DAS ARCHIV – Rewind: INXS – Wilder in den Wechseljahren


Heute vor 15 Jahren starb Michael Hutchence. Wir erinnern an ihn mit einem Porträt aus der Oktoberausgabe von 1990. Ein Wüstling wie Jim Morrison, ein Schlitzohr wie Mick Jagger - über schmeichelhafte Vergleiche konnte sich Michael Hutchence bislang nicht beklagen. Seit seiner Liaison mit Kylie Minogue aber hat die Gallionsfigur von INXS mit ganz neuen Image-Problemen zu kämpfen. ME/Sounds-Mitarbeiter Christoph Becker versuchte zwischen Dichtung und Wahrheit zu trennen.

Das erste Mal begegnet mir Kylie im Aufzug. Nicht daß ich sie erkannt hätte. Wer achtet schließlich im supermodischen London auf ein kleines, bläßliches Wesen im Hotelaufzug? Niemand, richtig – und genau das war der Fehler. Kylie ist nämlich, entgegen anderslautenden Meldungen, weiterhin engstens mit Michael Hutchence liiert. Und hätte ich Kylie im Aufzug meine ergebenste Aufwartung gemacht, hätte ich womöglich mit ihr gespeist und angeregt geplaudert. So mußte ich leidvoll mit den bodenständigeren O-Tönen von Hutchence vorliebnehmen und – statt über die Tücken des zwischenmenschlichen Salates – über Sinn und Zweck des neuen INXS-Albums „X“ talken. Doch beginnen wir am Anfang.

INXS hatten gerufen, und die Musikjournaille war nach London ausgerückt, um das neue Werk unter die Lupe zu nehmen, mit Hutchence & Co. Krabbencocktail und andere Delikatessen zu verspeisen und schließlich ein gepflegtes Interview zu führen. Zur Erinnerung: INXS katapultierten sich mit KICK, ihrem insgesamt sechsten Album, vom Status australischer Nationalhelden endgültig in den Himmel internationalen Stardoms. Das war vor drei Jahren.

Inzwischen hat sich der Dancefloor-Virus der Charts bemächtigt, hart und geradeaus gespielter Rock wie der von INXS ist etwas aus der Mode gekommen. Inzwischen haben die fünf Australier die Freuden eines prall gefüllten Kontos schätzen gelernt. Inzwischen hat Hutchences Liaison mit Kylie Minogue die Klatschspalten der Yellow Press gefüllt. Jet-Set, Business und volle Bäuche – hat da ein neues Album überhaupt noch Platz?

„Das ist ein völlig falsches Bild, das da von uns gezeichnet wird“, entrüstet sich Hutchence gestenreich. „Was Kylie angeht: Zum ersten Mal traf ich sie backstage bei einem ihrer Konzerte. Ich erinnere mich, wie dieses Personellen von einem halben Dutzend schwergewichtiger Plattenbosse umringt wurde – wie das goldene Ei, das es abzuschotten gilt. ‚Entsetzlich‘, dachte ich mir und verhielt mich wohl nicht allzu zuvorkommend.

Aber wenn man sie dann talsächlich kennenlernt, ist sie ein rundum propperes und natürliches Mädchen. Sie ist gerade mal 22 Jahre all und muß das ganze Chaos, das über sie hereingebrochen ist, erstmal vom Kopf her in den Griff bekommen. Andererseits ist sie schon viel weiter als ich, wenn es darum geht, milden Reaktionen der Öffentlichkeit fertig zu werden. Sie ist ein Profi, während ich erst lernen muß, daß ich nur ‚Der Begleiter‘ bin. Ein seltsames Gefühl, aber vermutlich eine heilsame Erfahrung für mich.

Und was die Gruppe betrifft: Wir sind alles andere als Jet-Setter. Okay, ich esse gerne gut, aber ist das schon ein Zeichen fiir Dekadenz? Schau mich doch mal an: Sehe ich aus wie ein fettgewordener, selbstgefälliger Rockstar, der nur noch in Schampus badet? Wohl weniger!“

Stimmt. Hutchence räkelt sich wenig stilvoll in seinem Sessel; seine Haare sind zwar – nach dem Radikalschnitt vor einiger Zeit – wieder schulterlang, dafür jedoch reichlich fettig. Die Jeans sind dreckig und zerrissen, das T-Shirt eng und unmodisch. Dichtung oder Wahrheit?

„Mich interessieren diese schnieken Hotels, teuren Restaurants und hübschen Autos letztlich einen Dreck. Daß diese Attribute des Erfolgs nicht gerade unangenehm sind, ist klar. Und natürlich wird man durch seine Umgebung beeinflußt. Erfolg verändert auch die Persönlichkeit, keine Frage. Aber man kann sich ständig klarmachen, was um einen herum vorgeht und früh genug Maßnahmen ergreifen, wenn man merkt, daß man abdriftet. Es kommt darauf an, ob man sich von solchen Äußerlichkeiten abhängig macht – oder ob man Herr der Lage bleibt. Das ist wie mit Drogen.“

Andrew Farris, Gitarrist und Co-Komponist vieler INXS-Songs, bisher stummer Beisitzer Hutchence’scher Eloquenz, meldet sich plötzlich zu Wort. „Ich denke, daß es sehr wichtig ist, in eine Band eingebettet zu sein. So lassen sich bestimmte Vorgänge besser verarbeiten. Außerdem war in untrem Fall der große Erfolg keine völlig neue Erfahrung. Immerhin sind wir schon seit zwölf Jahren zusammen. Wir haben uns in Australien einen Status erspielt und dort gelernt, mit diesem Status klarzukommen, bevor wir in das internationale Geschäft einstiegen.“

Andrew Farris sieht nicht nur aus wie ein Farmer, er ist es auch. Irgendwo in den Weiten des fünften Kontinents besitzt er Land und bearbeitet es. Und erzählt Farris von seiner Farm, was er gerne und reichlich tut, beginnen seine Augen verzückt zu leuchten. Fraglich, ob er mit mehr Enthusiasmus auf seine Gitarrensaiten eindrischt oder Felder mäht und Schafe schert. „Die Arbeit auf meiner Farm rückt mein ganzes Leben, diesen ganzen Musikzirkus wieder in die richtigen Dimensionen. Zu Hause in Australien, diese Weite vor Augen, stehe ich schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen.“

Die Tatsachen sind jedoch selbst für einen stoischen Farmer alles andere als niederschmetternd. Zumindest was INXS angeht, kann er sich über mangelnde Anerkennung nicht beklagen. Das Publikum kauft, Journalisten schreiben, Kollegen loben. Wie es allerdings nach dem Megaseller KICK weitergehen soll, ist noch nicht so ganz klar.

Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls auch das neue Album „X“: Ein wenig unentschlossen pendelt das Quintett zwischen Kopie des Erfolgsrezeptes, heftig zur Sache gehenden Gitarreneinlagen und opulenten Balladen hin und her. Die Spritzigkeit und – vor allem – die große Eingängigkeit der Songs fehlt jedoch. Natürlich, die Produktion ist perfekt wie man es von einer internationalen Spitzenband erwarten darf. Doch mehr als INXS as usual hat das Album nicht zu bieten, innovativ ist es nicht gerade.

„Eine neue Platte ist immer auch Bestandsaufnahme“, erklärt Hutchence. „Ich bin ganz zufrieden. Die Songs sind ziemlich persönlich und textlich wahrscheinlich verschlossener als das meiste, wasich bisher geschrieben habe. Aber die Gefühle dahimer sind durchaus zugänglich. Hoffe ich zumindest. Wohin wir uns in Zukunft entwickeln werden, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist „X“ tatsächlich ein Übergangs-Album. Aber eines, mit dem ich glücklich bin.“

Anders als etwa Midnight Oil sehen sich INXS nicht als Band mit politischer Message, auch wenn sie zur neuen Generation australischer Bands gehören. Wenn es eine Botschaft gibt, die das Quintett aus Sydney verkündet, heißt sie Rock ’n“ Roll: verschwitzt und vielleicht auch ein bißchen veraltet. „Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Rock ’n Roll wird nie aus der Mode kommen; man denke nur an die Stones. Ob unser neues Album ein Erfolg wird oder nicht, ist mir eigentlich egal. Wir sind eine Live-Band – und das werden wir auf unserer Tour im Herbst wieder beweisen. „

„DAS ARCHIV – Rewind“ umfasst über 40 Jahre Musikgeschichte – denn es beinhaltet die Archive von Musikexpress, Rolling Stone und Metal Hammer. Damit ist von Popmusik über Indierock bis zu Heavy Metal nahezu jede Musikrichtung abgedeckt – angereichert mit Interviews, Rezensionen und Reportagen zu Filmen, Büchern und popkulturellen Phänomenen.

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