“ Ich bin mal Flöte, mal Nebelhorn „


Florence Welch ist ein Wirbelwind. Eine Getriebene, die in Punkclubs aufgewachsen ist. Eine Stimme, die Kathedralen füllt. Eine Stilikone, die bei Chanel aus einer Muschel steigt. Dies ist die Geschichte einer Frau, deren Welt gerade explodiert.

Das war’s. Am Abend des 4. Oktober 2011 hat Florence Welch den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Für die Schau zur Frühlings- und Sommermode 2012 des Modehauses Chanel war der legendäre Grand Palais in Paris in eine verschneite Unterwasserwelt verwandelt worden. Gegen Ende der Veranstaltung öffnete sich plötzlich eine Muschel, und da stand Florence Welch in einem eisigen Fiebertraum von einem Kleid, das korallenrote Haar bis weit über die Schultern, und sang in Begleitung eines weiß gekleideten Harfenspielers an einer weißen Harfe und zu einem mitreißenden Crescendo vom Tonband eine morbide submarine Selbstmordfantasie: „Lay me down / Let the only sound / Be the overflow / Pockets full of stones“. Nicht schlecht für eine Karriere, die auf der Damentoilette einer Kneipe begonnen hat.

Aber es sollte noch verrückter kommen. Denn zu den letzten Takten trippelte schließlich der Modeschöpfer Karl Lagerfeld selbst auf den Laufsteg, um sich feiern zu lassen, hielt kurz inne, kehrte um und reichte Florence galant die Hand. Und so stieg sie aus der Muschel und nahm, Seite an Seite mit „König Karl“, als Muse die in tosenden Applaus gekleideten Huldigungen der versammelten Modewelt entgegen. Spätestens jetzt wäre jede andere Künstlerin aufgewacht aus einem allzu mädchenhaften, allzu perfekten und deshalb vielleicht auch leicht peinlichen Traum. „Ich habe mich in den Oberarm gezwickt“, sagt sie im Interview, „aber ich bin nicht aufgewacht.“

Das war’s also. Florence Welch ist 25 Jahre alt und gefangen in einem Traum. Darin ist sie aus US-Perspektive eine bessere Beyoncé, eine reinere Rihanna, aus UK-Perspektive eine frischere Annie Lennox oder, wer weiß, sogar eine poppigere Kate Bush. Eine neue Adele sowieso. Als Florence + The Machine hat sie erst ein einziges Album veröffentlicht, Lungs (2009), aber das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika liegen ihr längst zu Füßen – nicht nur das Publikum, sondern auch die Kritiker. In England schoss das Debüt auf Platz 2 und hätte es auf Platz 1 geschafft, wäre der nicht vom eben verstorbenen Michael Jackson besetzt gewesen. Allein über „What The Water Gave Me“, den für Chanel vorgetragenen Song vom aktuellen Album Ceremonials, steht im US-„Rolling Stone“ geschrieben, er sei „überwältigend in seinem Bombast, erlesen im Detail“. Der „Guardian“ bescheinigte dem Song „genug Melodie, um ihn davon abzuhalten, unter dem Gewicht seiner eigenen Dramatik zusammenzubrechen“. Und der sonst so pingelige „NME“ hörte schlicht ein „Epos, auf das jeder stolz wäre“.

Dabei ist „What The Water Gave Me“ nicht einmal die offizielle Single zum Album. Nur ein Vorbote. Inspiriert von der mexikanischen Malerin und Schmerzensfrau Frida Kahlo und dem feuchten Selbstmord der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf, die 1941 mit „pockets full of stones“ in einen Fluss stieg. Anders als alle, mit denen sie so gerne verglichen wird, scheut Florence Welch sich tatsächlich nicht, die Bildung einer höheren Tochter in ihre Musik einzubringen. Aber ist es das, was sie so einzigartig macht? Die letzte Künstlerin, die beide Welten, die der Musik und die der Mode gleichermaßen bezaubert hat, war Beth Ditto. Florence Welsh kommt ohne den Freak-Faktor aus. Sie ist, im Gegenteil, die ideale Frau zur rechten Zeit.

Geboren wurde sie 1986 in das kreative Umfeld einer anglo-amerikanischen Familie in London. Ihre Mutter Evelyn ist Kunsthistorikerin, die ihren Abschluss in Harvard gemacht hat und heute an der Queen-Mary-Universität von London lehrt. Ihr Vater war „kreativer Direktor“ verschiedener Werbe-Agenturen und arbeitet heute als freier Autor. Wenn die kleine Florence nicht einschlafen konnte, wurde sie von ihm im Kinderwagen zu lauter Musik durchs Kinderzimmer gerollt. Ihr Vater erinnert sich, dass sie The Smiths extrem einschläfernd fand, Syd Barrett dagegen weniger. Experimentiert wurde in dieser frühkindlichen Phase auch mit R.E.M. oder Soft Machine. Harte Kost für einen Säugling. Dennoch hat Nicks Musikgeschmack die junge Florence schon früh beeindruckt: „Mein Vater hat eine bewundernswerte Vinyl-Sammlung, und ich beneidete ihn immer um eine besonders schöne Platte der Incredible String Band. Außerdem hat er eine ganze Reihe alter Scheiben von Miles Davis.“ Stundenlang hörte sie sich durch die Sammlung und lernte dabei vor allem, nichts abzulehnen: „Ich höre heute eigentlich alles, von lustigem Pop bis zu finsterstem Jazz. Es gibt nichts, was ich nicht mag. Ich kann einfach überall noch etwas Interessantes heraushören, selbst aus dem langweiligsten Zeug. Ich finde, alles zählt irgendwie.“

In musikalischer Hinsicht blieb ihr Vater lange ein wichtiger Mentor. Im Alter von 13, 14 Jahren durchlebte sie ihre Punkphase und hörte Green Day. Ihr Vater, verständlicherweise sehr besorgt, machte sie daher mit den Ramones bekannt. Florence erinnert sich: „Ich hörte damals vor allem Green Day, Nirvana, NOFX und Hole. Aber aus dieser Phase wächst man heraus, oder? Zuerst legte ich irgendwann lieber Lauryn Hill auf. Und als ich anfing, mit den Kunststudenten abzuhängen, lernte ich Talking Heads, Tom Waits, Joy Division und solche Sachen kennen. Dabei ist es denn auch geblieben, auch wenn ich heute noch hin und wieder auf Punkkonzerte gehe. Das ist inzwischen für mich aber eher ein Snack als eine Hauptmahlzeit. Wenn es etwas davon in meine Musik geschafft hat, dann die Bühnen-Performance. Das ist so rau und aus dem Bauch heraus.“ In der Zeitung „Daily Mail“ schilderte Nick Welch die schöne Szene, wie er einmal an ihrem Zimmer vorbeiging und von drinnen Geschrei hörte: „Das ist unfassbar! Ich habe gerade eine verdammte Erleuchtung!“ Er schaute zur Tür hinein, und da saß Florence mit Kopfhörern auf dem Bett und hörte „White Rabbit“ von Jefferson Airplane.

Eine entscheidende Wendung nahm diese gutbürgerliche Mittelklassekindheit, als die Eltern sich scheiden ließen. Florence und ihre Geschwister zogen zum neuen Mann der Mutter, alle zusammen in ein großes Haus. Die klassische Patchwork-Familie, mit allen Höhen und Tiefen: „Das war ein bisschen wie ‚Brady Bunch‘ (‚Drei Mädchen und drei Jungen‘, TV-Serie von 1969-1974, Anm. d. Red.), nur mit mehr Gefluche. Der Vorteil war, dass wir in sozialer Hinsicht alles austragen konnten und lernten, miteinander auszukommen. Jetzt verstehe ich mich mit meinen Geschwistern und Stiefgeschwistern hervorragend. Der Nachteil war, wie man sich vorstellen kann, das unglaubliche Chaos und die Machtkämpfe, wenn sechs Teenager unter einem Dach wohnen.“

Wenn Urlaub gemacht wurde, dann entweder im idyllischen Cornwall – oder auf regelrechten Studienreisen mit der Mutter, einer Expertin für die Kunst der Renaissance, nach Italien. Noch heute sagt Florence: „Es gibt keine beeindruckendere Stadt als Rom.“ Beeindruckt war sie von den Märtyrerinnen, die auf Gemälden dargestellt waren. Angetan hatte es ihr da vor allem die sprichwörtliche Schnittstelle zwischen Grausamkeit und Erotik, Schönheit und Entsetzen – wie etwa bei der Heiligen Agatha, „der die Brüste abgeschnitten wurden und die sie deshalb in Darstellungen immer auf einem Tablett vor sich herträgt“. Dabei war Evelyn Welch alles andere als nur für das kunsthistorische Interesse ihrer Tochter zuständig. In ihrer Jugend war sie selbst Teil der hippen New Yorker „Studio 54“-Bewegung, dann wurde ihr der Trubel zu viel und sie wanderte nach Europa aus. Bis heute betrachtet sie die Karriere ihrer Tochter mit einer gewissen Skepsis: „Über meine Musik mag sie mit mir nicht reden“, erzählt Florence: „Sie will immer nur wissen, ob es mir auch gut geht.“

Gut ging es ihr vor allem im Viertel Camberwell, wo sie aufwuchs, in unmittelbarer Nähe der Kunsthochschule. „Dort 16 Jahre alt zu sein und all die Studenten kennenzulernen, die Partys, sich das erste Mal zu verlieben, die Musikszene, das ist eine wirklich wundervolle Atmosphäre. Trotzdem würde ich meine Musik nicht als urban bezeichnen. Urbane Musik ist für mich Techno oder, mehr noch, HipHop. Ich mag die Rhythmusmuster des HipHop, mehr aber auch nicht. Wenn überhaupt, dann versuche ich damit das ‚Gothic Drama‘ dieser Stadt einzufangen, die Friedhöfe, den Dampf, die Bäume oder die massiven, verwitterten alten Gebäude.“

Dieses Gespür für „steam punk“ verband sich schon früh mit einem Interesse für eine der seltsamsten Kunstrichtungen des 19. Jahrhunderts: die Präraffaeliten. Diese Gruppe aus Malern, Dichtern und Illustratoren nannten sich eine „Bruderschaft“, die zu spätmittelalterlichen Darstellungsformen zurückkehren wollten. Die Natur ist in ihren Bildern so gemalt, als wäre sie fotografiert – und in den meistens religiösen Motiven der Gemälde überwiegt ein immer auch von Tragik umwehter Frauentyp, der Florence auf verblüffende Weise ähnelt: ätherisch, blass, mit strengen, aber doch sinnlichen Gesichtszügen und langen roten Haaren. Darauf angesprochen, muss Florence lachen: „Ertappt! Ja, die Präraffaeliten waren eine wichtige Inspiration für mich. Wir haben uns viele Bilder von John William Waterhouse und John Everett Millais angeschaut. Ich glaube, es gibt ein neues, romantisch motiviertes Interesse an den Präraffaeliten und ihren Frauenbildern. Wichtig war uns aber auch die Ästhetik von Gustav Klimt, wie überhaupt die Formsprache des Art déco.“

Frauen also, wie sie eigentlich längst aus der Mode sind. So sehr, dass sie eventuell wieder in Mode kommen könnten. Eine so betont exzentrische, nicht unbedingt für den männlichen Blick aufbereitete Weiblichkeit hat zuletzt tatsächlich Kate Bush an den Tag gelegt: „Das ist wahr“, bestätigt Florence, „an Kate kommst du einfach nicht vorbei.“ Inzwischen hat Florence, die sich schon als Kind gerne verkleidete, eine eigene Stylistin, die ihr das Outfit zusammenstellt – die in der Szene nicht eben unbekannte Aldene Johnson: „Sie kennt mich und meine Garderobe einfach so gut, dass sie mich perfekt in solchen Dingen beraten kann. Ich organisiere und plane auch so schon genug, sodass ich mich nicht auch darum noch kümmern könnte.“

Um das Management kümmert sich seit ein paar Jahren Mairead Nash vom Londoner Disco-Duo Queens Of Noize. Nash ist eine Art Katalysator der Indie-Szene und ein Kapitel für sich, nur so viel: Pete Dohertys Band Babyshambles verdankt ihren Namen Mairead Nash. Und Florence verdankt ihr wahrscheinlich ihre komplette Karriere. Und das kam so: „Wir kannten uns flüchtig, und eines Tages gingen wir in ihrem Club zusammen aufs Klo, um über Jungs zu reden. Ich war betrunken, wollte sie wahrscheinlich beeindrucken und erzählte ihr von meiner Band, obwohl ich damals gar keine hatte, und dass sie doch anstelle irgendwelcher Stars auch mal mich für ihre Weihnachtsfeier buchen sollte. Ich erzählte, dass ich gerne singe und gab ihr auch gleich an Ort und Stelle eine Kostprobe. Ich hatte Glück: Kacheln sind gut für die Akustik. Und Mairead beschloss, mich zu managen – etwas, das sie noch nie zuvor gemacht hatte.“

War Florence bisher zusammen mit ihrer Freundin Isabella „Machine“ Summers unter dem Namen Florence Robot/Isa Machine aufgetreten, verkürzte sie jetzt den Namen zu Florence + The Machine. Isabella spielt noch immer Keyboard, aber längst steht „The Machine“ für alle Musiker, die den Hintergrund für ihre Stimme liefern. Ihre Stimme war es denn auch, die Florence 2009 den „Brits Critics‘ Choice Award“ einbrachte – eine Auszeichnung für Newcomer, die noch kein Album veröffentlicht haben. Damals hatte Florence bereits mit der Single „A Kiss With A Fist (Is Better Than None)“ für Aufsehen und Aufruhr gesucht: „I broke your jaw once before / I spilled your blood upon the floor / You broke my leg in return / So sit back and watch the bed burn“. Feministische Aktivistinnen verdächtigten Florence, mit diesem Text häusliche Gewalt gegen Frauen zu verherrlichen. Ein Vorwurf, den sie vehement zurückweist: „Das war eine Metapher! Ich kannte damals viele Paare, die weder miteinander noch ohne einander leben konnten, es war für sie die Hölle, aber geschlagen haben sie sich nie.“ Tatsächlich setzt Florence in ihren Lyrics ganz auf die Kraft des sprachlichen Bildes. Aber spätestens zur Verleihung des Kritikerpreises fand sie ihren Humor wieder und verkündete, sie arbeite gerade an ihrem Debüt: „Es klingt nach einem Chor, einer Harfe, ein paar Eisenketten und einem Klavier, die durch eine Schrottpresse gejagt werden, bevor ich wirklich hart mit Holzplanken darauf herumdresche.“

Über den Erfolg spricht sie heute etwas gelassener: „Das Ganze ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern ich habe dafür gearbeitet. Ich meine, wir waren viel auf Tournee, aber trotzdem kam es überraschend. Wir bekamen ja den ersten Kritikerpreis, noch bevor unser Album veröffentlicht war. Das war schon irgendwie ein Schock, weil ich darauf nicht vorbereitet war. Allein die Tatsache, dass sich plötzlich die Presse für mich interessierte, machte mich sehr nervös. Umso mehr habe ich dann in das Album gesteckt, all mein Herzblut. Mehr Druck verspüre ich beim zweiten Album daher nicht, im Gegenteil. Diesmal kenne ich die Mechanismen und bin um einiges besser vorbereitet.“

Woran wiederum Mairead Nash, Freundin und Managerin, nicht ganz unschuldig war. Als Florence einmal Nashs erkrankte „Queens Of Noize“-Kollegin Tabitha Denholm auf einer Party von Donatella Versace in Mailand vertrat, bekam sie ihren ersten, reichlich irren Einblick in die Modeszene: „Wir legten ein Stück von Ray Charles auf, und Jay-Z und Beyoncé waren da und tanzten die ganze Nacht, und ich konnte es einfach nicht glauben. Das war vielleicht meine Eintrittskarte in die Modewelt, ich weiß es nicht. Jedenfalls fragte mich bald darauf Karl Lagerfeld, ob er mich für die japanische Ausgabe der ‚Vogue‘ fotografieren dürfe. Hätte ich ‚Nein!‘ sagen sollen?“

Sie sagte „Ja!“ und sah umwerfend aus. Lagerfeld schien vor allem an ihrer Androgynität interessiert zu sein, also setzte er sie für das Cover als smartes Mannweib in Szene. „Gender interessiert mich nicht“, betont Florence und sagt: „Ich trage gerne Anzüge. Ich bin kein Girlie-Girlie-Mädchen. Ich ziehe lieber interessierte oder sogar verängstigte Blicke auf mich, als dass ich irgendwie niedlich aussehen würde.“ Ob verängstigt oder interessiert – die Modewelt war aufmerksam geworden, und als sie endlich ihr erstes Album veröffentlichte, war sie in Paris, Mailand, Tokio oder New York keine Unbekannte mehr: „Am Ende erzählte mir Lagerfeld von seinen Plänen, die Chanel-Show bei der Pariser Modewoche ganz im Stil einer Unterwasserwelt zu halten, mit Muscheln, Perlen und so. Daraufhin erzählte ich ihm von meinem Album, das, wie ich finde, auch so ein Unterwassergefühl ausstrahlt. Da sagte er, dass ich dann ja wohl unbedingt bei seiner Show auftreten müsse. Das ging alles irrsinnig schnell, und die meiste Zeit habe ich nur gelacht, weil ich es nicht wirklich ernst genommen habe, aber am Ende legte er seine Hand auf meinen Arm und sagte: ‚Gut, abgemacht, sehr schön ich bin froh, dass wir gesprochen haben.‘ Tja, und das Ergebnis war, dass er mir meinen Kleinmädchentraum erfüllte, eine Meerjungfrau zu sein.“ Das Ergebnis war auch, dass die Modewelt in Florence eine neue Ikone erkannte – und ihre Stylistin Aldene Johnson alle Hände voll zu tun bekam. In den folgenden Monaten bemühten sich auch andere Häuser um die Britin. PPG stattete sie mit Alltagsklamotten aus, Gucci schneiderte ihr die Bühnengarderobe auf den Leib. Schön für Florence, die sich bis dahin lieber auf dem Flohmarkt mit Kleidern eingedeckt hatte.

Unser Interview nutzt sie wie auch das betont unglamouröse Video zu „What The Water Gave Me“, um sich ein wenig aus der allzu innigen Umklammerung der Modeszene zu befreien: „Ich kann nicht einmal sagen, ob das Musik- und Modegeschäft so viel gemeinsam haben. Ich bewege mich in der Popwelt, wenn man so will, und mein Blick auf die Welt der Mode ist eher ein voyeuristischer. Trotzdem … die ganze Musikgeschichte ist spätestens seit den Beatles oder den Rolling Stones eine Geschichte gegenseitiger Beeinflussung von Mode und Kunst. Was du trägst ist immer eine Projektion dessen, wie du gerne gesehen werden möchtest. Es ist ein so wichtiges emotionales Werkzeug, was du anhast. Mode und Kunst gehen natürlich Hand in Hand. Für mich ist das sehr wichtig, gerade auf der Bühne. Eine Verkleidung? Vielleicht. Mir geht es darum, zu sein, was ich gerne sein würde und im Alltag nicht sein kann – flamboyant.“

Es muss wie ein Turbolader gewirkt haben, dass Lungs überraschend auch auf dem US-Markt ein Erfolg wurde, dass Sender wie KROQ in Los Angeles ihre Singles in die Heavy Rotation nahmen: „Ich bin ja schon vorher durch die USA getourt und habe dort Promo-Termine wahrgenommen. Aber als ich das dritte Mal dort war, fühlte es sich an wie: ‚Hallooo! Wir sind jetzt bereit für dich!‘ Ich schätze, einen Großteil meines Erfolges dort habe ich meinen Auftritten im Fernsehen zu verdanken, etwa im Rahmen der ‚Grammy‘-Verleihung. Du wirst gebucht, dann wirst du gesehen, und dann wirst du auch gekauft.“

Vielleicht liegt es ja wirklich daran, dass Florences herb-weibliche Ausstrahlung gerade in den USA konkurrenzlos ist. Selbstbewusst, aber nie schlampig. Ehrlich, aber nie zu direkt. Tief, aber immer tanzbar. Das Video für die erste Single „Shake It Out“ inszeniert Florence Welch wieder wie eine präraffaelitische Schönheit, die vor dem geplanten Selbstmord eine letzte Party gibt, vielleicht in einem venezianischen Palast. Discokugeln auf Perserteppichen und Männer mit Vollbärten, die an Seancen teilnehmen. Wenn hier getanzt wird, dann nicht militärisch choreografiert in parapornografischen Massen, sondern einfach zwischen Mann und Frau. Klassische Tangoschritte. Da schwingt viel alte Welt mit und ganz wenig vom modernen Bling-Bling-Nippes. Da ist diese elegante schlanke Frau von mehr als 180 Zentimetern Körpergröße, mit wallendem Rothaar und diesem strengen Zug um den Mund. Und da ist diese raumfüllende, ungewöhnlich soulgetränkte Stimme, die auch a cappella ganze Kirchenräume füllen könnte und ihrem orchestralen Barockpop erst den richtigen Drall gibt. Nicht Mäuschen, sondern Dame. Über ihre Stimme sagt sie, dass schon ihr Vater immer fand, sie würde unter der Dusche zu laut singen: „Ich spiele Klavier und Schlagzeug, aber mein eigentliches Instrument ist die Stimme. Ein Blasinstrument, das mal Flöte, mal Nebelhorn sein kann. Kommt darauf an, wie du es spielst.“

Ihr zweites Album, Ceremonials, ist der goldene Schlüssel für eine Zukunft als Popstar. Druck will sie keinen verspürt haben: „Die Ideen waren alle da, ich musste sie sozusagen nur noch ausformulieren und den richtigen Sound finden. Der neue Sound ist schwer zu beschreiben. Ein von Gospel beeinflusster, tribaler, choraler … Rock. Ziemlich massiv manchmal, vielleicht sogar aggressiv. Ich wollte auf keinen Fall verkopfter werden, sondern lieber in eine härtere, düstere Richtung gehen.“ Ein unmerklicher Tanzschritt auf das US-Publikum zu, mit Melodien und vor allem einem Schlagzeug, das man jetzt schon in Baseball-Stadien widerhallen hören kann. Florence Welch hält gerade alle Karten in der Hand. Jetzt muss sie die nur noch ausspielen. Mit traumwandlerischer Sicherheit.

Albumkritik S. 88

Florence Welch

* Die 1986 geborene Florence Welch wuchs im Londoner Stadtteil Camberwell auf, in direkter Nachbarschaft der dortigen Kunsthochschule. Die amerikanische Mutter ist Kunsthistorikerin, der britische Vater Werber.

* Auftritte im Vorprogramm von MGMT und eine wohlwollende Berichterstattung der BBC bescherten ihr schon früh Aufmerksamkeit, 2009 erhielt sie den renommierten „Brit Critics‘ Choice Award“.

* Ihr erstes Album Lungs erreichte im Sommer 2009 Platz 1 der britischen Charts und Platz 14 der Billboard-Charts der USA, wo sie auch als „New Best Artist“ für den Grammy nominiert war.

* Karl Lagerfeld kürte sie 2011 zur Muse der Saison. Auch Labels wie PPG oder Gucci rissen sich um die aparte Schönheit. Kürzlich gestand die US-Künstlerin Beyoncé, von Florence inspiriert zu sein.

* Ihr aktuelles, zweites Album Ceremonials wurde aufgenommen und produziert in den legendären Londoner Abbey-Road-Studios.