Hip Hop


Im Hip-Hop gibt es keine Geheimnisse mehr. Alles gibt’s im Netz, sogar Listen über Listen wie diese. Eine Liste mit Geheimtipps schreibt sich also wie von selbst: Aber: Schaut her, verdammt nochmal, das alles hier ist auch Hip-Hop!

50 Platten ausgewählt und besprochen von: Davide Bortot

Keine andere Subkultur ist von den Forschern und Fummlern im Netz so tief und vor allem so schnell durchdrungen worden. Vor ein paar Jahren noch drehten sich hitzige Debatten um den Erhalt der Vinylschallplatte, die im Hip-Hop nicht nur Handwerkszeug ist, sondern Götze, Keimzelle der gesamten Bewegung. Heute findet sich kaum mehr ein DJ, der nicht auf digitale Ersatzprodukte wie Traktor oder Scratch Live zurückgreift. Alle großen Stars unterhalten Twitter-Accounts und Video-blogs. Aktivisten zeichnen alle Veröffentlichungen minutiös bei Discogs auf und tragen ihren Diskurs – und davon gibt es in der traditionell dem Wort zugetanen Hip-Hop-Welt noch immer reichlich – mittlerweile komplett in Foren und Messageboards aus. Rapidshare Records ist längst das, was Def Jam und Interscope auch zusammen nie hätten sein können. Sich täglich alle Neuerscheinungen von den Blogs zu ziehen, ist ein Vollzeitjob. Ach was, eine Aufgabe für eine ganze Legion von Bots.

Deswegen gibt es im Hip-Hop so viele Geheimnisse wie nie zuvor. Wie alle anderen Subkulturen, die längst keine mehr sind, ist auch dieses Genre in unzählige Kleinstszenen aufgesplittert. Und die existieren gerne mal nebeneinander her. Der eine hört Trap-Rap aus Ost-Atlanta, der andere Electrogrime aus London E3. In Deutschland gibt es eine ganze Generation von Hörern, die sich das Bushido-B auf den Hals tätowieren lassen, aber keine Ahnung haben, was eigentlich dieser Wu-Tang Clan ist. Bei soviel Unübersichtlichkeit greift die Geschichtsschreibung daher auf die üblichen Eckpfeiler zurück: Sugarhill Gang, Run DMC, Dr. Dre, Jay-Z, Outkast, Eminem, 50 Cent, fertig. Ansonsten betrauert (?) man ausgiebig den Verlust von Biggie Smalls und Tupac Shakur.

Zwangsläufig ist auch die hier vorliegende Liste ein wenig willkürlich ausgefallen – auch folgende Künstler haben verdient, genannt zu werden: Jonzun Crew, Black Rock and Ron, Lakim Shabazz, King Tee, 3rd Bass, Compton’s Most Wanted, JVC Force, 8ball & MJG, Black Sheep, Camp Lo, Nine, Percee P, Skinnyman, Hard Knocks, Cru, Mic Geronimo, Cella Dwellas, Craig Mack, MF Grimm, Frank-N-Dank, Black Milk, Agallah und Curren$y. Aber Listen lesen heißt ja immer auch: weitersuchen, selbst entdecken, selber flashen.

Schoolly D

Schoolly D (1986)

Der Typ hat Gangstarap erfunden. In Philadelphia. Nicht Ice-T, nicht KRS-One, und schon gar nicht N.W.A. – sie alle waren von Schoolly beeinflusst. Sein Debüt hatte sechs Tracks, drei Singles und eines der wenigen gelungenen Cover-Artworks der Rap-Geschichte. Die Maxi „PSK What Does It Mean?“ übrigens erschien bereits 1985 und diente als Vorlage für Ice-Ts bahnbrechendes „6 ‚N The Morning“.

Ultramagnetic MCs

Critical Beatdown (1988)

Early 80s? Alberner Kinderfasching. Ein Disco-Loop, ein bisschen Hibbedihopp, und fertig war der Fetenhit. Dann kam Ced Gee und schuf hochkomplexe Samplegewitter von alttestamentarischer Kraft. Dazu packte Kool Keith endlose Reimkaskaden und Assoziationsakrobatik in Lichtgeschwindigkeit aus und machte Hip-Hop zu dem, was er heute ist – oder zumindest einmal war. Das ist Hardliner-Polemik, natürlich. Aber nicht ganz verkehrt. Ein unfassbares Album, im wahrsten Sinne des Wortes.

Tuff Crew

Danger Zone (1988)

Das unterschätzte Gegenstück zu den Ultramagnetic MCs, allerdings aus Philly. 80er-Jahre-Rap in Reinform: harte Breakbeats, zermürbende Scratches, Fast Raps in der Tradition von Big Daddy Kane und Kool G Rap. Der DJ und Kopf der Truppe, Too Tuff, gilt zudem als einer der Urväter des Turntablism. Sein Glück fand er dennoch nie: In den vergangenen Jahren kämpfte er mit Knastaufenthalten und Schilddrüsenkrebs.

Demon Boyz

Recognition (1989)

Den Atlantik in den Köpfen legte endgültig erst Roots Manuva mit seinem Debüt Brand New Second Hand von 1999 trocken. Wahre Pionierarbeit aber leisteten zehn Jahre früher die Demon Boyz: ein Haufen Londoner Teenager, die nicht einfach über New York sprachen, ohne jemals ein Flugzeug von innen gesehen zu haben, sondern frei nach Schnauze das Leben in den heimischen Ghettos schilderten. Knalleralbum, frag nach bei Martin Stieber.

Divine Styler

Word Power (1989)

Die Kraft des Wortes. Unbeugsam seit den Last Poets, selten so göttlich gestylt wie hier. Man sollte gar nicht erst versuchen, den ganzen Wust aus kruder Five-Percenter-Ideologie komplett zu durchdringen, man verfinge sich nur in den übermenschlichen Flows und hyper-verästelten Erzählstrukturen der „Zunge des Labyrinths“. Der Einfluss übrigens, den Ice-T als Executive Producer nahm, ist überschaubar: Der Styler bezeichnete seine Beziehung zu dessen Rhyme $yndicate als „rein geschäftlich“.

Stezo

Crazy Noise (1989)

2Pac startete seine Karriere als Background-Tänzer von Digital Underground. Dies ist ein weiterer Fall von Danca Ternt Rappa (um mal im Sprech der Autotune-Jugend zu bleiben). Arg angeödet von seinem Turnerdasein in der zweiten Reihe von EPMD schnappte sich Stezo einen Sampler und ein Mic, bog mithilfe von Ced Gees rechter Hand Paul C seine liebsten Funkplatten zurecht und verkündete lautstark: „It’s My Turn“. Jawoll.

London Posse

Gangster Chronicle (1990)

1990 regierte im Vereinigten Königreich ein Sound, den deutsche Fans schlicht „Britcore“ getauft hatten: rasend schnelle Breakbeats über 100 bpm, gesampelte Spielfilmfetzen und brachiale Hardcore-Raps auf Speed. Die London Posse um MC Rodney P dagegen vermischte auf ihrem einzigen Album jamaikanischen Reggae, New Yorker Boom Bap und Londoner Lässigkeit, und legte so die Grundlage für den UK-Rap, wie wir ihn heute kennen. Buff nuff.

X-Clan

To The East, Blackwards (1990)

Mit den vollen Künstlernamen der Truppe um Grand Verbalizer Funkin‘ Lesson Brother J ließe sich locker eine Seite füllen. Das aber würde diesem musikalischen Radikalaktivismus nicht gerecht werden. Schließlich muss man noch erwähnen, dass To The East, Blackwards das Lieblingsalbum von Hitschmied Just Blaze ist und außerdem der wohl wichtigste Referenzpunkt für die heutige Klasse sozialbewusster Rapper um Common und Talib Kweli. Ostalgie, mal anders.

KMD

Mr. Hood (Elektra, 1991)

Daniel Dumile ist eine Ikone des Indierap, bewundert von RZA und Thom Yorke. Dabei zeigt er grundsätzlich nie sein Gesicht, gibt kaum Interviews und schickt zu Konzerten gerne mal einen Stellvertreter. Doch es gab eine Zeit vor seiner Ausnahmestellung als maskiertes Mysterium. 1991 veröffentlichte Dumile mit u.a. seinem Bruder DJ Subroc ein Album unter dem Bandnamen KMD – ganz normal, als humoriger Politrapper Zev Love X. Als Subroc 1993 bei einem Autounfall ums Leben kam und das Label Elektra die Gruppe fallen ließ, zog sich Zev tief getroffen zurück, wurde depressiv und später obdachlos. 1997 kehrte er in seiner heutigen Inkarnation als MF Doom zurück; die Musik und seine Maske trägt er seitdem wie Schutzschilde vor sich her. Mr. Hood ist das einzige Zeugnis des Menschen Dumile hinter der Legende Doom. Und wird es wohl für immer bleiben.

LSD

Watch Out For The Third Rail (1991)

Erstaunliches aus der Eifel. Zu einer Zeit, in der Rödelheim noch ein ganz normaler Stadtteil war und Die Fantastischen Vier sich als Terminal Team in der schwäbischen Provinz zum Affen machten, brachten Rick Ski, Future Rock, Defcon und Kolute ungefilterten Sample-Wahnsinn im Stile von Ced Gee und Mark 45 King. „Die Platte ist nicht nur herrlich, die ist weitaus wahnsinnig wunderbar“, dichtete das Heidelberger Szene-Idol Torch auf Kolutes Anrufbeantworter. Und hatte Recht.

Organized Konfusion

Organized Konfusion (1991)

„Simply II Positive MCs“ nannten sich Pharoahe Monch und Prince Poetry am Anfang. Eine glatte Untertreibung. In Wahrheit nämlich waren die beiden Kindheitsfreunde aus Queens brillante Musiker, deren drei Alben trotz der Fülle an Einflüssen klingen wie aus einem Guss – das oft geschmähte Equinox explizit eingeschlossen. Das 1991er-Debütalbum organized konfusion steht hier also nur stellvertretend. 1997 löste sich die Band allerdings auf: Pharoahe Monch landete mit „Simon Says“ einen Hit, Po verschwand in der Obskurität.

KAOS

International Dope Dealers (1993)

Obacht, Obskuritätenalarm. Die beiden deutschen Oldschool-Aktivisten Future Rock und Fader Gladiator klingelten ihren New Yorker Lieblingsrapper KAOS aus dem Rap-Ruhestand als Hausmeister, flogen ihn nach Köln ein und bastelten ihm den Nachfolger zu seinem (von den späteren House-Heroen Kenny Dope und Todd Terry produzierten) 1987er-Debüt Court’s In Session. Der dritte Rick-Bruder Joachim, ein Karikaturist, gestaltete das Cover, KAOS disste im Auftrag seiner Teuto-Freunde die Fanta 4. Groß.

Mac Mall

Illegal Business (1993)

1993 passierte Hip-Hop in Kalifornien. Die Aufmerksamkeit aber richtete sich auf den Süden des Staates, auf Dr. Dre und Snoop Dogg. Dabei veröffentlichte zur selben Zeit der erst 16-jährige Mac Mall aus Vallejo den ersten Albenklassiker der Bay Area. Gut abgehangener G-Funk, gespeist zu gleichen Teilen aus den Hood-Narrativen von Kool G Rap, den Weltraumreisen des George Clinton und dem Cool von Blaxpoitationfilmen wie „The Mack“. Ein frühes Musterbeispiel für das Modewort der Stunde: Swagger.

Goodie Mob

Soul Food (1995)

Es gab eine Zeit vor Gnarls Barkley. 1995 saßen Cee-Lo Green und die anderen Mitglieder des Goodie Mob in einem Keller in Atlanta, Georgia, und warteten. Ihre Spezln von Outkast hatten gerade den Süden auf den Plan gebracht, ihre Produzenten Organized Noise schrieben Welthits für TLC und En Vogue. Nun sollte die Zeit für Goodie Mob kommen. Doch sie kam nicht: Soul Food wurde erdrückt vom Hype um Outkast, brachte aber immerhin den Beweis, dass Cee-Lo Green auch als Rapper eine gute Figur macht.

Kool G Rap

4, 5, 6 (1995)

Seine frühen Alben mit DJ Polo sind kanonische Klassiker und inspirierten später unzählige Gangster-Poeten von Raekwon bis hin zu Rick Ross. Kool G Raps erstes Soloalbum ging dagegen etwas unter. Zu Unrecht – den Edelbackpackern von weknowrap.com zum Beispiel gilt es gar als Gs bestes Album überhaupt. Ein düsteres Mafiaepos in einer Linie mit Only Built 4 Cuban Linx von Raekwon und Hell On Earth von Mobb Deep, mit Nas und MF Grimm in den Nebenrollen und passgenauen Boombap-Beats von Buckwild (D.I.T.C.) und Salaam Remi (The Fugees, Nas).

Kool Keith & Godfather Don As The Cenubites

The Cenubites EP (1995)

Die Initialzündung für alles, was Mitte bis Ende der 90er-Jahre in New York als „Indie-Rap“ verkauft wurde, von Stretch & Bobbito über Company Flow bis hin zu Rawkus und der Lyricist Lounge. Ein schrabbeliges Demotape, spaßeshalber aufgenommen in Godfather Dons Bruchbude in Bushwick, Brooklyn, mit dem einflussreichen Radio-DJ Bobbito Garcia als Featuregast auf dem Track „Kick A Dope Verse“. In Kennerkreisen rauf- und runtergespielt und reichlich abgefeiert, später in Kleinstauflage über Bobbito Garcias Label Fondle Em veröffentlicht.

Slum Village

Fan-Tas-Tic Vol. 1 (1996)

James „Jay Dee“ Yancey (1974 – 2006) war der Lieblingsproduzent deiner Lieblingsproduzenten. Und Slum Village war seine Band, sein Heimspiel, seine große Liebe. Gemeinsam mit den Rappern Baatin und T3 schuf er im Jahr 1996 diesen Rohdiamanten: noch arg ungeschliffen, aber bereits von einer strahlenden Schönheit. Der Plattenindustrie blieb diese verborgen. Obwohl Yancey bereits mit Größen wie Busta Rhymes, De La Soul und A Tribe Called Quest gearbeitet hatte, fanden Slum Village zunächst kein Label für das Album und mussten den Vertrieb deshalb schlicht selbst übernehmen. Später wurde fant-tas-tic vol. 1 mehrmals wiederveröffentlicht – und musikalisch deutlich übertroffen. Dennoch ist dieses Album ein kleines Heiligtum der Samplekultur und ein Sinnbild für eine ganz und gar außergewöhnliche musikalische Begabung. Dilla R.I.P.!

Al Tariq

God Connections (1996)

Die Beatnuts sind grundsympathische Knalltüten. Sie saufen den ganzen Tag Corona, rauchen Medicina, reißen Witze über Putas und machen die besten Beats. Kool Fashion wurde das irgendwann zu blöd. Er trennte sich von Juju und Psycho Les, konvertierte zum Islam, nannte sich Al Tariq und nahm ein Soloalbum für das Label Correct Records (!) auf. Das war ziemlich gut. Nebenbei übrigens verhalf er dem Produzenten Kanye West zu seinem ersten Halb-Hit, „City To City“ mit Grav.

Heather B

Takin‘ Mine (1996)

Ihre ersten 13 mal 30 Minuten Ruhm genoss Heather Gardner als Star von MTVs „The Real World“. Das Album, an dem sie in der Serie arbeitete, erschien jedoch nie – dafür debütierte sie vier Jahre später mit KRS-Ones Bruder Kenny Parker und dem formidablen Takin‘ Mine. Die Singles „All Glocks Down“ und „If Headz Only Knew“ schepperten damals auf allen Mixtapes, nur das Album ist in der allgemeinen Aufregung um Lil‘ Kim und Foxy Brown untergegangen. Warum eigentlich?

Nas

It Was Written (1996)

Gewagte These jetzt mal: It was written ist das beste Nas-Album. Im langen Schatten des Debüts Illmatic aus dem Jahr 1994 – bis heute der Inbegriff eines Hip-Hop-Klassikers – mochte nur keiner so recht warm werden mit dem neuen Mobster-Image von Nas Escobar, den poppigen Produktionen der Trackmasters und den offenkundigen Intentionen hinter den Singles „If I Ruled The World“ und „Street Dreams“. Sollte man sich einfach noch einmal anhören. Wir sind ja auch alle was älter geworden, ne?

Ras Kass

Soul On Ice (1996)

Ras Kass ist der Lukas Podolski des Rap. Ein Riesentalent. Aber leider keinen Geschmack, keine Konstanz und immer die falschen Karriereentscheidungen. Wie der Prinz aus Bergheim hat jedoch auch Kass seine Momente: Nachdem das in Erbsenzählerkreisen gefeierte Demo noch arg nach Organized Konfusion geklungen hatte, wandte sich Kass auf seinem Debütalbum Soul On Ice im Jahr 1996 gen Westen. Damals etwas verstörend, im Rückblick aber stärker als die Kataloge der Hieroglyphics und Living Legends zusammen.

UGK

Ridin‘ Dirty (1996)

Viele Jahre lang mussten sich die Rapper aus den Südstaaten der USA mit den Vorurteilen überheblicher New Yorker herumschlagen: dümmliche Bauern, mit billigen Beats und dem geistigen Horizont eines Holzpflocks. Auch Bun B und Pimp C bekamen erst Respekt, als es fast schon zu spät war: Im Jahr 2007 erschien ihr erfolgreichstes Album Underground Kingz, im selben Jahr verstarb der zuvor lange inhaftierte Pimp C. Die Musik aber war bereits in den 90ern großartig: Organische, satt instrumentierte Beats, zäh wie frischer Asphalt im texanischen Hochsommer. Der schnurgerade Vortrag des patengleich in sich ruhenden Bun B. Und Pimp Cs in jeder Hinsicht breiter Mundart-Singsang. In der Summe: Country Rap in Vollendung.

The Juggaknots

The Juggaknots LP (1996)

Die beiden Brüder aus Brooklyn überzeugten 1996 auf the jugga-knots lp mit schleppenden Sampling-Beats, emotionalen Texten und abstrakten Reimketten – und schufen das wahrscheinlich beste Album, das der New Yorker Underground der mittleren und späten Neunziger neben Company Flows Funcrusher Plus je hervorgebracht hat. Auch (nicht besonders) bekannt als Clear Blue Skies, und seit 2002 (mehr oder weniger) erhältlich in überarbeiteter und ergänzter Form.

O.C.

Jewelz (1997)

Unter den großen New Yorker Rap-Crews gehörte der Geheimtipp zur personellen Grundausstattung: Die Juice Crew hatte Masta Ace, der Wu-Tang Clan hatte Cappadonna, die Boot Camp Clik hatte die Originoo Gunn Clappaz. D.I.T.C. bildeten da eine klare Ausnahme: Sie bestanden ausschließlich aus Geheimtipps. Abgesehen vom eher lose affiliierten Fat Joe blieb allen Mitgliedern der große Durchbruch stets verwehrt. Verdient hätten sie ihn alle. A.G. zählt noch heute zu den gewitztesten MCs im Spiel. Lord Finesse und Diamond D brillierten jahrelang in der Doppelrolle an Mic und Mischpult. Big L hätte spielend leicht die Rolle späterer Teenieschwärme wie Juelz Santana einnehmen können, wäre er nicht 1999 unter nebulösen Umständen erschossen worden. Und O.C. lieferte gleich zwei potenzielle Klassiker voll brettharter Beats und slicken Wortspielen: Word … Life (1994) und Jewelz (1997). Besonders letzteres ist ein Meilenstein der Rap-Lyrik, mit euphorischen Rezensionen – und miserablen Verkaufszahlen.

Wu-Tang Clan

Wu-Tang Forever (1997)

Das gute, alte Hip-Hop-Muster: Ein paar Jungs in einem Keller. Alle eine Scheißwut. Keiner weiß so recht, was er da tut, man will es aber unbedingt „echt“ halten. Genau das kriegt man irgendwie nicht hin, und plötzlich entsteht – halb aus Genialität, halb aus Versehen – ein Klassiker, der das ganze Spiel nachhaltig umkrempelt. In der Folge wird aus der Wut ein Wohlstandsbäuchlein und aus der ewigen Echthalterei eine musikalische Vision. Oft endet das in einem künstlerischen Desaster. Der Wu aber legte mit angemessenem Sicherheitsabstand ein zweites Alben vor, das keinen Deut schlechter war als das bahnbrechende Debüt von 1993. Nur eben anders, und anders mag erst mal kein Fan. Erst mal.

Westberlin Maskulin

Hoes, Flows, Moneytoes (1997)

Wer sagt, er hätte 1997 schon Maskulin gefeiert, der lügt. Denn mit dem damaligen Zeitgeist hatte das ungleiche Duo aus dem frivolen Fäkaldichter Kool Savas und Deutschraps großem Dadaisten Taktlo$$ genau gar nix zu tun. Im Rückblick aber erscheint ihr kompromisslos-abstrakter Battlerap visionär: Savas wurde zum „King Of Rap“, Taktlo$$ baute sich mit seiner Albenserie „BRP“ eine kultgleiche Gefolgschaft auf. Hartes Brot – zum Warmkauen empfiehlt sich daher Battlekings aus dem Jahr 2000.

Juvenile

400 Degreez (1998)

Ein Geheimtipp mit vierfach Platin? In Europa bekamen Juve und die anderen Hot Boy$ aus New Orleans nie einen Fuß auf den Boden. Dabei bot „400 Degreez“ brutzelnd heißen Gangstarap für den Club, beeinflusst von der lokalen Hip-Hop-Spielart Bounce Music. Als Einstieg in die andere verhasste Hitfabrik aus Louisiana, No Limit Records, eignet sich übrigens Master Ps Ghetto D aus dem Jahre 1997. Nur nicht vom Cover-Artwork abschrecken lassen!

Rasco

Time Waits For No Man (1998)

Das erste Rapalbum auf dem in der Gegenwart wichtigsten Hip-Hop-Indie -Label überhaupt: Stones Throw Records. Staubtrockene Beats von Labelchef Peanut Butter Wolf und befreundeten Verfechtern der echten Lehre wie Paul Nice und Kutmasta Kurt. Dazu wortgewaltige Raps eines ehemaligen Tänzers und College-Absolventen aus dem Umland von San Francisco. Interessiert heute keine Sau mehr. War damals aber das Maß aller Dinge, zumindest einen Sommer lang.

Da Grassroots

Passage Through Time (1999)

Kanadier im Rap gibt’s nicht, eherne Regel. Main Source waren in erster Linie die Band des New Yorkers Large Professor. Drake wohnt längst in den USA. Und K’naan, Kardi und K-os sind wegen Wettbewerbsverzerrung disqualifiziert, weil zwar Kanadier, aber kein richtiger Rap. Also: keine Kanadier im Rap. Wobei: Dieses Album hier war echt ganz gut. Und Maestro Fresh Wes gab’s irgendwann. Na gut, Ausnahmen bestätigen die Regel (und hören sich, zumindest in diesem Fall, auch heute noch gut an).

Deltron 3030

Deltron 3030 (2000)

Dan The Automator ist das große verkannte Genie unter den Produzenten. Eine visionäre Version von Prince Paul oder aber auch Danger Mouse mit Eiern, ganz wie man mag. Sein Projekt Deltron 3030 – zusammen mit Del Tha Funkee Homosapien und Kid Koala – zementierte diesen Status. Eine futuristische Hip-Hop-Oper mit Gästen wie Sean Lennon, MC Paul Barman und Mark Bell von den britischen Soundtüftlern LFO. Und nicht zuletzt die kreative Keimzelle für eine Band namens Gorillaz.

Lunatic

Mauvais x{0153}il (2000)

Zehn Jahre ist es her, dass zwei Jugendfreunde aus dem Pariser Vorort Boulogne-Billancourt das Klischee vom fluffigen französischen Jazzrap à la MC Solaar zerbröselten wie ein altes Croissant in der Schrottpresse. In dem Album Mauvais x{0153}il steckte die geballte Wut der Banlieue, getragen von bittersüßen Bombastbeats und jahrelanger Erfahrung auf Frankreichs Freestyle-Bühnen. Mauvais x{0153}il funktioniert wie das Kopfkino von Mobb Deep: Man muss kein Wort verstehen, um den Straßenstaub riechen und den kalten Wind der Gasse spüren zu können.

Square One

Walk Of Life (2001)

New York ist bekanntlich auch nur ein Vorort von München-Schwabing … Mitten in den großen Katzenjammer nach dem Deutsch-Hip-Hop-Boom der Jahrtausendwende platzten Square One mit ihrem einzigen Album walk of life: warme Samplebeats, englischsprachige Raps und tiefe Weisheit direkt aus den Straßen der bayerischen Landeshauptstadt. Nie hat sich die Floskel von Musik als universeller Sprache lebendiger angefühlt als hier. Rapper Rasul übrigens ist im Frühsommer 2010 verstorben. Möge er in Frieden ruhen.

will.i.am

Lost Change (2001)

The Black Eyed Peas. Eklig, nicht? Diese plumpen David-Guetta-Beats. Dieser permanente stilistische Zickzackkurs. Dieser überflüssige Indianer. Dass sich unter dem dicken Zuckerguss der Black Eyed Peas ein musikalisches Genie namens William Adams versteckt, wird heute gerne mal übersehen. Hier bewies das Multitalent noch einmal, was er eigentlich drauf hat: will.i.ams Beitrag zur Beat Generation-Serie des britischen Labels BBE war wie ein Soundtrack zu einem imaginären Film – der niemals so gut hätte werden können wie dieses Album tatsächlich war.

Common

Electric Circus (2002)

Von den Hip-Hop-Stammtischen wurde Electric Circus bei seiner Veröffentlichung gnadenlos abgewatscht. Häkelmützen, Hippietum, Homo: Common und seine Mitstreiter vom Produzenten-Kollektiv Soulquarians bekamen die volle Bandbreite an Genre-Ressentiments ins Gesicht geschleudert. Dabei war, was ?uestlove & Co. auf Electric Circus veranstalteten, nicht weniger als visionär. Ein waghalsiger Psychedelia-Trip aus dem goldenen Spätsommer der Neo-Soul-Ära.

Scarface

The Fix (2002)

Als Scarface im Jahr 2000 zum Präsidenten von Def Jam South ernannt wurde, nahm er neben Ludacris den besten denkbaren Künstler unter Vertrag: Scarface. Im Jahr 2002 lieferte er dem Label dann das stärkste Album seiner Karriere, the fix: eine knapp 50-minütige Meditation über Macht, Moral, menschliche Schwäche und die Straßen seiner Heimatstadt Houston, Texas. Pure Seelenmusik von einem altersweisen Geto Boy auf dem Höhepunkt seiner Kreativität.

Styles P

A Gangster And A Gentleman (2002)

In der Binnenlogik der Bronx-Bande The LOX galt stets Jadakiss als Anführer und Aushängeschild. Eine Edelzunge mit rauchiger Stimme und tödlichen Zeilen, die zwischenzeitlich sogar Jay-Z Konkurrenz machte. Styles Ps Reimstil war stets simpler, erwies sich dabei allerdings als nicht weniger durchschlagskräftig: A Gangster And A Gentleman ist das beste Soloalbum aus dem LOX-Universum, eine perfekte Symbiose aus rauem Straßenkötergebell und hochmusikalischen Beats, inklusive die Kifferhymne „Good Times“.

R.A. The Rugged Man

Die, Rugged Man, Die! (2004)

Ghettogeschichten hat R.A. Thorburn nicht zu bieten. Als Sohn eines von dem Entlaubungsmittel Agent Orange geschädigten Vietnamveteranen und als lispelnder, weißer Jude von Rassisten gleich zweierlei Art durch das Haifischbecken der Musikindustrie getrieben zu werden, ist aber vermutlich auch kein Kinderfasching. Zu erzählen also hatte der Filmfreak, Boxexperte und Teilzeitjournalist genug. Und er tat es in seinem schonungslos offenen Aso-Style, der einfach mit nichts und niemandem vergleichbar ist. Live fast, die rugged!

The U.N.

U.N. Or U Out (2004)

In oder out? Diese Frage beschäftigte schon den Münchinger Franz und den Kopfeck Manni. Und 20 Jahre später eben auch ein Quartett aus Long Island um den Rapper Roc Marciano. Dabei war der grimmige New-York-Sound, den The U.N. auf ihrem einzigen gemeinsam Album verfolgten, zu diesem Zeitpunkt bereits hoffnungslos out. Konsequenterweise floppte das Album – trotz Beats von Large Professor und Pete Rock, und der Unterstützung von 456 Entertainment, dem kurzlebigen Label von Star-Talker Carson Daly. Erst im vergangenen Jahr wurde das Album teilweise wiederentdeckt und rotiert seitdem als perfekte Ergänzung zu Roc Marcis Soloalbum Marcberg. Noch so ein Geheimtipp übrigens.

Wiley

Treddin‘ On Thin Ice (2004)

Wie so viele andere Evolutionsstufen des britischen Hardcore Continuum war auch Grime in seiner Essenz eine Underground-Kultur und damit nicht geschaffen für das Albumformat. Dem Produzenten und MC aus Bow E3 aber gelang mit seinem Debüt für das XL-Label das Unmögliche: Er fing den Geist einer ganzen Bewegung mit einem kleinen Stück Polycarbonat ein und machte sie für Außenstehende begreiflich. „Wot Do U Call It?“ Wie wär’s ganz einfach mit „geil“?

Sean Price

Monkey Barz (2005)

Das Konzept „Comeback“ ist im Hip-Hop eigentlich nicht vorgesehen, bei aller Liebe zum Drama. Wer einmal weg war vom Fenster, darf in der Regel nie wieder mitspielen. Eine der wenigen Ausnahmen ist Sean Püüü. In den Neunzigern feierte er moderate Erfolge als bärtige Hälfte von Heltah Skeltah; im Jahr 2005 kehrte er so unverhofft wie triumphal als Solorapper zurück: pleite, hungrig, mit gewohnt bärbeißigem Hood-Humor und unschlagbaren Beats von neuen Typen am Block wie 9th Wonder oder Ayatollah.

Aloe Blacc

Shine Through (2006)

Aloe Blacc ist ein tolles Beispiel für den DIY-Ethos der Hip-Hop-Kultur. Er ist nicht Dr. Dre, aber baut seine Beats mit Vorliebe selbst. Er kann nicht besonders gut singen, aber man muss ihn lieben als Sänger. Dieser Tage feiert er Erfolge mit einem kennerhaft kopierten Retro-Sound („Dollar“). Auf seinem Debütalbum aber experimentierte er noch wild mit den Stilen: Salsa, House, Southern Soul, Bossa, Dancehall und natürlich: Rap. Lieblingslieder im Dutzend.

Clipse

Hell Hath No Fury (2006)

Die Gebrüder Thornton verfügen über ein beeindruckendes Themenspektrum: Koksverticken. Und was man sich alles Schönes davon kaufen kann. Dieses Feld aber beackerten sie auf ihrem zweiten Album kunstvoll wie niemand sonst: elf arrogante Angeberhymnen auf nihilistischen Neptunes-Beats, dazu zum Abschluss die beste Vertonung von Pusher-Paranoia aller Zeiten. Ein kommerzieller Flop. Aber alleine das Eröffnungs-„Egkh“ von Pusha T hatte mehr Stil als das gesamte Restrapjahr 2006.

Marsimoto

Halloziehnation (2006)

Unter dem Namen Marteria fliegt Marten Laciny derzeit mit 10.000 Meilen pro Stunde durch die Charts. Wahre Heads aber haben den 27-jährigen Wahlberliner bereits seit dem Jahr 2006 und diesem Album auf dem Zettel: Als dauerbekifftes Fabelwesen Marsimoto, das mit Heliumstimme über Fußball, Frauen, Fressflashs und vor allem komplett kranke Eineinhalbminüter seines Hausproduzenten Dead Rabbit rappt. Marsimoto Crew forever!

Diverse

The Celluloid Years (2006)

Hip-Hop war in der ersten Hälfte der 80er-Jahre vor allem eine Singles-Kultur. Kleine Indie-Labels schossen wie Pilze aus dem Boden und versorgten die DJs mit schnellem Nachschlag für die nächste Nacht: 12-Inches vom Presswerk direkt auf den Plattenteller. Eines dieser Labels war Celluloid aus New York: Ohne jede Hemmung verschmolzen Jean Karakos und Hausproduzent Bill Laswell in den Jahren 1978 bis 1985 No Wave, Discopunk, Ska, Electro, Rap, Jazz und Weltmusik zu einem neuartigen New-York-Sound. Ein brodelnder Pool für kreative Spinner wie Futura 2000, Chris Cunningham, Mick Jones und Fab 5 Freddy. Die Compilation The Celluloid Years ist ein beeindruckendes Dokument dieser Zeit, in der alles möglich schien – und noch viel mehr möglich war.

Nicolay

Here (2006)

Ein modernes Märchen. Ein holländischer Jazzmucker lernt auf einem Messageboard den Rapper Phonte kennen. Über das Internet nimmt er ein Album mit ihm auf (Foreign Exchange) und wagt, digital ermutigt, den Sprung über den Teich, der so lange sooo groß erschien. In den USA angekommen, kreuzt er jazzige Hip-Hop-Beats mit seinem europäischen, fast schon trancigen Melodieverständnis – und gräbt nebenher Talente wie Wiz Khalifa aus. Ein zauberhaftes, seltsam schwereloses Album aus dem Nichts.

Blu & Exile

Below The Heavens (2007)

KRS-One und Scott La Rock, Guru und DJ Premier, Snoop Dogg und Dr. Dre: In diese große Tradition dynamischer Duos stellten sich mutig zwei Rap-Connaisseure aus Kalifornien. Exile fütterte seine MPC mit Schätzen aus der Grabbelkiste mit dem schwarzen Gold; der blutjunge Blu schüttete dazu eindringlich, aber angenehm unaufdringlich sein Herz aus. Zeitloser geht nicht. Besser auch kaum. Ein Song heiß nicht umsonst: „So(ul) Amazing“

Huss und Hodn

Jetzt schämst du dich (2007)

Kurt Hustle alias Der Retrogott ist zu cool für eure Partys. Wie ein perfekt verstimmtes Instrument lässt er seine glasklare Stimme über die verrauschten Beats seines DJs Hulk Hodn wandern, übt sich in „Schwanz-Fu“, leitet Oberseminare in „Hurensohnologie“ und meuchelt „wack MCs“ wie eine Legion hirnloser Orks. „Ein Gangsterrapper ist kein Gangster. Oder ist ein Müllmann Müll?“ Berechtigte Frage, essenzielles Album. Es regnet.

V. Mann & Morlockk Dilemma

Hang zur Dramatik (2007)

Aufgewachsen „wie Mowgli zwischen Nazis und Ravern“ in Leipzig-Grünau, etablierte sich Morlockk Dilemma mit „Hang zur Dramatik“ als Ausnahmeerscheinung im deutschen Rap. Gemeinsam mit dem Berliner V.Mann brach er die vorgebliche Dichotomie von gymnasialer Reihenhauspoesie und bösem Gettorap: Er suchte die Gewalt in „Wortgewalt“ und tackerte seinen atemlosen Reimstafetten auf bitterböse Bretter in der Tradition des frühen Wu. Gnadenlos gut.

Drake

So Far Gone (2009)

Mit „Thank Me Later“ schuf Drake kürzlich den ersten Klassiker des von ihm begründeten Genres Emotranceswaggerrap, sein ganz persönliches „Blueprint“. Die Blaupause dafür findet sich auf diesem Mixtape. In schwindelerregendem Superzeitlupentempo wechselt er zwischen Rap und Gesang, verzehrender Sehnsucht und überbordendem Selbstbewusstsein, Zweifeln, Zielen, zigtausend Weibern. Ein echter Superheld eben, mit guten Freunden wie Lil Wayne und Lykke Li.

Large Professor

The LP (2009)

Zur Erinnerung: Large Professor produzierte Platten für Big Daddy Kane, Common und A Tribe Called Quest. Als Frontmann der Gruppe Main Source entdeckte er nebenher einen jungen Rapper aus Queensbridge namens Nas. Seine Solo-LP von 1996 aber blieb ewig verschollen und wurde so zur Legende. Nachdem sie zuletzt als Bootleg im Netz zirkuliert war, erschien sie im vergangenen Jahr nun endlich offiziell über das professoren-eigene Label Paul Sea Productions. Ein mysteriöser Meilenstein.