein HipHopper. Und Beatles. Etwas Penderecki, Mahalia Jackson und Ege Bamyasi von Can. Und diese Beatles-Sachen haben mich sehr inspiriert. Nicht so: „Hey, wir sollten klingen wie die Beatles, her mit den Mellotrons!“, sondern durch die Direktheit und Prägnanz, die diese Songs haben. Ich war verblüfft, wie kurz sie sind, auch wenn sie sehr komplex sind. Das wollte ich auch probieren.

Welche Beatles-Platten genau? Frühe?

Weißes Album. Mit den doofen Songs über Schweinchen und so (grinst). Und Magical Mystery Tour und Abbey Road. Nicht Sgt. Pepper’s. Das waren Einflüsse. Auf seltsame, nicht offensichtliche Art.

Was ist dein Lieblingssong auf dem Album?

Ich werde sie mir nie wieder anhören, also kann ich nur von Songs reden, die mir im Kopf rumgehen.

Du hörst sie dir nicht mehr an ?

Nein. Nein, nein. Wenn die Sachen mal gemastert sind, heißt es bye-bye. Ab und zu muss ich vielleicht mal was anhören, wenn ich was vergessen habe.

Und wie ist das dann ?

Das Grauen, (kichert) Aaargh! Schrecklich. Gott…

Aber du sagtest doch, du magst die Platte ?

Das hat damit nichts zu tun. Sondern damit, dass die Songs dich in emotionale Sphären schicken, in denen du mal warst, aber nicht mehr bist. Es ist, als ob man sie durch einen extremen Zerrspiegel sieht. And it freaks me out. Aber was war deine Frage?

Der Lieblingssong.

Im Badezimmer singe ich momentan „I Will‘. Der Song geht mir im Kopf rum. Sehr zufrieden damit.

Eine Skizze hört man schon in „Meeting People Is Easy“.

Ja, ein Song kann sich schnell entwickeln oder verdammte Ewigkeiten dauern. „I Will“ klang am Anfang wie sehr, sehr schlechte Ultravox oder so was. Grauenvoll. Ich hoffe, irgendjemand verbrennt dieses Tape… Manche Songs haben wir seit ig-fucking-94 rumliegen und wissen immer noch nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Das macht uns irre. Und die Leute im Internet, die fragen: „Warum habt ihr diesen oder jenen Song noch nicht aufgenommen?“

Und ab und zu zieht ihr einen raus ?

Ja. Aber offensichtlich nicht oft genug für die. (lacht) Aber ein paar Hoffnungsfrohe sind darunter.

Ich meine, sie sind alle gut, darum geht s nicht. Wir haben nur noch keinen Ansatz für sie gefunden. Wogegen etwa bei „Sail To The Moon“ jeder gleich wusste, wie das hinhauen sollte, zack, das war’s. „There There“ hat Ewigkeiten gedauert. Es ist auch so, dass die, die am längsten dauern, am meisten Spaß machen, wenn sie fertig sind. Du versuchst dich neun Monate in einen Song reinzufinden. Und dann klappt’s plötzlich, das ist das beste Gefühl der Welt.

Welcher Song ging am schnellsten ?

„We Suck Young Blood“ war einfach und „The Gloaming“. „Backdrifts“ gingschnell. „Where I End…“ war ein Albtraum, „Go To Sleep“ ein noch viel größerer Alptraum, (kichert). Da dachten wir schon, wir kriegen es nie hin, und jetzt ist es eines der Stücke, auf die ich am stolzesten bin. Aber sechs Monate lang war es so ein ganz, ganz schlechtes Westcoast-Rock-Ding, wo wir uns nur immer wieder anschauten: „Was machen wir hier eigentlich? Das ist fürchterlich!

Ist es wahr, dass ihr euch diesmal vorgenommen hattet, keine Computer zu verwenden?

Ja. Ja! Fuck, richtig. Das hatte ich ganz vergessen. Wir hatten diese große Sache, hatten uns vorgenommen, nur sehr frühe Taktsysteme zu verwenden. Und es sind auf der Platte auch wirklich nur ein, zwei Sachen, die auf einem digitalen Raster konstruiert sind.

Raster? Dieses Pro-Tools-Ding?

Ja, genau. Und wir wollten ein Raster, das auf etwas Menschlichem aufbaute, haben also alles selber ausgemessen. Ein Haufen Arbeit, aber wir waren besessen davon, dass nichts auf dem Digital-Raster hing. Weil das das Problem mit Musik heute ist: Alles hängt heutzutage auf dem Raster. Wir benutzten alte Bandmaschinen und dieses System Control Voltage Clockaus den 7oern. Sehr krude.

Sehr retro auch.

Oh ja, komplett.Wir hatten uns das in den Kopf gesetzt. Weil es was Deprimierendes hat – vor allem für eine Liveband -, sich so an Computer zu binden. Auch Sachen auf der Platte, die sich anhören, als seien sie digitale Patterns, wenn etwas so lospuckert (pocht rhythmisch), hat das jemand wirklich geklopft.

Der Albumtitel…

Ah, fuck! Ich dachte, ich käme davon damit, (kichert)

Der Titel, dieser Slogan, wird über das nächste Jahr hinweg auf allen Billboards, in allen Läden sein.

Hm. (überlegt halb amüsiert) Das ist eine nette Vorstellung. Hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht.

Was war denn der Gedanke hinter dem Titel ?

Nun… (gezählte zehn Sekunden Stille) Der Hauptgrund war die Musik. Gar nicht die Texte. Ich hatte Listen von möglichen Titeln, und der war der einzige, wo alle sofort sagten: „Ja!“ Ich hab gesagt: „Okay, aber wenn wir die Platte so nennen, wird es heißen, es sei ein Polit-Statement blabla“, und alle: „Scheiß drauf Wir wissen, wo der Titel herkommt, was er bedeutet.“ Es ist… so eine Art… der Satz hat so was Jubilierendes, aber eben sehr Falsches, so ein Des-Kaisers-neue-Kleider-Ding, verzweifelter Versuch, sich der Masse anzupassen. Du weißt, dass da etwas nicht stimmt, aber du ziehst mit der Masse mit, weil du zu viel Scheißangst hast, was anderes zu tun… Klar, die Zeile ist in „2+2=5“, aber als ich den Song damals geschrieben habe, hatte ich einen anderen, früheren US -Präsidenten im Kopf, über den ich eine Radiosendung gehört hatte. Den hatten sie auch den „Dieb“ genannt. Ich wusste zu der Zeit gar nicht, dass so eine Sache auch bei Bushs Wahl gelaufen war. Wirklich nicht. Wir werden wohl den Großteil des Jahres damit verbringen zu beteuern: „Nein, wir haben diese Plane nicht deshalb so genannt.“ Aber ja: Der Titel hat all diese Konnotationen. Man kann sich aussuchen, wie man ihn interpretieren will. Aber wenn das nur ein platter Protestslogan wäre, wäre das ziemlich deprimierend. Und würde der Musik nicht gerecht.

Auch die Texte selbst sind sehr politisch.

Ich weiß, ja. Aber ich habe mich nicht hingesetzt mit der Absicht, eine politische Platte zu machen. Ich schwöre, Hand aufs Herz, (lacht) Ich habe mich zu der Zeit sehr viel mit Polit-Jargon beschäftigt, weil ich wie besessen Radio (Radio Four, Nachrichten/ Feature-Radio der BBC; Anm. d. Red.) gehört habe. Diese Sprache wurde das Material für die Texte. Ich hatte endlose Listen von Notizen, die dann auch ins Artwork geflossen sind. Aber es war im Grunde das Gegenteil von politisch, weil ich versuchte, diese Sachen zu abstrahieren. Ich bin da nicht so Clash-mäßig rangegangen: (klatscht agitatorisch in die Hände) „Verdammt! Ich muss da mal ein paar Sachen klarstellen!“

Einige Texte könnten direkt auf die Bush-Regierung hingeschneidert sein.

Ich weiß. Das ist auch… okay. Aber wenn ich wirklich einen Text mit so einer Absicht geschrieben hätte, hätte a) der Rest der Band mir gesagt, ich soll ihn wegschmeißen, und b) wäre das absolut unüberzeugend. Weil man so keine gute Musik machen kann … Du siehst, ich versuche schon ein bisschen Übung darin zu kriegen, meinen Fall zu verhandeln. Weil ich das wohl noch eine Weile werde machen müssen, (lacht)

Also keine Angst vor dem Boykott der US-Massen ?

Was den Leuten in Europa nicht klar ist, ist, dass mindestens die Hälfte des Landes nichts mit dieser Polit-Karikatur am Hut hat, die da am Werk ist. Die stehen noch unter einer Art Schock. Und haben nichts mit dieser Einstellung am Hut, mit dieser CD -Verbrennerei.

Wie sie die Dixie Chicks zu spüren bekamen

Ja. Die Dixie Chicks sind auf Eins eingechartet und haben zwei Tage später ihre Tour ausverkauft. Eben. Und genau darum machen wir das: Es ist ein zynisches Marketing-Manöver, um an die versteckte Linke in den USA ranzukommen, (gackert aufgedreht)

„Hey Genossen, ihr kennt Radiohead noch nicht?“

„Dann kommt mit uns! Hier! Kauft!“ Haha!

Die Zeit ist um, man hat sich unter vielen hin- und hergereichten Thankyous verabschiedet, und Yorke ist davongetrapst, um Jonny Greenwood zurückzurufen. Na so was. Thom Yorke interviewt und viel gelacht dabei. Entspannt. Jetzt wäre es Zeit für so einen Schwurbel und einen Blick in die Zukunft, aber erstens ist kein Platz mehr, und zweitens kann man sich da bei diesen unberechenbaren Typen sowieso nur verspekulieren. Erwarten wir einfach weiterhin Großartiges. Damit sollte man gut fahren.