Hurricane 2011: Arcade Fire und Portishead verzaubern. So war der Freitag.


Arcade Fire sorgen für kollektive Entzückung, Portishead kühlen die Menge herunter - und sorgen dennoch für Furore. Der Freitag des Hurricane-Festivals. Christoph Dorner ist vor Ort.

Das muss man sich mal vorstellen: Portishead aus Bristol spielen am Freitag Abend ein großartiges, ein magisches Konzert auf der „Green Stage“ des Hurricane. Und was macht Beth Gibbons, die das Schmerzliche, die innere Verzweiflung in ihren Songtexten auf der Bühne immer noch durchleidet wie keine zweite. Eine Gibbons, die mit geschlossenen Augen fantastisch singt und deren Close-Up in weichen Schwarz-Weiß-Linien auf die großen Videoleinwände projeziert wird: Sie entschuldigt sich für ihren Auftritt! Sie sei – im Gegensatz zu ihrer, mit wissenschaftlicher Strenge operierenden Band – nicht eben in Form gewesen. Es ist Demut, die aus der introvertierten Sängerin vor großem Publikum nicht herauszubekommen ist, und die doch völlig ins Leere zielt. Portishead gelingt an diesem Abend Außergewöhnliches: Mit dem trippigen Pop-Minimalismus und den Krautrock-Studien von ihrem letzten Album „Third“ kühlen sie eine Menge herunter, die in diesem Moment nichts besser gebrauchen könnte als aufputschenden Rock’n’Roll. Sie spielen „Silence“, „The Rip“, das großartige, ins Mark fahrende Rhythmus-Sperrfeuer „Machine Gun“. Dazu die Klassiker „Glory Box“ und „Numb“, sowie einen tollen neuen, krautrockigen Song. „The blackness, the darkness, forever“, singt Gibbons in „Wandering Stars“ – und beginnt tatsächlich sanft zu nieseln. Portishead – die Regenmacher.

Der Freitags-Headliner Arcade Fire startet im Anschluss fulminant: Szenen aus ihrem Kurzfilm „The Suburbs“ flackern zu Beginn über die Leinwände. Kids auf BMX-Rädern, eine rasende Autofahrt über kleine Zufahrtsstraßen – dazu der Kickstart einer Band, die läuft wie eine hochtourige Maschine: „Ready To Start“, „Keep The Car Running“, „No Cars Go“. Die Band rotiert zwischen den Songs und tut mit ihrem energetischen Auftreten auch sonst alles dafür, dass sich neben ihren so hymnischen Singalongs auch ein nervöses, kribbelndes Rock-Moment auf das Publikum überträgt. Bei den ganz großen Hits wie den „Neighborhood“-Songs von „Funeral“ oder „The Suburbs“ ist es tatsächlich ein kollektives Aufschreien, ein seeliges Seufzen, das durch die Reihen geht. Es ist zwar schade, dass Arcade Fire bei den Zugaben im Gegensatz zu einigen US-Shows nicht auf ein Cover von Cindy Lauper’s „Girls Just Wanna Have Fun“ zurückgreifen – dennoch: Mehr kann sich Indie-Rock nicht aufplustern.

Was hatte der erste Festivaltag neben diesen beiden unbestreitbaren Highlights sonst noch zu bieten? So einiges. Den britschen Sample-Songwriter Yoav als Opener auf der „Blue Stage“, der seine Tour-Partnerin Katie Melua disst und „Where Is My Mind“ von den Pixies an der Gitarre mit Klopen, Riffs und Fingerpicking nachbaut. Die schottischen Emo-Rocker „Twin Atlantic“, die am frühen Nachmittag den ersten, sachten Moshpit initiieren. Kvelertak, die auf „Red Stage“ für den ersten großen Verausgabungsmoment sorgen. Die Norweger machen es sich irgendwo zwischen Turbonegro, Black Flag und Motörhead, zwischen Hardcore, Punkrock und Metal gemütlich und entfachen mit gleich drei Gitarren so viel Druck, dass sich die Mädchen am Bühnenrand reihenweise mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuhalten. Dass ihr Sänger Erlend Hjelvik dabei auf Norwegisch „singt“, nein, gurrt, keift, faucht, macht überhaupt nichts: Hier funktioniert Völkerverständigung allein über die Energie, die Raserei der Songs. Kvelertak haben mit dieser Show den Status eines Geheimtipps längst überschritten.

Auf norwegisch singen seit jeher auch Kaizers Orchestra, das müsste Sänger Janove „The Jackal“ Ottesen gar nicht extra erst erklären. Ihr perfekt inszeniertes Polka-Theater ist dabei wie immer dann besonders mitreißend, wenn die Band auf Ölfässer und Autofelgen einprügelt. Mit dem eigenwillig deklinierten Noir-Rock der Norweger muss man dabei gar nicht unbedingt vollauf warm werden.

Irie Révoltés aus Heidelberg heizen unterdessen den jüngeren Semestern mit reggae-infiziertem Ska ein und bitten zum antifaschistischen Tanz gegen den Sarrazin. Portugal. The Man jammen sich ambitioniert durch ihren Psychedelic-Rock, während die Dänen Kashmir mit ihrem energetischen Indie-Rock und kleinen Gesten eine sichere Band auf der „Green Stage“ sind.

Danach reicht Guy Garvey dem Hurricane die Hand, auch wenn der Bühnengraben von seinen Fans trennt. Der Sänger von Elbow, ein Elder Statesman vor dem Herrn, sucht die ganz große Verbrüderungsgeste. Elbow sind am Freitag Abend für den Sonnenuntergang gebucht, ein Szenario, das ob des diesigen Wetters ausfällt. Dennoch bringt die Band aus Manchester das britische Pathos, das so tief in ihren wunderschönen, breit orchestrierten Pop-Songs verwurzelt, auch so live mundgerecht an den Mann. Garvey animiert zum Mitklatschen, zur La-Ola, auch „hinten in Kuba“ – in den letzten Reihen. Wie der hemdsärmelige Großonkel marschiert er durch den Fotograben, setzt sich den Strohhut genauso auf wie die Sonnenbrille, die ihm gereicht wird und schießt Erinnerungsfotos. „Open Arms“ ist der passende Song dazu: „Open arms for broken hearts“, singt Garvey gänzlich unpeinlich, während sich dazu auf beiden Seiten der Bühne die übergroße Enterich-Figur aufbläst, die auch ihr Album „Build A Rocket Boys!“ ziert. Überhaupt wird in erster Linie das jüngste Album gewürdigt, einige alte Hits bleiben bei dem straffen Zeitplan des Festivals dabei leider auf der Strecke. Doch auch so sind Elbow inmitten all der Reizüberflütung das schönste retardierende Moment, das man sich an einem Freitag Abend wünschen kann.

Danach pilgert ein Großteil des Publikums hinüber zu Jimmy Eat World, die wohl als allerletzte Band je beabsichtigt hat, vor einem solch großen Publikum zu spielen. Doch Jim Adkins und Co. waren mit „Clarity“ und „Bleed American“ ganz einfach im richtigen Moment am richtigen Ort. Emo explodierte und mit ihnen eine Band, die seither mit immer größerer Produktion den Anfangstagen hinterherhechelt. Live rocken Jimmy Eat World überraschend straight, auch wenn sie sich vor allem auf Stücke ihres neuen Albums „Invented“ und des bereits überzuckerten „Futures“ beschränken. Adkins sieht derweil immer noch aus wie vor zehn Jahren, sogar die schwarzen Langarmhemden trägt er noch. Nur die raue Emotionalität hinter den weiterhin großen Melodien von Jimmy Eat World fühlt sich leider nicht mehr ganz so echt an. 

Zeitsprung – 1 Uhr: die ganze Aufmerksamkeit gehört nun dem Mega-Rave der Chemical Brothers, deren großspurige Lichtshow und Projektionen auch aus großer Entfernung ziemlich beeindruckend daherkommen. So endet Tag 1 mit einem LSD-Gewitter am Horizont. Der einsetzende Regen begleitet die Besucher danach zum Zeltplatz.