Ich bin nicht euer Seiten- scheitel-Trainingsjacken- Typ auf Lebenszeit !


Bald zehn Jahre ist es her, dass Tocotronic sich anschickten, dem hiesigen Indierock einen Sinn zu stiften. Zum Jubiläum lassen sich die für gewöhnlich fest im Hier und Jetzt verankerten glorreichen Drei auf eine Exkursion ins Dort und Damals ein.

Wir befinden uns im L’Age D’Or-Hauptquartier, natürlich in Hamburg Vor vielen Jahren soll man bei Lado noch auf Apfelsinenkisten gesessen haben, doch spätestens nach dem Umzug in größere Büroräume wirkt alles mehr als professionell. Wie tröstlich: Im selben Haus gibt es eine Praxis für Psychotherapie – man braucht nur die Treppe hinunter zu fallen. Heute aber soll es um etwas ganz anderes gehen: Das unangefochtene Lado-Zugpferd Tocotronic, benannt dereinst nach einem LoFi-Vorläufer des Gameboy, wird zehn Jahre alt. Die CD/DVD 10th anniversary lohnt sich, weil statt schnöden Hit-Singles 23 abseitigere Stücke darauf zu finden sind, die nur die ergebensten Fans geschlossen besitzen dürften. Es geht in ein verwinkelt gelegenes Besprechungszimmer. Bassist Jan Müller stürmt herein und verkündet: “ Wir können in Sibirien spielen! Irgendwie übers Goethe-Institut.“ Schlagzeuger Arne Zank spekuliert jovial darüber, wer denn da wohl dann hinkommen wird, zu den Konzerten in Sibirien Sanger und Gitarrist Dirk von Lowtzow ist in Sachen Phantom/G host vielbeschäftigt auf Tournee und nicht persönlich zugegen, nimmt jedoch hochmoriviert per Konferenzschaltung an der Plauderei teil. Hier könnte jetzt das Bildtelefon hervorragende Dienste leisten; hat sich aber leider noch nicht so ganz durchgesetzt, diese schöne Erfindung. Deshalb: Dirk etwas unkonventionell am Telefonhörer, Jan und Arne an einer Tischtennisplatte sitzend. Das Licht aus, den Schalterum.

Die schlimmste Frage zuerst: Wie ging denn das nun altes nochmal los, damals vor zehn Jahren ?

JAN: Och, das ist jetzt nicht dein Ernst…

ARNE: Im Sommer 1993 haben wir alle drei angefangen, in Hamburg zu studieren. Dirk und Jan Jura, ich Illustration an der Fachhochschule. Da kam es dann auch schnell zu ersten Proben und 1994 dann die erste Single „Meine Freundin und ihr Freund“. Da haben wir dann schon mit Lado verhandelt…

(JAN: Nein, nein, nein, so war das nicht Die Single haben wir selbst bei Plattenläden wie Zardoz oder Ruff Trade und eben auch beim Lado-Spezialversand verteilt. Eigentlich hat uns ja Myriam Brüger aka DJ Melanie entdeckt. Die hat uns dann sozusagen bei Lado richtig ins Gespräch gebracht.

ARNE: Die hat Lado-Chef Carol von Rautenkranz eines Abends in seinen Stammladen „Kir“ geschleppt, wo wir gespielt haben. Später hat er Kontakt zu uns aufgenommen. Irgendwann war man dann essen…

JAN: Im hervorragenden Restaurant „Da Benito“.

Dann habt ihr schon recht bald und in Rekordzeit digital ist besser aufgenommen.

ARNE: Carol kam mit der genialen Idee, für ein paar Tage das „Soundgarden“-Studio zu mieten und alles in ein paar Tagen runterzuspielen. Zwei, drei Tage Spielen, zwei Tage Mischen. Hat dann auch geklappt.

digital ist besser: Dieses Polaroid-Cover, der Name der Band, die verschrobenen Texte, die es in dieser Art vorher nicht gab und die genial schrottig klingende Musik im Stile der frühen Lemonheads oder Hüsker Du -habt ihr auch gedacht: wer soll das eigentlich hören ?

ARNE: Ich hatte schon das Gefühl, dass man da etwas sehr Besonderes macht, sehr speziell ist in der Form, wie wir das zusammengewürfelt haben. Wie viele Leute das jetzt hören, war eigentlich egal. Wir waren schon froh, in Hamburg Interesse geweckt zu haben.

dirk: Als ich Arne und Jan kennengelernt habe, dachte ich immer: Die Typen sind wahnsinnig weit vorne. Ich kam ja aus der Provinz (aus Offenburg, dem „Tor zum Schwarzwald“, Anmd. Verf) und mich hat das gleichermaßen erschreckt und fasziniert, wie weit vorne die waren, auch in so einem Dandy-Sinne. Alles, was ich vorher gekannt hatte, wurde da einfach noch mal umgedreht. Und bei digital ist besser dachte ich dann: Ok, das ist unsere Welt und total egal, ob das jemand nachvollziehen kann oder nicht. Aber wir waren überhaupt nicht selbstbewusst, sondern befanden uns noch auf total dünnem Eis. Dieses Selbstbewusstsein von Bands ist ja überhaupt unerträglich. Das Unselbstbewusste ist ja die wahre Schönheit. Dieses, Wir sind die Besten und wir üben auch noch zehn Stunden täglich, um noch besser zu werden“ – das ist ja unerträglich, ganz unangenehm.

Dann kam schnell das Mini-Album nach der verlorenen zeit mit Wittgenstein- und Proust-Zitaten, dem oft missverstanden Stück über Michael Ende Idie “ taz “ druckte den Text des wehmütigen und ambivalent gemeinten Songs quasi als Nachruf am Todestag des Schriftstellers; von Lowtzow bekam daraufhin einen Drohbrief von einem obskuren Ende-Apologeten-Club namens „Kommando Träumerle „, der Song wurde fortan nicht mehr live gespielt) und, „Ich bin neu in der Hamburger Schule „, das ebenfalls für Verdruss sorgte.

JAN: Das waren bittere Einsichten. Ich finde „Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört“ immer noch genial. Ein Meisterwerk, aber schwierig zu vermitteln. DIRK: Ich finde das Michael Ende-Stück auch immer noch ganz gut. Reißt die Wurst nicht vom Teller, aber ist in Ordnung. Das kam aber bei Konzerten so mitgrölmäßig. Das war ja kein Hasslied gegen den. „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ finde ich als Idee eigentlich auch hübsch gedacht, aber man hat das halt falsch eingeschätzt und gedacht, dass jeder den Gag versteht. Aber das wurde alles wörtlich genommen. Der schon in der Versenkung verschwundene Begriff „Hamburger Schule“ wurde dadurch wieder ans Licht geholt. Ein wahnsinnig blödes Marktsegment übrigens, das einen ja bis heute verfolgt. Deshalb bereue ich, das Stück geschrieben zu haben. Abgesehen davon, dass die Musik auch total beschissen ist. Bei „Michael Ende“ hat’s einem das Publikum vermasselt, bei „Hamburger Schule“ war man selbst so blöd, nicht daran gedacht zu haben, dass es scheiße ist. wir kommen um uhs zu beschweren war 1996 bereits die dritte Platte innerhalb eines Jahres – mit endlos langen Neil Young & CrazyHorse/DinosaurJr.-Citarrensoli. Bis zur vierten LP es ist egal, aber die einen Wendepunkt, einen Bruch im Schaffen der Band markierte, dauerte es dann immerhin schon Eineinviertel Jahre.

JAN: Ich finde, da war eher zu wenig Bruch drin, das ist die Schwäche von es ist egal, aber. Streicher ins Studio einzuladen ist ja erstmal noch keine Idee. DIRK: ES IST egal, aber mag ich auch nicht sonderlich gern, die ist etwas unausgegoren. Es gab zu wenig Bereitschaft, sich anderen Einflüssen zu öffnen. Vor allem textlich ist die Platte schwach, weil überhaupt nichts gewagt wird, man sich an einem Vokabular abarbeitet, das man auf den ersten drei Platten schon definiert hat. WIR KOMMEN UM UNS ZU BESCHWEREN war da eigentlich schon viel weiter, weil da Sachen wie „Ich heirate eine Familie“ oder „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“ schon so ins Dunkle, Metaphysische, Religiöse von k.o.o.k. gingen. Außerdem fingen die letzten sechs Stücke alle mit „Ich“ an und es gab diese stinklangweiligen Gitarrensoli (lacht). Und bei es ist egal, aber hat man dann eben textlich so bestimmte Gewürze eingestreut: (zieht die Worte lang) Den Bus! Den Imbissstand! Die leichte Melancholie! Deshalb bin ich mit der Platte unzufrieden. „Dieses Jahr“ ist sehr gut. Und „Auf den Hund gekommen“ ist eines der besten überhaupt! „Sie wollen uns erzählen“ ist auch toll und hat gut funktioniert. Aber da ist auch viel Müll drauf.

Ich finde da ein paar andere aber auch noch sehr gut…

DIRK: Ja? Welche denn?

„Vier Geschichten von dir‘ zum Beispiel…

DIRK (angewidert) : Ja, das find ich zum Beispiel richtig beschissen. Da geht’s schon los. Dieses Man-hat- sichso-getroffen-in-so-eineT-Kneipe (zieht die Worte immer länger) und dann hat es wieder geregnet …

Tja, so ist das halt manchmal …

DIRK (lacht sich halb tot) : So ist das halt!! Und das war uns eben irgendwann nicht mehr genug! Ich finde es gefährlich, zu sagen: Man macht Stücke darüber, wie es halt so ist. Da kommt halt nicht so wahnsinnig viel Kunst bei raus. Klar, das ist vielleicht die Wahrheit, das stimmt schon. Ich bin auch jeden zweiten Tag blau und hocke in der Kneipe oder manchmal onaniere ich und ich dusche jeden Tag. Aber da muss ich ja nicht gleich ein Stück drüber schreiben, nur weil’s so ist. Ich hab das irgendwann als fiesen Trick empfunden, die Leute so an der Nase rumzuführen. Weil alle sagen: Ah, stimmt, genau so ist es! Es ist aber nicht besonders schwierig, das zu erkennen und auch nicht schwierig, das in ein Lied zu schreiben. Die ganze Sache wurde vorhersehbar und wir zu so einem Dienstleistungsunternehmen. Und Trainigsjacken und der ganze Scheißdreck obendrauf. Man denkt sich: Ich bin nicht euer Seitenscheitel-Trainingsjacken-Typ auf Lebenszeit. Das hat mit dem Publikum aber gar nichts zu tun, das war immer voll okay. Diese Dienstleistungs-Sache von sich zu weisen, macht einen angreifbar und unsympathisch, aber für uns ist das das einzig Mögliche. Weil wenn, dann mach ich nämlich richtig Dienstleistung. Dann macht es mir mehr Spaß, im Laden zu stehen und Blumen zu verkaufen. Da kann ich mit Leuten schwätzen und schön Blumen verkaufen. Oder Bücher, oder Platten.

k.o.o.k., das wie ein Konzeptalbum anmutete, war 1999 der große Einschnitt. Progrock-Cover statt Polaroid Ästhetik, Fantasy- und SciFi- Themen statt Befindlichkeiten In den Texten, die Band tritt geschlossen in Schwarz auf, Ernsthaftigkeit hält Einzug. Ging es euch auch darum, das enorme Identifikationspotential, das ja auch durch die möglicherweise unfreiwillig Sloganartigen Lyrics, durch Trainingsjacken und Niedlichkeits-Wahrnehmung gefördert wurde, zu zerstören?

ARNE: Klar war, dass man nach ES IST EGAL, ABER nicht mehr die eigene Erlebniswelt eins zu eins in die Texte schreiben wollte. Wir dachten: Man kann ruhig dicker auftragen, um manche Sachen deutlich zu machen, weil viel bleibt immer in der Musik hängen, in unserer Geschichte und in den Bildern, die Leute von uns haben. Deshalb auch die Entscheidung, auf der Tour zu K.O.O.K. fast nur neues Material zu spielen. JAN: Das Interesse für Fantasy und Science Fiction war ja auch vorher schon da. Das Bedürfnis, darüber zu schreiben, aber nicht so.

DIRK: Uns hat halt auch dieses Spiel mit der Monstrosität interessiert: Prog-Verweise, Doppelalbum…

Wie wichtig war das darauf folgende Remix-Album k.o.o.k. Variationen von 2000 für euch?

ARNE: Sehr. Die Entscheidung, unsere Stücke anderen zur Bearbeitung zu überlassen, war überfällig.

JAN: Ich finde es auch als Statement wichtig, weil ich glaube, dass wir von vielen Hörern bloß als die Gitarrenband Tocotronic angesehen wurden. In diese Polarisierung Elektronik vs. Rock wollten wir uns halt nicht mit einbeziehen lassen. Davon abgesehen finde ich die Zusammenstellung auch sehr gelungen.

Mit eurer letzten Platte tocotronic 12002) habt ihr fast anderthalb Jahre im Studio verbracht. Die Songs klingen ausgefeilt und durchdacht bis ins letzte Detail, die Texte noch enigmatischer als auf k.o.o.k. Der Hass scheint, zumindest musikalisch, endgültig aufgebraucht. Im Grunde ein lupenreines Pop-Album mit Grüßen an Prefab Sprout, Roxy Music und David Bowie.

JAN: Was aber auch daran liegt, dass wir so eine Musik vor ein paar Jahren einfach noch nicht spielen konnten. Die Idee dieser Platte warübrigens auch, dass man nicht mehr sagen konnte: „Klingt wie…“

ARNE: Da haben wir uns die Zeit für die Suche danach, wie die einzelnen Komponenten auf der Platte eigentlich klingen sollen, wirklich gegönnt. Dirk: Textlich haben mich da – wie auch schon zuvor auf k.o.o.k. – so Narrationen im herkömmlichen Sinne nicht mehr interessiert. Die Art von Narration sollte anders laufen, eher assoziativ. Trotzdem finde ich die Darstellung übertrieben, dass das jetzt alles so wahnsinnig verrätselt und mysteriös sein soll. Sachen, die schön sind, sind doch immer mysteriös und rätselhaft, oder? Wenn ich mir „Dogville“ im Kino ansehe, denke ich doch auch erst mal: „Ha? Spinnt der Typ?“

Die Texte passten halt sehr gut zur Musik und es fühlte sich gut an, solche Texte zu schreiben.

Jetzt, wo wir alle Alben durchhaben, können wir ja mal zum Gossip kommen. In milder Form, versteht sich. In den zehn Jahren habt ihr Tausendes von Interviews gegeben. Welches war das bescheuertste von allen ?

JAN: Das dümmste Interview, das wir je gegeben haben, war in Hameln. Jemand von einer Tageszeitung. Der hatte wirklich gar keine Ahnung, weder von uns noch von Musik allgemein. Der hat immer so Sachen vorausgesetzt und meinte: „Heute Abend, die Show -Halbplayback?“ So ging das die ganze Zeit. War schwierig, sich so lange das Lachen zu verkneifen.

Welcher Auftritt war die absolute Katastrophe ?

JAN: Oft ist die Einschätzung eines Auftrittes bei uns dreien total unterschiedlich. Mit den Auftritten bei „Rock am Ring“ und „Rock im Park“ zuletzt waren wir aber alle drei unzufrieden. Du hast gerade eine Platte gemacht und bist dann sofort in diesem Zirkus, diesem Amüsiergehege, das ist schwierig.

Bei welcher Gelegenheit habt ihr euch als Band am unwohlsten gefühlt?

arne: Ich kann mich da an so eine Autogrammstunde bei WOM erinnern. Mir persönlich sind solche Meet & Greet-Situationen sehr fremd. Das andere Extrem: Wir haben mal in Detroit gespielt, da haben die Leute in zwei Dritteln des Clubs gekickert und Billard gespielt und auf dem letzten Drittel haben wir ein Konzert gegeben, für das sich niemand interessiert hat. Das ist schon ein bisschen erniedrigend. DIRK: Ich finde diese institutionalisierten Meet & Greet-Autogrammstunden, wo die Leute so durchgeschleust werden, auch schrecklich und menschenverachtend. Das ist schon eine Unsitte. Als wir bei der VIVA-„Comet“-Verleihung diesen Preis abgelehnt haben (in der abenteuerlichen Gaga-Kategorie Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“, Anm.d.Verf.), habe ich mich auch ziemlich unwohl gefühlt. Doch der Moment, in dem ich mich am allerunwohlsten gefühlt habe, war während eines kleinen Auftritts im Schlosshotel Arolsen bei der Vertretertagung von Motor/Universal. Wir haben da in der rustikalen Hotelbar mit ein paar anderen Bands gespielt.

Gab es eigentlich mal eine Zeit, in der die Band auf der Kippe stand?

ARN E: Es gab keine wirkliche Krise, aber dass einer mal kurzzeitig keinen Bock mehr hatte, das gab’s natürlich schon ganz oft.

DIRK: Ich glaube mich zu erinnern, dass es solche Momente so um die vierte Platte rum gab. Wo die Stimmung nicht ganz so gut war. Die Band selbst war nie ernsthaft gefährdet, aber da wurde es ein bisschen kriselig. Und dann bei den Festival-Auftritten zur letzten Platte, weil es so wahnsinnig schwierig war, die neuen Stücke zu spielen. Da war man dann auch kurz davor, zu sagen: Ich halt das nicht durch. Es war auf einmal sehr viel Druck da.

Letzte Frage: Saufgelage und Groupies, Sex, Drugs & Rock’n’Roll-gibt es das in der Form noch bzw. habt ihr diesbezüglich in den zehn Jahren gravierende Veränderungen festgestellt?

DIRK: Die Wahrheit ist: Sex &. Drugs sind leider verschwunden. Uns bleibt nur noch der Alkohol. Nee, ich weiß nicht – klar gibt’s sowas. Aber ich glaube, wir bewegen uns da im soliden Mittelfeld.

ARNE: Ach, ich glaube, das gibt’s schon noch. Man muss sich ja nur in eine Art von Film reinsteigern und das machen eben welche mit. Also da findet man schon immer Gesellschaft. Aber bei uns kam das nie so richtig vor. Nur in einzelnen Momenten, in denen man sich umgeguckt hat und man war tatsächlich in einer Orgie drin. Aber das hat nie lange gedauert (lacht).