Fünf vor Britpop


Kurz vor Veröffentlichung des bahnbrechenden Debütalbums von Suede traf unsere Autorin die Band in London und Paris. Abdruck aus dem britischen Magazin „The Face“, März 1993.

Brett Anderson ist hungrig. Er kann sich schon nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal gegessen hat. Brett ist Besitzer des blassen, hageren und etwas blasierten Gesichts, das uns im vergangenen Jahr regelmäßig aus den Regalen der Zeitungskioske angegrinst hat. Er ist auch Frontmann von Suede, die im vergangenen Jahr zwar nur zwei Singles veröffentlicht haben, aber – glaubt man den Hellhörern – schon bald die ganze Welt erobern könnten.

Anderson sitzt in einem leeren indischen Restaurant im Londoner Stadtteil Soho und knabbert an einem Papadam. Er lässt den Tag Revue passieren, der fast ausschließlich für eine Fotosession draufgegangen ist – und ringt sich zum Resümee durch, dass letztendlich alles positiv verlaufen sei, auch wenn er anfangs das dumpfe Gefühl hatte, dass die Klamotten, die der Stylist mitgebracht hatte, vielleicht etwas arg, nun ja, Seventies waren, ein bisschen viel Ziggy Stardust. Bei Suede, sagt er, habe sich dieses Siebziger-Ding eigentlich ganz natürlich entwickelt; es sei kein Zug, auf den man erst kürzlich gesprungen sei. Sie seien schon immer Teil dieser Szene gewesen – nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre Klamotten grundsätzlich in Secondhand-Läden kaufen. „Mit neuen Klamotten steh‘ ich auf Kriegsfuß“, sagt er und streicht sich Chutney auf sein Papadam. „Ich kann sie auf den Tod nicht ausstehen.“

Natürlich werden nun Schlaumeier einwerfen, dass Suede doch das Paradebeispiel einer Band seien, die sich nur über ihre Klamotten definiert: ein paar passable Popsongs, ein Hauch von Substanz, dafür aber reichlich Image und künstliche Kontroversen. Ein Problem der heutigen Bands sei es doch, dass sie zwar stylish aussähen, aber nicht in der Lage seien, ebenso stilprägend zu sein wie ein David Bowie oder Marc Bolan. Und selbst wenn sie so aussähen, würden sie nicht die wilden Exzesse leben, wie wir es von unseren Idolen erwarten. Tatsache ist aber auch, dass fette Bankkonten, Berge von Koks und Heere von Groupies in diesen rezessionsgeplagten, Post-AIDS-Zeiten sowieso ins Reich der Fantasie gehören. Dass Anderson keine neuen Klamotten mag, spricht eigentlich für ihn, denn der Flohmarkt-Chic ist nicht nur trendy, sondern auch für seine Fans halbwegs erschwinglich.

Mat Osman, Suede-Bassist und Andersons alter Schulfreund, sitzt mit uns am Tisch. Er hadert damit, dass Suede in ihren ersten Interviews verlauten ließen, nur wenige Siebziger-Platten wirklich zu schätzen – nun aber plötzlich Teil genau dieser Szene seien. „Es geht mir auf den Keks, dass etwas derart Beiläufiges nun so hochgekocht wird. Man klammert sich an Banalitäten. Und das ist einfach nur deprimierend, weil es der Musik die Eier nimmt.“ Anderson nickt zustimmend.

Wer Brett Anderson telefonisch erreichen will, hört auf seinem Anrufbeantworter zunächst einmal die ersten Noten eines der schönsten Bowie-Songs überhaupt: „Letter To Hermione“ vom Space Oddity-Album. Anderson ist ein echter Fan: Er hat Poster des frühen Bowie in seinem Apartment nahe der U-Bahn-Station Notting Hill Gate und nimmt Bowie-CDs mit auf Tour. In den zahllosen Interviews, die er im Lauf des vergangenen Jahres gegeben hat, tauchen zwei Namen gleichberechtigt auf: Bowie und Morrissey. In Andersons leicht nöliger Stimme lassen sich Spurenelemente beider Idole unschwer ausmachen. Sein Gesang könnte auch aus einem alten Schwarz-Weiß-Film über das Cockney-Milieu stammen: Er dehnt exzessiv die Vokale und gibt bestimmten Wörtern eine unnatürliche Betonung. Gelegentlich besucht er auch Gesangstrainerin Tona de Brett, die bereits die Stimmbänder von Johnny Rotten, Seal und Morrissey schulte. Und es dauert nicht lange, bis sich seine Songs in deinem Hirn eingenistet haben, weil man sich dabei ertappt, selbst den Anderson-Imitator zu mimen.

Die Gitarren greifen lustvoll auf die – nun ja – Siebziger zurück, als Gitarren noch herrlich fett, schmalzig und brünstig klangen. Und wer sich zu lange mit diesen Songs beschäftigt, sieht vor seinem geistigen Auge gar die Tage von „Top Of The Pops“, in denen junge Menschen begeistert ihre Fan-Schals von einer Seite zur anderen schwenkten. Wie bei jeder Band, die etwas halbwegs Vernünftiges artikulieren kann, sieht sich auch Anderson damit konfrontiert, dass seine Äußerungen schnell ein Eigenleben entwickeln. Bei einer Gelegenheit erzählte er einem kleineren Magazin, dass er sich für bisexuell halte. Als der „Melody Maker“ das Zitat aufgriff, musste er kleinlaut einräumen: „Ich verstehe mich als bisexuellen Mann, der aber noch keine homosexuellen Erfahrungen gemacht hat.“ Bolan und Bowie ließen sich gerne über ihre Bisexualität aus, machten aber den Eindruck, dass sie das auch in Wirklichkeit waren. Wenn man Anderson fragt, ob es ihn denn jemals in einen Schwulen-Club verschlagen habe, bekommt man zur Antwort: „Viele Dinge, die ich mache, mache ich nur in meinem Kopf. In dieser Beziehung bin ich definitiv ein Kind der Neunziger: Erfahrungen existieren oft nur als Konzept. Ich streite ja gar nicht ab, diese Äußerung gemacht zu haben, aber das ganze Thema ist völlig unwichtig. Wenn ich singe, ist das Ausdruck einer bestimmten Sexualität, und wie meine private Sexualität aussieht, ist in dem Zusammenhang nicht unbedingt relevant.“

Szenenwechsel: Paris. Suede haben Ärger. Es ist das erste Mal, das sie jenseits des Kanals auftreten, und schon ist der Zoff vorprogrammiert. Letzte Nacht wurden sie aus ihrem Pariser Hotel geworfen, weil sie Chips im Teppichboden festtraten und eine Flasche Rotwein umkippten. Heute Abend spielen sie „The Black Session“ – einer Live-Sendung im Radio, die von Bernard Lenoir, dem französischen John Peel, moderiert wird. Die etwa 300 Zuschauer sitzen in einem Aula-ähnlichen Raum, schlagen unruhig ihre Beine übereinander und flüstern. Anderson springt so dynamisch auf die Bühne, dass ihm seine Bryan-Ferry-Tolle über die Augen fällt. Sichtlich nervös greift er zum Mikro und schüttelt das Haar aus dem Gesicht. „Vielleicht solltet ihr besser aufstehen, weil es sonst schnell langweilig werden könnte.“ Er trägt ein halb aufgeknöpftes Hemd und eine ausgestellte schwarze Cordhose, die mehrere Zentimeter über seinen scheußlichen Wildleder-Tretern endet. Wie ein Pfau stolziert er über die Bühne, wackelt mit den Hüften, schlägt sich mit dem Mikro auf den Hintern und umwickelt sich schließlich mit dem Mikrokabel.

Zwischen den Songs haucht er ein flüchtiges „Merci“, lächelt aber nur selten. An einem Punkt murmelt er: „Ich glaube, so was Abgefahrenes hab ich noch nie in meinem Leben gemacht“, um dann mehr zu sich selbst zu sagen: „Offenbar muss ich ein stinklangweiliges Leben führen.“ Das Publikum bedankt sich mit mäßigem Beifall (etwas lauter bei „The Drowners“ und „Metal Mickey“), bleibt aber brav sitzen. Man glaubt, in einer Schul-Disco zu sitzen, in die sich gerade eine Horde von Talentscouts verlaufen hat. Nach dem letzten Song wirft Anderson sein Mikro zu Boden, Butler seine Gitarre – und die Band trollt sich von der Bühne. Nein, brillant waren die Tage in Paris gerade nicht.

Achtzehn Monate zuvor standen verkorkste Gigs auf der Tagesordnung. Das Publikum mochte sie nicht (wohl weil sie wie Weicheier rüberkamen), die Talentscouts zuckten die Schultern – und wenn dann und wann etwas in der Musikpresse erschien, war’s ein hämischer Verriss. Als Anderson und Osman – die beide zum Studieren nach London gekommen waren, bevor sich ihre Musikpläne konkretisierten – durch eine Anzeige auf Butler stießen, spielten sie für eine Weile als Trio und ließen sich von einem Drum-Computer unterstützen. Bei einem Gig stießen sie auf Simon Gilbert, der den Platz hinter dem Schlagzeug einnahm. Justine Frischmann kam als zweite Gitarristin hinzu, war kurzzeitig mit Anderson liiert und dachte sich mit ihm auch den Namen „Suede“ aus (inspiriert von Morrisseys erster Solo-Single „Suedehead“). Achtzehn Monate lang stand sie bei Londoner Gigs mit auf der Bühne, bevor sie die Band wieder verließ.

Wie sie dem „Melody Maker“ im Herbst vorigen Jahres verrieten, hatten sie in dieser Zeit reichlich Leerlauf, also „verbrachten wir Ewigkeiten mit der Frage, wie man einen vernünftigen Song schreibt. Wir nahmen uns einen Bowie- und einen Beatles-Song und sagten:, Okay, jetzt schreiben wir einen Song, der genauso gut ist.‘ Wir zerlegten diese klassischen Songs in ihre Bestandteile und versuchten, sie exakt nachzuspielen.“ Die Vorgehensweise trug ihre Früchte, ein eigener Stil bildete sich heraus – und im Februar vergangenen Jahres bekamen sie einen Vertrag bei dem winzigen Indie-Label Nude, das seinerseits einen Vertriebs-Deal mit Sony abschloss.

Das Timing ist elementar wichtig, will man Suedes Erfolg verstehen. Im Jahr 1991 waren Galgenvögel wie die Stone Roses, Happy Mondays und Charlatans in der Gunst der Medien von den Shoegazern (Lush, Ride, Chapterhouse, Curve) abgelöst worden. Als auch das wieder aus der Mode kam, wendete sich die Aufmerksamkeit zu amerikanischen Rockern mit Bierbäuchen und ungesundem Teint. Doch während Grunge noch aus dem Untergrund krabbelte, machte sich bereits eine neue Generation von Schöngeistern bereit. Sie trugen dubioses Schuhwerk, besaßen aber eine ganze Kollektion falscher Pelzjacken und trugen Mamas Hemd-Attrappen, die eigentlich nur aus Kragen und Manschetten bestanden. Obendrein hatten sie einen aufgeplusterten Sänger, der auf Fotos immer bleich, hager und ziemlich camp aussah. In den Medien wurden sie als „die neuen Smiths“ gepriesen.

Es ist der Morgen nach der Show in Paris – und Anderson hat schon wieder Probleme. Er ist am Bahnhof, um den Zug nach Nantes zu nehmen, wo Suede am Abend auftreten sollen. Er kramt verzweifelt durch seinen abgewetzten, lindgrünen Koffer (ohne Griff!), weil er seinen „Glücks-Rasierer“ zu finden sucht, den ein Freund ihm einmal geschenkt hat. Alles, was er findet, sind Bowie-CDs, ein Mini-Walkman, eine Woody-Allen-Biografie und ein schwarzer Strohhut. Frustriert setzt er sich den Hut auf, schlägt den Kragen seiner Pelzjacke hoch und drückt den grifflosen Koffer an seine Brust. Groß, dürr und ganz in Schwarz gekleidet, noch pointiert durch seine tuntigen Bewegungen, gäbe er eine gute Parodie auf den schwulen englischen Komiker Quentin Crisp ab. „Wusstest ihr eigentlich, dass er in Wahrheit die geborene Queen ist?“, kichert jemand aus dem Tross. „Nein, in Wahrheit bin ich der Mann aus der Sandeman-Portwein-Werbung“, sagt Anderson affektiert und grinst zurück.

Auch wenn er auf der Bühne den Pfau gibt, ist er im Gespräch zurückhaltend und bedachtsam. Er hat einen leichten Hang zum Stottern und klingt manchmal etwas arg vage.

In den Medien wird Brett Anderson oft als arrogant dargestellt, aber vielleicht ist es eher ein grenzenloser Glaube an sich selbst. Während er im 1.-Klasse-Abteil (Sony sei Dank) auf dem Weg nach Nantes sitzt, nippt er an seinem gezuckerten Kaffee und bläst ein wenig den Blues. Dem gestrigen Radio-Gig konnte er herzlich wenig abgewinnen, obendrein machen sich erste Anzeichen einer Grippe bemerkbar. Beim Sprechen spielt er geistesabwesend mit dem Klebeband eines Briefumschlags, wickelt es immer wieder um seine Finger und zeigt dabei Fingernägel, die wohl schon länger nicht mehr gewaschen wurden. Auch seine Kleider sind ziemlich verschlissen und mit Löchern übersät – von seinem fraglosen Bühnen-Charisma ist in diesem Moment wenig zu spüren. Ist er vielleicht gar ein kleiner Bolschewist, der sich dem System verweigert? „Ich glaube nicht, dass wir persönlich auf diesem Trip sind“, sagt er, „aber in puncto Musik kultivieren wir schon eine gesunde Arroganz. Zur Zeit der Stone Roses war es in Mode, als Band rüde und arrogant aufzutreten – und ich fand das immer abstoßend. Die Bands versuchten, sich eine Aura zu geben, indem sie sich selbst ständig großredeten. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, dass letztlich nur das zählt, was du kreierst.“ Er macht eine Pause und grübelt. „Viele Leute müssen wohl den Eindruck gewinnen, dass wir eine Band sind, die Form über Inhalt stellt. Sie haben vielleicht nur zwei, drei Songs von uns gehört, aber gleichzeitig die fetten Schlagzeilen in der Musikpresse gelesen. Wenn wir nur durchschnittlich wären, hätte ich nicht mal den Mumm, in der Öffentlichkeit über uns zu sprechen. Natürlich war es schon etwas peinlich, so frühzeitig vom, Melody Maker‘ als, Best new band in Britain‘ bezeichnet zu werden. Aber das haben schließlich nicht wir behauptet, sondern sie über uns.“ Amy Raphael