„„Ich war eine bemitleidenswerte Socke“


Bernard Sumners Lieblingsplätze sind inzwischen Couch und Segelboot - doch die alten Beats mit Gitarre ziehen ihn immer noch nach draußen.

Bernhard Sumner (betritt das Hotelzimmer und kriegt einen Schreck): Oh mein Gott, wie sieht es hier denn aus?! Du bist der chaotischste Deutsche, den ich je gesehen habe.

Naja, ich hatte ein bißchen Zeit, mich vorzubereiten, während du beim Mittagessen warst. Wie sieht es denn in deinem Haus aus?

Ich bin eine ziemlich ordentliche und saubere Person. Ich brauche eine gewisse Ordnung, um meine Gedanken zu organisieren. Wenn meine Umgebung chaotisch ist, dann sind es meine Ideen und mein Kopf auch. Wenn wir klar denken und aufgeräumt sind, im Kopf und in der Wohnung, dann kriegen wir Dinge erledigt. Als ich noch in Clubs ging, wollte ich natürlich dort nichts mehr erledigt kriegen, sondern mich einfach nur gehen lassen.

Gehst du jetzt nicht mehr so oft aus?

Nein, irgendwie brauche ich das nicht mehr.

Wieso?

Wenn ich in einen Club gehe oder in die Kneipe, dann trinke ich zuviel, und ich nehme Drogen. Drogen will ich aber nicht mehr nehmen, und den Alkohol habe ich eingeschränkt. Wenn du in Manchester rausgehst, dann gehst du die ganze Nacht, bis zehn Uhr am nächsten Morgen.

Was machst du nun abends stattdessen?

Liege auf der Couch mit der Fernbedienung auf dem Bauch und schaue den Discovery Channel. Wenn ich in Hotels bin, dann gucke ich den Pornokanal. Früher war ich jeden Samstag in der Hacienda, unserem Club, und im Anschluß an die Partynacht habe ich weitergefeiert bei irgendwelchen Gelagen. Eines Nachts hat da jemand die Pistole in mein Gesicht gehalten. Alle sprangen in Deckung, und ich war so breit, daß ich einfach nur dort stand und in diese riesige Knarre glotzte. Ich machte mir erst später Sorgen deswegen und überlegte, ich hänge vielleicht an Orten und mit Menschen rum, von denen ich mich besser fernhalten sollte. Die vielen Drogen haben mich auch krank gemacht, ich habe mich ständig scheiße gefühlt.

Aber richtig gesund lebst du immer noch nicht, oder?

Doch, das muß ich erzählen: Ich gehe seit einiger Zeit fast jedes Wochenende segeln. Ich wollte etwas an der frischen Luft machen. Ich lebe zweieinhalb Stunden von der Küste entfernt und habe ein Boot in Wales.

Schreibst du auch Lieder auf diesem Boot?

Nein, kaum. Aber ich höre viel Musik dort. Freunde haben mir auch schon vorgeschlagen, ich solle irgendwohin segeln und dort Texte schreiben. Das hat aber keinen Sinn. Wenn ich schreibe, darf es keine Ablenkungen geben. Meine Songideen kommen von innen, da stört das Außen nur.

Der Titel eures neuen Albums WAITING FOR THE SIRENS‘ CALL hat oftenbar auch was mit der Schifffahrt zu tun…

Nee, das hat was mit Untreue zu tun. Die Sirenen haben die Schiffsleute damals an die Klippen gelockt, wo sie kenterten und starben. Aber bei mir stehen sie als Metapher für die Versuchung. Peter (Hook – Anm. d. Red.) meint, ich hätte die Idee für den Titel auf dem Boot gehabt. Aber hier redest du mit dem Richtigen: Es ist nicht so. Mir wäre das zu blöd, einen Song übers Segeln zu schreiben. Das soll Rod Stewart machen.

Worum geht es in dem Titelsong?

Daß du irgendwann zu alt und zu vernünftig wirst, um deine Freundin noch immerzu bescheißen.

Da freut sich deine Frau bestimmt.

Nun ja, das Lied handelt nicht unbedingt streng von mir. Es ist eher eine Beobachtung. Aber ich kenne das natürlich auch: Du sitzt in einer Bar, einer Kneipe, und eine sehr schöne Frau kommt vorbei. Natürlich drehst du dich um und malst dir Dinge aus. So was kann andere Menschen schnell verletzen. Beziehungen sind kompliziert, das kann ich dir sagen.

Wie lief es bei den Aufnahmen zum Album? Hat es Spaß gemacht?

An sich schon … Ja. Sehr. Nur die letzten Wochen waren jetzt stressig. Wir waren kurz vor Weihnachten fertig, hörten uns das dann über die Feiertage ständig an, und als wir Anfang des Jahres wieder zusammentrafen, da gefiel uns manches nicht mehr. Also sind wir noch mal an die Arbeit gegangen und quasi gestern abend fertiggeworden.

Wo wolltet ihr mit der Platte denn hin ? Klingt ja im Prinzip so, wie New Order immer geklungen haben…

Na, danke. Wir haben schon versucht, auf der Platte eine große Bandbreite von Material und Ideen zu sammeln. Unsere vorheriges Album hatte im Grunde nur eine Idee: ein Gitarrenalbum zu sein. Und wir benutzten nur einen Produzenten. Auf diesem hier haben wir drei oder vier Produzenten und mehr Vielfalt. Also nichts gegen das letzte Album, aber als wir live spielten und die alten Nummern brachten, die elektronischen und die tanzbaren, da wurde uns bewußt, daß dies ein sehr wichtiger Teil von New Order ist. Ein Bestandteil, den wir nicht ignorieren sollten.

Sind die Dancetracks und das Mehr an elektronischen Sounds auf SIRENS auch eine Reaktion auf das Feedback der Fans auf GET READY?

Ja, aber nur zum Teil. Wir wollten ja ein Rockalbum machen beim letzten Mal und eine Pause von unserem typischen Sound haben. Wir waren die Synthesizer einfach leid. Wie in den 8oern. Da kamen uns die Gitarren mal aus den Ohren raus. Also ließen wir sie weg. Ich denke, menschliche Wesen, wir selbst eingeschlossen, lieben nichts mehr als Abwechslung. Das ist die Würze des Lebens.

Wobei „Krafty“, die Single, ja sehr nach den guten alten New Order klingt.

Ja, das ist einfach eine gelungene Heirat von elektronischen Beats und richtigen Instrumenten. Und es ist ein richtig optimistisches Lied, was für uns ja recht ungewöhnlich ist.

Bist du auf die alten Tage tatsächlich zum Optimisten geworden?

Was mein persönliches Leben angeht, auf jeden Fall. In meinen 20ern war ich eine bemitleidenswerte Socke. Da geht es mir heutzutage weitaus besser.

„You’ve got a brilliant future writing songs on your Computer“ singst du im Stück „Hey Now What You Doing“. Rätst du deinen Kindern, ebenfalls Musiker zu werden?

Ah, nein. Besser nicht. Je glücklicher ich werde, desto weniger schreibe ich Songs über mein eigenes Leben. Das würde die Leute langweilen. Also bin ich dazu übergegangen, mir fiktive Figuren auszudenken. Dieser Song handelt von so einer Figur.

Über Tanzmusik im Stil von New Order haben wir eben schon gesprochen. Wie groß schätzt du euren Einflufl auf die Party- und Dancekultur der vergangenen 20 Jahre ein?

In Manchester war der Einfluß offensichtlich recht groß, die Hacienda lief ja einige Jahre phänomenal. Daß sie dann pleite ging, nun gut, so ist das eben. Wir haben aber einen kulturellen Mittelpunkt für die Stadt geschaffen. Das hat dann die ganze Szene beeinflußt und Musik in die Stadt gesogen, als wäre sie unter einer Vakuumglocke. Dann wurden wir alle weltberühmt, und als Gruppen haben wir, erst Joy Division, dann New Order, wohl unbewußt als Botschafter einer neuen Manchester-Szene herhalten müssen. Als betrunkene Botschafter, immerhin.

Die Sängerin der ScissorSisters…

Interessant, daß „Scissor Sisters“ für einen Deutschen genau so schwer auszusprechen ist wie für einen Engländer.

Nun, jedenfalls singt Ana Matronix auf zwei Songs mit. Wie kommt das? Wollt ihr das Erbe von New Order mit der neuen Generation von Pop mixen?

Auf „Guilt Is A Useless Emotion“ und „Jetstream“ brauchten wir eine zweite Stimme. Wir hatten Jacques (Lu Cont, bekannt auch als Stuart Price von Zoot Woman – Anm. d. Red.) von Les Rhythmes Digitales, der uns mit den Keyboards half. Aber wir benötigten auch eine weibliche Vokalistin. Ich kannte ihre Stimme und ihre Arbeit – alles ganz cool.

Glaubst du, ihr paßt mit SIRENS hinein in den „Popzeitgeist 2005“?

Wir haben immer schon für Konfusion gesorgt. Einem Trend untergeordnet waren wir doch selbst in den 8oern nie. Wir waren keine Dandys und keine Popper, wir haben immer unser Ding sehr unabhängig von allem anderen durchgezogen. Wir sind die direkten Resultate unserer Plattensammlungen. So etwas wie „Blue Monday“ hat es doch vorher nie gegeben.

Daß eure Gesichter nicht auf dem Cover abgebildet waren, hat in den 80ern noch richtig für Verwirrung gesorgt. Wieso war das so?

Personenkult war mir nie ganz geheuer. Es war nie unser AnHegen gewesen, uns als Band mit Identifikationspotential zu vermarkten. Die Leute sollten unsere Lieder hören – und fertig.

„Blue Monday“ hat sich alles in allem zwölf Millionen Mal verkauft. Als ich vorhin vom Bahnhof hier rüberlief, spielten sie das Lied in einer Bäckerei. Macht es dich nostalgisch, wenn du selbst solche Situationen erlebst? Oder kriegt du zuviel?

ich habe das gern. Gestern waren wir in Berlin, ein Freund von mir und ich saßen in einem Cafe. Wir hörten diese Musik im Hintergrund, es war „Love Will Tear Us Apart“, allerdings nicht in unserer Joy-Division-Version. Manchmal finde ich allerdings, die Leute hätten die Platten damals ein bißchen öfter spielen sollen. Da hat man sich ein bißchen viel Zeit gelassen. New Order sind ja sehr langsam erst zu dem gewachsen, was wir heute sind. New Order sind ein Wasserrohr mit einem kleinen Leck. Es tropft und tropft und tropft. Aber wenn du lange genug wartest, ist irgendwann der komplette Raum unter Wasser.

Und woran konnte das liegen?

Weiß nicht. Aber heute sind wir froh darüber, daß unsere alten Sachen immer noch in den ganz furchtbar angesagten Clubs in New York laufen. Das tun sie nämlich wirklich. Slow burn, das ist die Devise mit New Order gewesen. Wir haben uns nie ausverkauft, nie bis zum letzten vermarktet, und konnten auch mal nein sagen. So kommt es, daß uns die Menschen auch nach 25 Jahren immer noch gerne hören und daß wir nicht auf dem Grabbeltisch der Musikgeschichte gelandet sind.