IST DAS EUER ERNST?


Die Schwestern bräuchten ein bisschen, bis sie auftauten, heißt es vorab. Dann öffnet sich die Tür zum kleinen Konferenzraum im Büro der Plattenfirma, ein Journalist schlüpft heraus, man will nicht sagen: wie ein geprügelter Hund, aber einen sonderlich gelösten Eindruck macht er nicht. Fünf Minuten später sitzt man CocoRosie gegenüber und ahnt, warum. Sierra Casady hatte einen noch freundlich begrüßt, jetzt hat sich die Multi-Instrumentalistin mit der Opernstimme ausgeklinkt, blickt abwesend durch den Raum und trinkt Chai-Tee. Den Part der Rednerin übernimmt ihre Schwester. Und Bianca Casady ist not amused. Sie strahlt eine Strenge aus, die sich nur schwer mit ihrem kindlichen Gesang in Einklang bringen lässt. Ihre Lippen sind zu einem knallroten, burlesken Kussmund geschminkt, dessen Winkel sich eisern südwärts neigen. Die markanten Augenbrauen von Beginn an skeptisch in die Höhe gezogen, fixiert sie einen mit kaltem, kritischem Blick, wartet ab. Es sieht nicht danach aus, als würde sie über die nächste Stunde merklich auftauen. Man ist leicht verunsichert. Dass beide Künstlerinnen irritierend schön sind, macht die Sache nicht einfacher. Also erst einmal mit maximaler Vorsicht ein paar technische Fragen zur Entstehung des neuen Albums abgeklappert.

Aufgenommen wurde TALES OF A GRASS WIDOW größtenteils zu Hause in New York, für den letzten Feinschliff ging es zusammen mit dem französischen Beatboxer Tez ins winterlich düstere Island zu Valgeir Sigurosson. Eine Art Déjà-vu, schon das 2007er-Album THE AD-VENTURES OF GHOSTHORSE AND STILLBORN wurde unter seiner Mitwirkung hier vollendet. So weit hat man die Formalia abgearbeitet, da klingelt plötzlich das Bürotelefon auf dem Tisch. Bianca steht auf, drückt wahllos auf einen Knopf, es ist der für die Freisprechanlage. Eine weibliche Stimme geistert blechern durch den Raum: „Hallo? Hallo?“ Die Künstlerin legt wortlos auf. Zurück an ihrem Platz, wird sie von ihrer Schwester Sierra zurechtgewiesen: „Das kannst du nicht machen! Du kannst nicht einfach jemanden so wegdrücken.“ Eine Szene mit Symbolcharakter. Auch wenn man CocoRosie in Fleisch und Blut gegenübersitzt, man fühlt sich ihnen von Anfang an genauso fremd und fern wie eine geisterhafte Stimme vom anderen Ende der Leitung. Zaghaft ruft man „Hallo? Hallo?“ hinein in die Sphären, in denen die beiden Schwestern schweben, aber eigentlich stört man nur. Bianca Casady seufzt gerne gequält auf, bevor sie einem antwortet. Manchmal sagt sie: „That’s a very good question“, aber wie sie das sagt, sind einem die Seufzer fast lieber. Wenn sie könnte, würde sie einen wohl auch wegdrücken. Aber weiter im Text.

Brauchen CocoRosie ein bestimmtes Setting, wenn sie aufnehmen? Nach welcher Atmosphäre suchen sie?

„Wir suchen immer. Aber wir wissen nicht, wonach.“

Wieder klingelt das Telefon. Bianca steht auf und reißt das Kabel aus der Buchse.

Besprechen die beiden zentrale Ideen? Entwerfen sie Konzepte?

„Wir finden Charaktere“, sagt Sierra. „Und dann ziehen wir uns an wie sie. Wir schreiben ein Drehbuch, in dem sie existieren können. Wir holen Tänzer hinzu und lassen sie ihre Emotionen ausdrücken. Oder wir schreiben unseren Figuren Briefe, die wir dann von einer Brücke in den Fluss werfen. Wir geben ihnen Gelegenheit, geboren zu werden. Dann fliegen uns ihre Geschichten ganz von selbst zu.“

Auf TALES OF A GRASS WIDOW besteht das Personal aus einer Vogelscheuche, einer Totengräberin und einem verlassenen Kind. Wie immer bei CocoRosie verbindet sich Naiv-Märchenhaftes mit Morbid-Schauerlichem. Bianca seufzt. „Es ist nicht der wortwörtliche, physische Tod, um den es uns geht. Es ist eine Beerdigung im übertragenen Sinne. Für das verlassene Kind. Das Leiden des Kindes wird zu Grabe getragen.“ Sierra: „Es handelt davon, auf dem Friedhof zu tanzen.“ Man muss ein wenig schmunzeln, und fragt nach, ob das alles ihr Ernst ist. Natürlich. Bianca und Sierra Casady verziehen keine Miene.

Das alte Problem mit Exzentrikern. Steckt etwas dahinter, oder ist das alles nur bedeutungsschwerer Selbstzweck? Ist es albern oder hat man es nicht verstanden? Bei CocoRosie stehen sich in diesen Fragen gerade jenseits des Atlantiks die beiden Lager unversöhnlich gegenüber. Die sagenhaft hässlichen Albencover, die geschmacklosen Bühnenoutfits, der krude, formlose Stilmix ihrer Musik, die assoziativen, kieksigen „Raps“, der Operngesang, all die Geschichten von verlassenen, traumatisierten Kindern, wie ein rotes Hinweisschild „Wir hatten eine schwere Kindheit“, dazu noch Genderbending, Feminismus und Naturschutz: Für die einen ist das magisch, mutig, transgressiv, herausfordernd und hochpolitisch. Für die anderen prätentiöse Wichtigtuerei zweier Esoschwestern aus dem Kunst-LK.

Pitchfork etwa straft CocoRosie regelmäßig mit einer Gnadenlosigkeit ab, die sich die Seite sonst nur für Acts wie Kings Of Leon aufhebt. Es gibt die Geschichte eines Freelancers, der im Auftrag der Seite eine CocoRosie-Review verfasste. Als die zu positiv ausfiel, wurde sie in letzter Sekunde durch einen galligen Verriss ersetzt. So groß ist der Kritikerhäme bisweilen, dass sich das Online-Portal Stereogum 2010 veranlasst sah, eine Riege prominenter Fürsprecher der Band zu Wort kommen zu lassen, darunter Yoko Ono, Jamie Stewart und Antony Hegarty. Letzterer sieht in der Rezeption von CocoRosie eine Verweigerung der Kritiker vor drängenden feministischen, ökologischen und spirituellen Fragen. „CocoRosie trauen sich Dinge, die sich kein anderer Musiker traut. Und die weiße, männliche, heteronormative Musikpresse bestraft sie dafür.“ Tatsächlich eine berechtigte Frage: Würde der große Boys Club des Musikjournalismus auch dann so allergisch auf die Geschwister Casady reagieren, wenn sie Brüder wären?

CocoRosie haben zusammen mit Hegarty und den Künstlerinnen Kembra Pfahler und Johanna Constantine die „Future Feminists“ gegründet. Man möchte wissen, was sich diese Gruppierung auf die Fahnen geschrieben hat. „Es geht um Lösungen und Hoffnung. Darum, sich dem Konzept des Feminismus als einem transformativen Zustand zu nähern. Für so viele Männer und Frauen ist der Begriff Feminismus stigmatisiert. Wir wollen Feminismus exorzieren, wir wollen die Leute daran erinnern, dass es um eine Feier des Weiblichen geht. Eine Feier, zu der auch die Männer herzlich eingeladen sind.“ Während Bianca das erklärt, schält ihre Schwester eine Banane und isst sie langsam, verträumt im Zimmer umherblickend. „Es geht auch darum, die Erde zu ehren. Zwischen der Erde, der Mutter und der Frau besteht eine metaphorische Parallele. Sie sind die Quellen der Schöpfung, und wir bitten die Männer, sich dem zu beugen, was sie geschaffen hat. Die Erde muss zur obersten Priorität all unserer politischen Entscheidungen werden.“ Sierra verspeist währenddessen genüsslich ihre zweite Banane. Das macht die doch absichtlich, denkt man. Natürlich schämt man sich gleich wieder für den Gedanken. Kann eine Frau denn nicht zwei Bananen essen, während ihre Schwester einem transformative Feminismuskonzepte erklärt? Ohne dass das gleich eine gewollte Irritation darstellt? Sind die so, oder tun sie nur so? Man kann es beim besten Willen nicht sagen.

Eine letzte Frage noch: Diese Interviews. Machen die ihnen Spaß? Ist das ein Teil ihrer kreativen Arbeit oder lästige Pflichterfüllung? Bianca seufzt. „Dieser Versuch, unsere Arbeit zu artikulieren, ist für uns eine Möglichkeit, zu lernen. Interviews machen uns großen Spaß.“ Tatsächlich? Bianca und Sierra Casady verziehen keine Miene.

CD im ME S. 83, Albumkritik S. 76