Joy Division: Shadowplay


"Control" erzählt die Geschichte von Ian Curtis und Joy Division. Eine Würdigung plus Exklusiv-Interviews mit Peter Hook, Bernard Sumner und Stephen Morris.

Eines dieser typischen Jugendzimmer aus den 70er-Jahren. Mit einem Bett, einem Tisch, einem Schrank und einer gemusterten Tapete – die ganze Pressspanherrlichkeit der Arbeiterklasse, alles schön „funktional“, man kann aber auch schön geschmacklos dazu sagen. Drei Dinge verleihen der Tristesse einen Hauch von Individualität: ein Bild von Lou Reed an der Wand, TRANSFORMER-Phase, daneben der Name „Jim Morrison“, offensichtlich aus der Überschrift einer Zeitung ausgeschnitten, sowie ein Plattenspieler auf einem Tisch, auf dem sich gerade die LP Aladdin Sane von David Bowie dreht. Der junge Mann sitzt auf dem Bett und raucht. Und denkt nach. Und raucht. Und denkt nach. Wir können seine Gedanken nicht lesen, aber wir ahnen, um was sie sich drehen. Um das Leben in der Provinz, um Musik als Eskapismus, um den Traum vom Rockstar. Der Zuschauer wird in den eineinhalb Stunden von „Control“ kein einziges Mal in den Kopf des jungen Mannes sehen können, und am Ende, wenn sich der junge Mann mit einer Wäscheleine in seiner Küche erhängt haben wird, wird der Zuschauer genauso erstaunt über den Freitod des jungen Mannes sein wie seine Freunde, seine Familie und die Mitglieder der Band, in der er gesungen hat. Obwohl der Zuschauer wahrscheinlich weiß, wie die Geschichte des jungen Mannes endet – weil er die Geschichte kennt von Ian Curtis, dem Sänger von Joy Division.

Der Fotograf Anton Corbijn hat diese Geschichte inszeniert für die Leinwand – seine erste Regiearbeit – in manchmal zu geschmackvollem, künstlerischem Schwarzweiß. Schwarzweiß, das ist die „Farbe“ der verblassenden Erinnerung. Irgendwann wird jedem Heute die Farbe entzogen. Und es lebt weiter als monochromes Bild im Erinnerungszentrum des Gehirns, bis es irgendwann ganz verschwunden ist. Man ist versucht, Corbijns cineastische Ästhetisierung der grauen Straßen und der Arbeiterwohnsilos in Macclesfield im Nordosten Englands als Klischees abzutun, aber etwas kann nur zum Klischee werden, wenn ihm eine Realität zugrunde liegt, nach der später das Klischee geformt wird. Anton Corbijn, der sich nur ungern „Rockfotograf“ nennen lässt, weil die Bandfotografie nur einen Teil seiner Arbeit ausmacht, hat mit „Control“ (seit 10. Januar in deutschen Kinos) Gott sei Dank keinen Rockfilm gedreht. Es ist vielmehr das Psychogramm einer verlorenen Seele geworden, die letztlich am Unvermögen scheitert, die eigenen Ansprüche in die Realität ihres Lebens zu übersetzen, daran scheitert, die richtigen Entscheidungen zu treffen, oder an der Unfähigkeit, sich überhaupt zu entscheiden. Im Alter von 17 Jahren verlobt sich Ian Curtis mit seiner Freundin Deborah „Debbie“ Woodruff. Zwei Jahre später heiratet er sie, nur um kurze Zeit später festzustellen, dass ihn das Familienleben anödet. 1978 wünscht er sich von seiner Frau ein Kind. Als Tochter Natalie 1979 geboren wird, ist er nicht in der Lage, eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen. Auf einer Europatournee von Joy Division verliebt sich Curtis in die belgische Fanzine-Autorin Annik Honoré mit der er eine Affäre bis zu seinem Tod hat. Er kann sich nicht für eine der beiden Frauen entscheiden. Er kehrt zurück zu Debbie und verspricht ihr, die Beziehung mit Annik zu beenden. Er kann das Versprechen nicht halten. Joy Division stehen kurz vor ihrer ersten USA-Tournee, die sie wahrscheinlich zu Superstars machen wird. Am Vortag begeht Ian Curtis Selbstmord. Er wollte ein Rockstar sein. Er wollte kein Rockstar sein.

Oft reichen Corbijn – wie bei den Szenen im Jugendzimmer – Chiffren, dezente Andeutungen, um eine Geschichte zu erzählen. Wie die vom 20. Juli 1976, als Curtis zusammen mit seiner Frau das Konzert der Sex Pistols in der „Lesser Free Trade Hall“ in Manchester besucht. Wir hören „Problems“ und sehen nur eine Handvoll Zuschauer und den Ausdruck im Gesicht von Ian Curtis, dem sich gerade eine neue musikalische Welt eröffnet. Bei diesem Konzert wird Curtis nicht nur die Energie des Punk erfahren, sondern auch die Mitglieder der Band Stiff Kittens kennenlernen. Bernard Sumner, Peter Hook und Terry Mason (der später durch Stephen Morris ersetzt wird) sind unzufrieden mit ihrem Sänger. Sie kommen ins Gespräch mit Curtis. Am Ende ist er ihr neuer Mann. Daraus wird die Band Warsaw, die sich nach dem David-Bowie-Lied „Warszawa“ benennt. Aus Warsaw wird Joy Division. Noch ist die Band eine Nebenbeschäftigung, die aber immer mehr Raum im Leben von Ian Curtis einnimmt. Noch jobbt er beim Arbeitsamt. Bei einem Beratungsgespräch erleidet eine Klientin einen epileptischen Anfall – ein Bild, das Curtis nicht loslässt und ihn schließlich zum Text von „She’s Lost Control“ inspiriert. Wenig später bricht die Krankheit bei ihm selber aus. Die Ratschläge seines Arztes (in „Control“ schön skurril dargestellt von Herbert Grönemeyer), wenig Alkohol zu trinken und früh ins Bett zu gehen, schlägt er in den Wind. Ein Selbstmordversuch mit einer Überdosis des Epilepsiemedikaments Phenobarbital schlägt fehl. In den Morgenstunden des 18. Mai 1980 erhängt sich Ian Curtis in der Küche seines Hauses, nachdem er aus der Ohnmacht eines epileptischen Anfalls erwacht ist. Am Abend zuvor hatte er im Streit seine Frau fortgeschickt, anschließend den Werner-Herzog-Film „Stroszek“ angesehen und Iggy Pops The Idiot angehört.

Sam Riley, Schauspieler und Musiker (er ist Leadsänger der Band 10.000 Things aus Leeds), erweckt Ian Curtis in „Control“ zum Leben, manchmal wirkt er wie eine Mischung aus Pete Doherty und dem jungen Joschka Fischer. Samantha Morton gibt als Debbie die brave, duldsame Hausfrau mit hohem Leidenspotenzial, Alexandra Maria Lara die Geliebte. Die Bandmitglieder – James Anthony Person als Bernard Sumner und Harry Treadaway als Stephen Morris – spielen untergeordnete Rollen. Lediglich der (schwierige) Charakter von Peter „Hooky“ Hook wird von Joe Anderson herausgearbeitet. Anton Corbijn zeichnet das Bild von Ian Curtis in beinahe dokumentarischen Aufnahmen, vor allem aber aus der Distanz. Damit wird er dem Titel des Buchs gerecht, auf dem das Drehbuch zu „Control“ basiert: „Touching From A Distance“ (deutsch: „Aus der Ferne. Ian Curtis und Joy Division“), hat Curtis‘ Witwe Deborah ihre Erinnerungen genannt. Es ist auch die Distanz gemeint, mit der sich die Charaktere begegnen. „Es klingt schrecklich, aber erst nach Ians Tod haben wir uns hingesetzt und uns seine Texte angehört. Ich habe nie geglaubt, dass er über sich selbst singen würde.

„Wie konnte ich nur so blöd sein?“ sagte Stephen Morris im vergangenen Jahr gegenüber dem britischen „Guardian“. Dabei war ja alles da. In den existenzialistischen Songtexten, die von den Schriftstellern William S. Burroughs und Joseph Conrad, von der dunkelgrauen Poppoesie Lou Reeds, Iggy Pops und Jim Morrisons beeinflusst waren. Die immer wiederkehrenden Themen: Isolation, Kälte, Kontrollverlust, Scheitern, Verwirrung und Tod.

Die faschistischen Untertöne, die bei Joy Division mitschwangen, umschifft Corbijn m „Control“ weiträumig. Einmal sieht man das Cover der ersten EP „An Ideal For Living“, auf dem ein in Nazi-Realismus gezeichneter Hitlerjunge und der Bandname in Frakturschrift zu sehen sind. Den Namen „Joy Division“ hat Curtis dem Roman „Das Haus der Puppen“ von 1955 entnommen. So nennt der jüdische Autor Ka-Tzetnik 135633 (Yehiel De-Nur) eine Gruppe von jüdischen Frauen, die in einem Konzentrationslager von der SS als Sexsklavinnen gehalten wurden. New Order, der Name der Band, die der Asche Joy Divisions entstiegen ist, weckt Assoziationen zu Hitlers „Neuer Weltordnung“. Während Hook und Sumner, der sich zeitweise ziemlich deutsch „Bernard Albrecht“ nannte, in Interviews ihre frühere Faszination für den Faschismus und seine Symbolik zugaben, wurde das von Morris als typische Provokation der Post-Punk-Ära abgetan.

Für Anton Corbijn ist „Control“ ein Stück weit Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit. Joy Division waren der Hauptgrund, weshalb der Niederländer Corbijn sich im Jahr 1979 entschlossen hatte, seine Heimat zu verlassen und nach London zu ziehen. Er verspürte den Wunsch, in jenem Land leben, in dem Unknown Pleasures, das Debütalbum der Band, entstanden ist. Zwei Wochen nach seiner Ankunft in England fotografierte Corbijn Curtis, Hook, Sumner und Morris zum ersten Mal. Dabei entstand das berühmte, ikonenhafte Bild in der U-Bahn-Station (auf Seite 35 zu sehen).

Der Mythos von Joy Division ist vor allem in der Unvollendetheit ihres Sängers begründet. So wie die meisten Rock-Mythen. Der frühe Tod der Protagonisten übt eine eigenartige Faszination aus: Jim Morrison, Jimi Hendrix, Kurt Cobain, sie alle haben die adoleszenten Todessehnsüchte eine Spur zu weit getrieben. Es ist paradox: Wer jung stirbt, wird unsterblich, weil er keine Gelegenheit hat, im Alter sein eigenes Denkmal zu beschädigen. Die Alternative dazu ist an all den vollendeten Rockstars abzulesen, die heute noch unterwegs sind. Die beiden bedauernswerten Menschen, die sich noch The Who nennen, der verwirrte Carlos Santana oder Sex Pistol Johnny Rotten, der sich nicht zu schade ist, fürs Fernsehen ins Dschungelcamp zu gehen. Eine Band, deren Sänger im Alter von 23 Jahren Selbstmord begeht – das ist der Stoff, aus dem die richtigen Rockstarlegenden geschneidert sind. Vor Curtis‘ Tod war Joy Division lediglich eine Randerscheinung im Post-Punk, der selber nur eine Randerscheinung in der vom Mainstream dominierten Musikszene war. Joy Division gelten heute im kulturromantisch verklärten Rückblick als „Sprachrohr ihrer Generation“, damals haben die allerwenigsten Angehörigen der Generation der zwischen 1955 und 1965 Geborenen überhaupt von der Existenz der Band gewusst. Die Mehrheit der Jugendlichen war um 1979 mit Supertramp, Dire Straits, Rod Stewart und dem GREASE-Soundtrack beschäftigt. Die Single „Love Will Tear Us Apart“, im Juni 1980 veröffentlicht, wurde erst im Lauf der Jahrzehnte zu der Hymne desillusionierter Teenager, die gegen alles Mögliche aufbegehren – nicht zuletzt gegen sich selbst und ihre eigenen inneren Widersprüche. Trotzdem kam kaum jemand, der sich irgendwie für Popmusik zu interessieren glaubte, Mitte der 80er-Jahre an „Love Will Tear Us Apart“ vorbei – der damals sehr populäre britische Sänger Paul Young machte den Song zu einem Chartshit in einer geglätteten Schlagerpop version. Das Thema Joy Division geisterte immer wieder durch die Jahrzehnte. 1995 erschien das Tribute-Album A Means To An End: The Music Of Joy Division, auf dem unter anderem Girls Against Boys, Moby, Codeine, Low und Tortoise ihre Deutungen von Joy-Division-Songs veröffentlichten. Michael Wintterbottoms „24 Hour Party People“ widmete sich dem Thema – wenn auch nur am Rande. In dem Spielfilm aus dem Jahr 2002 ging es mehr um Aufstieg und Fall von Tony Wilson, dem Entdecker und Förderer Joy Divisions und Inhaber von Factory Records und des legendären Manchester-Clubs Hacienda, der in der Ära des von Methylamphecamin befeuerten Madchester-Raves seine große Zeit hatte. Ironie am Rande: Sam Riley, der in „Control“ Ian Curtis darstellt, hatte eine kleine Rolle in „24 Hour Party People“ übernommen: Er spielte Mark E. Smith, den Sänger von The Fall. Die Szene wurde allerdings aus der Endfassung des Films herausgeschnitten.

„Control ist ein willkommener Anlass, um sich wieder mit der Musik von Joy Division zu befassen, diesem düsteren, synthetischen, beizeiten hymnenhaften Sound, der ohne Punk nicht möglich gewesen wäre, diesen aber schon hinter sich gelassen hatte, und damit weit hinein in die 80er-Jahre wies und wieder einmal ein Versprechen auf eine neue, glorreiche Zukunft des Rock gegeben hatte. Die Konzertszenen von „Control“ lassen erahnen, wie verstörend die Musik von Joy Division damals auf die Rockspießer gewirkt haben muss, wie nachhaltig der negative Eindruck dieser Lieder war, so dass die Rockspießer sich bis heute noch nicht davon erholt haben und sich immer noch mit Supertramp und Rod Stewart beschäftigen.

Bereits kurz nach dem Tod von Ian Curtis beschlossen Peter Hook, Stephen Morris und Bernard Sumner weiterzumachen. Noch zu Lebzeiten ihres Sängers haben sie eine Vereinbarung getroffen: Sobald auch nur einer die Band verlassen würde, würden die anderen nicht unter dem Namen Joy Division weitermachen. Sie nennen sich New Order. Im Oktober 1980 steigt Gillian Gilbert, die Freundin von Morris, als Keyboarderin und Gitarristin ein. Am 6. März 1981, zehn Monate nach dem Tod von Ian Curtis, wird auf Tony Wilsons Factory-Label die erste New-Order-Single „Ceremony / In A Lonely Place“ veröffentlicht – es sind die beiden letzten Songs, die Curtis geschrieben hat. Auf ihren frühen Aufnahmen klingen New Order noch wie ein Update Joy Divisions – düstere, melodische Songs mit einem größeren Synthesizer-Anteil und Bernard Sumner, der sich bemüht, den tiefen Bariton von Ian Curtis zu imitieren. Bald schon nabeln sich New Order von der eigenen übermächtigen Vergangenheit ab und entwickeln sich zu einem eigenständigen Rock-Dance-Hybriden, der 1983 mit „Blue Monday“ nicht nur die erfolgreichste Maxi-Single aller Zeiten veröffentlicht, sondern auch als Folgeerscheinung die Weltkarriere macht, die Joy Division nach Curtis‘ Tod versagt geblieben ist. New Order hätten unter dem Namen Joy Division weitermachen können. Es ehrt sie, dass sie das nicht getan haben – durch die Verbindung mit dem ersten großen Toten der Post-Punk-Ära wären sie zu jeder Zeit an Curtis gemessen worden, der frühe Backlash wäre ihnen sicher gewesen.

Mehr als 31 Jahre nach der Gründung der Band und bald 28 Jahre nach dem Tod ihres Sängers werden Joy Division immer noch vom Hauch des Mysteriösen umweht, ist ihr Einfluss allgegenwärtig. Bands wie Interpol und die Editors pflegen die Tradition mit ihrer eigenen Musik. Neben „Control“ entstand 2007 die Dokumentation „Joy Division“ von Tom Atencio. Die zweieinhalb Originalplatten der Band, Unknown Pleasures, Closer und still, wurden „remastered“ und „expanded“ wiederveröffentlicht. 2007 war ein Schicksalsjahr für das engere Umfeld Joy Divisions: Tony Wilson, Entdecker und Förderer der Band, ehemaliger Chef von Factory Records und neben Deborah Curtis „Executive Producer“ von „Control“, erlebte die Premiere des Films nicht mehr. Er starb am 10. August 2007 im Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt. Drei Monate vorher, Anfang Mai, gab Peter Hook zuerst in einem Interview mit dem britischen Radiosender XFM, dann auf seiner MySpace-Seite die Auflösung New Orders bekannt. Bemard Sumner und Stephen Morris wollten davon nichts wissen. Für sie existiert New Order auch ohne „Hooky“ weiter.

Bist du damit einverstanden, wie du in „Control“ porträtiert wirst?

Ich erkannte mich dort eher wieder als in „24 Hour Party People“. Auch die anderen Charaktere sind gut getroffen, das geht schon alles in Ordnung. Debbie und Annik sehen besonders gut aus. (lacht) Aber Schönheit liegt ja im Auge des Betrachters, nicht wahr?

Ist der Film objektiv?

Man muss berücksichtigen, dass Bernard, Stephen und ich die Dinge unterschiedlich sehen. Es ist eine Geschichte, die aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet wird, wobei jeder versucht, möglichst gut auszusehen.

Ist es also eine geschonte Aufbereitung der wahren Ereignisse?

Nein. Das Gegenteil ist eher der Fall, aber letztendlich hat Anton einen sehr guten Job gemacht. Ich bin sogar ziemlich beeindruckt, denn der Film zeugt von Fingerspitzengefühl. Anton hat weder mit der Brechstange gearbeitet noch auf glamouröse Effekte gesetzt. Der Film bleibt bei der Wahrheit, obwohl das Thema sehr sensibel ist.

Wart ihr an der Entstehung des Films die ganze Zeit beteiligt?

Eigentlich schon. Wir haben das Drehbuch begutachtet, unsere Geschichte erzählt und blieben bis zum Schluss dabei.

Kam Anton jemals zu dir mit den Worten: „Hör mal, Bernard hat mir was ganz anderes erzählt“?

Das gab’s. Die Tatsachen, von denen der Film handelt, sind ja ohnehin alle bekannt. Es gibt ein paar Details, die meiner Meinung nach falsch sind, was mir den Spaß an der Sache jedoch nicht verdorben hat – wenn Spaß überhaupt das richtige Wort ist. Spaß in dem Sinne, wie es spaßig ist, sich den Schorf abzukratzen, obwohl man weiß, dass man sich dadurch nur noch stärker verletzt. Um ehrlich zu sein: Ich hatte nicht gedacht, dass mich der Film so sehr berühren würde, aber ich spürte plötzlich, dass mich die ganze Sache immer noch mitnimmt. Es war nicht schön, das mitanzusehen, mit dem Film brachen all die Wunden wieder auf.

Umgibt Joy Division zu Recht jene Aura von Dunkelheit und Verzweiflung?

Ich wundere mich immer darüber, wie manche Leute Joy Division beschreiben. Sie sehen nur die Düsternis und das Leid. Ich fand die Band damals verdammt großartig, sie brachte mich dazu, vor Freude in die Luft zu springen. Heute gibt es nicht mehr allzu viel, was mich dazu brächte. Wenn wir vier auf der Bühne standen, gab es diese dunkle Macht, die sehr stark war. Sobald wir aufhörten zu spielen, waren wir wieder ganz normale Typen. Man hielt uns immer für sehr ernsthaft und spröde, aber das waren wir nur auf der Bühne. Interessant ist zu sehen, wie sich die Band im Film weiterentwickelt, gegen Ende klingt sie viel besser als am Anfang. Es war klug von Anton, diesen Prozess zu zeigen.

Was war seltsamer: Sich auf der Leinwand als Person porträtiert zu sehen oder als Bühnenmusiker?

Aufgrund der ganzen Scheiße, die bei New Order abgeht, war es seltsam, die Band in glücklicheren Tagen zu sehen. Uns verbanden damals die gleichen Hoffnungen und Träume. Und 30 Jahre später zicken wir nun rum wie ein altes, unglückliches Ehepaar. Am unheimlichsten war natürlich das Filmende. Sehr stark und aufwühlend. Jeder stand auf und klatschte, und ich dachte nur: „Das ist mein Leben. Setzt euch gefälligst hin, ihr Arschgesichter.“ Ich saß da, das Gesicht von meinen Händen verborgen, und weinte. Eine wahnsinnige Erfahrung.

Hast du den Film allein oder mit den anderen gesehen?

Allein, als er noch nicht fertig war, dann zusammen mit den anderen in Cannes. Bernard redete nicht mit mir. Er wusste, dass ich die Band verlassen wollte, aber er mochte nicht darüber reden. Schon gar nicht mit mir.

Kannst du dir vorstellen, dass euch der Film einander wieder näher bringt?

Das Timing ist katastrophal, aber das kann man sich eben nicht aussuchen. Bernard und Stephen haben in Cannes nicht mit mir gesprochen. Ich stand da wie ein Idiot.

Entspricht eine derart schwierige Phase nicht auch dem Geist von Joy Division?

Keine Ahnung (lacht), aber in der Presse macht sich das sicher gut. Wenn man aufhört, sollte man das mit einem Donnerschlag tun.

Wie hat sich Anton Ians letzten Stunden angenähert?

Das war sehr schwierig. Der Polizeibericht schilderte es wie einen Fall aus dem Lehrbuch: Selbstmord infolge von Depressionen, aufgrund seiner Hilferufe zuvor keine Überraschung. Leider waren wir damals zu jung, um wirklich zu begreifen. Dieser Teil des Films ist unheimlich, es fühlte sich an, als würde mir jemand das Herz herausreißen und darauf herumtrampeln. Als dann „Atmosphere“ einsetzte, war ich kurz davor, mich zu übergeben, um ehrlich zu sein.

Wie bist du mit Anton zurechtgekommen?

Ich war genervt, als er uns erzählte, wie die Musik zu klingen hätte. Ich habe 30 Jahre lang mit Ians Tod gelebt, falls ich jetzt noch nicht wissen sollte, wie die Musik klingen muss, dann würde ich es verdammt noch mal nie wissen. Mir muss niemand erklären, wie man Musik schreibt, die mit Ians Tod zusammenhängt. Sein Tod begleitet mich in jedem Moment meines Lebens. Aber wir haben uns wieder vertragen. Ich mag Anton. Manchmal ließ er eben zu sehr den Regisseur raushängen und bemerkte dabei gar nicht, wie emotional das alles für uns ist. Zu dritt schrieben wir die Filmmusik als Joy Division, doch leider begannen dann die Streitereien. Stephen und ich schrieben unsere Parts gemeinsam, Bernard arbeitete allein. Aber die Musik ist großartig. Anton beklagte sich, sie sei zu schön und würde vom Film ablenken. Gott weiß, ob sie jemals veröffentlicht werden wird, bei all den momentanen Streitigkeiten.

Wenn Ian noch am Leben wäre, hatte Anton dann diesen Film machen können?

Gegenfrage: Hätte der Erfolg Joy Division verändert? Wir werden es niemals erfahren, denn als Ian starb, waren wir gerade erst auf dem Weg. Wir verdienten kaum Geld, verkauften nur wenige Platten. Joy Division hat den Erfolg nie kennengelernt, der kam erst später. Wenn Ian seine Krise überwunden hätte, wäre er heute wahrscheinlich eine Mischung aus Bob Geldof und Bono – und ein bisschen Jim Morrison. Was mir wirklich extrem leid tut, ist die Tatsache, dass wir nach Joy Division so erfolgreich waren und Ian das nicht mehr miterleben konnte. Er hätte einen wunderbaren Rockstar abgegeben. Wenn man sich Typen wie Sting, Robbie Williams und Bono vorstellt… Ian hätte solche Wichser einfach weggeblasen.

Joy Division sind heute berühmter als 1980 …

… worüber ich verdammt froh bin. Offenbar ist keine Band in der Lage, Joy Division zu absorbieren. Schon komisch. Bands wie Editors und Interpol sind kurz davor, aber sie schaffend einfach nicht. U2, Gott schütze sie, haben es immer wieder versucht. Aber sie haben es auch nicht geschafft, oder? Nicht mal New Order haben es geschafft.

Sind Joy Division das Bindeglied zwischen den Beatles und Nirvana?

Sagen wir mal so: Bei Nirvana hört man die Bassline von „Ceremony“ ziemlich oft. Also sage ich jetzt mal ja.

Wir würdest du „Control“ abschließend beurteilen?

Dieser Film hat mich zwar nicht dazu gebracht, mein ganzes Leben neu zu bewerten, aber mir wurde bewusst, dass dieser Teil meines Lebens vielen Menschen etwas bedeutet. Das hilft einem dabei, wenn man mit beschissenen Situationen, wie wir sie momentan haben, klarkommen muss. Wenn man glaubt, man hätte nichts im Leben erreicht. Der Film zeigte mir, dass Joy Division die Welt verändert haben, und das ist fantastisch.

Wer sollte den nächsten Film drehen, die „New Order Years“?

Quentin Tarantino. Lasst uns ein Blutbad veranstalten!

Wie findest du „Control“? Ich mag den Film. Er ist unglaublich präzise. Manche haben wohl erwartet, er sei eher künstlerischer, avantgardistischer…

Dabei ist die Geschichte ja nun nicht gerade avantgardistisch. Wichtig war, dass es in erster Linie um die Story geht und erst dann um Antons künstlerischen Ausdruck. Ian ist die Hauptfigur, nicht Anton. Ich glaube, das Publikum interessiert diese Geschichte. Ich mag die Umsetzung, sie kommt der Wahrheit sehr nahe. Die Band wird vielleicht ein wenig verfälscht dargestellt, wir waren damals wesentlich kindischer und dümmer. Allerdings hatten wir auch ernsthafte Seiten, und die kommen authentisch rüber. Der Typ, der Ian spielt, hat einen absolut erstaunlichen Job abgeliefert. Allerdings konnte Ian sehr jähzornig sein, was im Film nur kurz angedeutet wird. Aber Menschen sind komplizierte Kreaturen, es ist unmöglich, jede einzelne Facette einer Persönlichkeit in einem Film wiederzugeben.

Es muss seltsam sein, ihn nach 27 jähren lebendigzusehen…

Ja, die Vorführung in Cannes war sehr eigenartig. Man konnte Menschenmengen dabei beobachten, wie sie einen ansehen.

Die Schauspieler lernten die Joy-Division-Songs recht schnell…

Als wir unsere ersten Stücke schrieben, spielten wir unsere Instrumente erst seit acht Monaten. Naturgemäß waren unsere Songs also sehr einfach. Unser Übungsraum war eine große, stillgelegte Fabrikhalle mit kaputten Fensterscheiben und einem Haufen Müll, der sich in einer Ecke stapelte. Wir besaßen das billigste Aufnahmegerät, das man damals kaufen konnte. Wir spielten so vor uns hin, und Ian suchte die guten Teile aus: „Hey, das ist gut, das funktioniert.“ Ich sagte dann: „Okay, lasst uns diesen Teil mit jenem verbinden, dann wird’s ein guter Song.“ Ian suchte die Riffs aus, ich arrangierte sie zu Songs.

Der Film sieht aus, als würde er in den sechziger jähren spielen…

Das hegt an Macclesfield. Dort ist man immer ein Jahrzehnt hintendran.

Joy Divisions Musik war glatter, moderner Euro-Techno, der dennoch in einem Umfeld aus Kopfsteinpflaster und Reihenhäusern im dunklen, alten Nordengland entstand…

Stephen hatte eine sehr eklektische Plattensammlung. Er stand auf Krautrock, auf Bands wie Neu!. Er arbeitete in einem Plattenladen, wo er immer wieder was mitgehen ließ. Unser Sound war ein Produkt der Musik, die wir hörten.

Wie fühlt man sich, wenn die eigene Jugend auf der Leinwand mythologisiert wird?

Ich kann mich an diese Zeit noch sehr gut erinnern. Für mich stellt sich nur die Frage, wie vier junge Typen eine derart schwermütige Musik machen konnten. Im Übungsraum hörten wir Iggy Pops The Idiot, aber wir merkten, dass wir so was nicht machen konnten, weil wir nicht bewandert genug waren. Also drückten wir unserer Musik unseren persönlichen Stempel auf, und plötzlich klang sie schwermütig. Dabei waren wir eigentlich gar keine schwermütigen Menschen.

Du redest von Schwermut, doch im Film gibt es viele Momente voller Humor und Leichtigkeit…

Anton ließ die Musik für sich selbst sprechen. Er wollte keinen Film drehen, den man nach zehn Minuten abstellen muss, weil er so bedrückend ist. Der Film ist zugänglich, denn so erreicht man ein größeres Publikum. Rückblickend waren wir auch keine schwermütigen Menschen, wir waren fröhlich und leichtfertig, machten unsere Witze. Aber im Übungsraum kam dann diese Musik aus uns heraus. Es herrschte dieses diffuse Gefühl vor, dass wir über unsere Musik nicht reden sollten. Da war dieser kreative Fluss, den wir nicht durch Diskussionen und Analysen blockieren wollten. Hinterfrage nichts. Sieh nicht mal genau hin. Und versuche definitiv nicht, es zu verstehen. Das lief alles instinktiv ab, es gab keine Formel, kein Konzept. Je weniger wir über die Musik sprachen oder sie analysierten, desto leichter kam sie aus uns heraus. Aus unserem Unterbewusstsein, nehme ich an. Deshalb mochten wir auch keine Interviews, denn die Journalisten fragten immer, wie wir unsere Songs schreiben und woher wir diesen Sound hätten. Wir waren schlichtweg unfähig, darauf zu antworten. Und wenn wir es doch versuchten, litt unsere Kreativität darunter.

Wie viel Aufmerksamkeit hast du Ians Texten gewidmet?

Nachdem er tot war, sah ich seine Texte durch und dachte mir nur: „Oh mein Gott!“ Nach dem, was passiert war, sah man sie durch einen anderen Filter. Aber ehrlich gesagt haben wir uns nie mit seinen Texten beschäftigt, schon gar nicht saßen wir im Kreis und haben sie analysiert. Das wäre uns vorgekommen, wie fremde Briefe zu lesen.

Hat man dich für die Hypnose-Szene im Film zu Rate gezogen?

Ja. Ich war nicht ganz sicher, ob ich sie überhaupt drinhaben wollte, aber Anton hat sie letztlich akzeptabel umgesetzt. Wenn wir uns beim Üben langweilten, spielte ich manchmal ein bisschen mit Hypnose rum, wobei ich herausfand, dass man Ian ganz leicht hypnotisieren konnte. Einmal versuchte ich mit ihm eine Rückführung, und er hatte tatsächlich diese Visionen von längst vergangenen Ereignissen. Nachdem ich ihn zurückgeholt hatte, konnte er sich an nichts erinnern. Ich drehte nicht gleich durch, weil es bei Ian funktioniert hatte, denn ich hatte es zuvor schon häufiger geschafft. Ian war sehr empfänglich dafür. Ich hatte gehört, dass man mittels Hypnose zu persönlichen Problemen vorstoßen könne, also war es eine Art letzter Versuch, Ian zu helfen. Anfang 1980 blieb er etwa zehn Tage lang bei mir zu Hause, und wir redeten die Nächte durch. Er konnte sich an die Hypnose im Übungsraum nicht mehr erinnern, also machten wir einen neuen Versuch und nahmen dabei alles auf. Er durchlebte genau die gleichen Ereignisse wie zuvor. Dabei ging es weder um Deborah noch um Annik. Ich wurde häufig gefragt, warum sich Ian umgebracht hat. Aus vielerlei Gründen. Einer davon war sicher seine Epilepsie, die sein Leben beeinträchtigte und seine Zukunft als Musiker infrage stellte. Weil sich seine Beziehung zu Debbie verschlechterte, hatte er Schuldgefühle gegenüber seiner Tochter Natalie. Er erzählte mir, wie sehr er darunter litt, sie aufgrund drohender Anfälle nicht einmal auf dem Arm tragen zu können. Er durfte ja nicht einmal Auto fahren. Mit 22, 23 sind das eine Menge Probleme, egal wie reif man sich fühlt. Zudem spielte er in einer Band, die ständig auftrat. Wir hatten zwar keine Blitzlichter, aber gewisse Beats versetzten ihn manchmal in einen tranceartigen Zustand, dann verlor er den Faden und erlitt einen Anfall. Wir mussten dann die Show stoppen und ihn in die Garderobe schleppen, wo er sich die Augen aus dem Kopf heulte. Es war ihm so peinlich. Die Medikamente, die er einnahm, machten die Sache auch nicht besser. Sie machten ihn einfach nur traurig. Er lachte und weinte innerhalb weniger Minuten. Es waren starke Barbiturate, doch seine Anfälle konnten sie auch nicht verhindern. Letztlich wurden sie zu einem weiteren Problem. Ich glaube fast, dass es damals einfach keine Lösung für seine Probleme gab.

Hattest du eine Vorahnung, dass er die US-Tournee nicht mitmachen würde?

Nein, ich dachte, er würde es schaffen. Wenn Ian nicht krank gewesen wäre, hätte Joy Division richtig groß werden können. Doch wenn wir groß geworden wären, hätte es Ian wahrscheinlich nicht verkraftet. Ich bin sicher, er hätte die Band verlassen. Es gab Momente, in denen er aufhören wollte. Er sprach dann von einem Freund in Bournemouth, mit dem er einen Buchladen eröffnen wollte. Wir legten damals eine Pause von drei, vier Monaten ein, in der sich Ian klar werden sollte, ob er weiterhin dabei sein möchte. Er entschloss sich dazu, weiterzumachen.

Gab es wie bei Kurt Cobain einen Teil in ihm, der gar kein Rockstar sein wollte?

Das habe ich mich selbst oft gefragt. Nach all den Jahren der Arbeit war er plötzlich kurz vor dem Ziel. Aus dem Traum wurde Wirklichkeit. Es ist absolut möglich, dass er den Traum wollte, aber nicht die Realität.

War Ian wie Jim Morrison und all die anderen dazu bestimmt jung zu sterben?

Da könnte was dran sein. Er wusste irgendwann, dass er Selbstmord begehen würde. Er verbarg das vor uns, weshalb wir wirklich überrascht waren, als er es erstmals versuchte. Das erste Anzeichen war, dass er eines Tages in den Übungsraum kam und erzählte, auf dem Fußboden aufgewacht zu sein, seine Arme und seine Brust übersät mit Schnittwunden. Keine Ahnung, was da vorgefallen war. Dann, sechs Wochen vor seinem Tod, nahm er eine Überdosis Barbiturate und trank eine halbe Flasche Whisky. Er übergab sich jedoch und rief den Krankenwagen. Er tat es, weil er gehört hatte, dass man mit einem Gehirnschaden enden könne, falls die Dosis zu schwach ist. Sechs Wochen später war er dann tot. Man darf ihn nicht dafür verurteilen, was er getan hat. Niemand von uns hat Erfahrungen wie Ian machen müssen, und es ist unmöglich, seine persönliche Sicht der Dinge nachzuvollziehen.

Wie ist Anton deiner Meinung nach mit diesem Teil des Films umgegangen?

Angemessen und ohne die Sensationslust zu befriedigen. Jeder weiß, was mit Ian geschehen ist. Der Film sagt nur: „Das ist passiert“, und mehr muss man auch nicht wissen. Das ist wichtig, um Ians Würde zu bewahren.

Tragt der Film dazu bei, dass Ian in den Pantheon der großen verstorbenen Rockmusiker aufgenommen wird?

Ich denke, dass dieses Rockstar-Konzept grundsätzlich falsch ist. Nur weil jemand eine Gitarre oder ein Mikrofon in die Hand nimmt, ist er noch kein besserer Mensch. Für mich handelt Ians Geschichte zuallererst von einem Menschen, dann erst vom Sänger einer Band. Mich können Popstars und Rockstars nicht beeindrucken, ich sehe sie als Menschen, nicht als Halbgötter. Ich dachte immer, der Punk hätte diesen Starkult aus gutem Grund beerdigt. „Control“ handelt von einem Menschen. Nebenbei war er der Sänger einer Band. Er hatte persönliche Probleme. Er schaffte es nicht, diese Probleme zu lösen. Das ist alles. Wenn es eine moralische Botschaft in dem Film gibt, dann diese, dass man in seinem Leben die richtigen Entscheidungen treffen sollte. Manche Entscheidungen sind essenziell und sollten gut und lange überdacht werden.

Hat dir der Film dabei geholfen, die damaligen Ereignisse zu verstehen?

Er hat mir dabei geholfen, die Ereignisse auch aus anderen Perspektiven zu betrachten – inklusive Ians. Sein Tod geistert ständig durch meine Gedanken. Wenn man ihn auf der Leinwand sieht, wird er ein Teil dieser Welt. Das ist wichtig. Es ist auch wichtig, dass Ian nicht vergessen wird. Zudem transportiert der Film die Musik von Joy Division wirklich gut. Vielleicht hilft er dabei, dass sie noch ein wenig länger präsent ist.

Sind Joy Division das Bindeglied zwischen den Beatles und Nirvana?

Ich glaube schon. Aber dennoch war es nur Musik, die wir schrieben, aufführten, aufnahmen. Dass sie beim Publikum auf große Resonanz stieß, war eher zufällig, wir hatten niemals damit gerechnet. Als ich im Film anderen Leuten dabei zusah, wie sie unsere Musik spielen, wurde mir klar, wie großartig sie war.Und immer noch ist.

Wie findest du den Film? Ich mag ihn. Manche Leute erwarten sicher, dass er von Joy Division handelt, aber das ist nicht der Fall. Er erzählt Ians Geschichte, der Rest der Band spielt nur die Nebenrolle. Es ist komisch, sich selbst in einem Film wiederzufinden. Man muss akzeptieren, dass aufgrund der gestalterischen Freiheit manche Kleinigkeiten nicht so ganz passen. Aber die Schlüsselfakten sind alle korrekt wiedergegeben.

Wie ist es den Machern gelungen, die Feinheiten deines Charakters herauszuarbeiten?

Das war nicht schwer, denn allzu viel sage ich ja nicht.

Wie beurteilst du die gemeinsamen Szenen mit Bernard und Peter? Basieren sie auf Spekulationen oder Tatsachen?

Eine basiert auf einem Interview, das damals mitgeschnitten wurde, die restlichen entstanden wohl eher spontan, (lacht) Aber es geht ja ohnehin eher um Ian.

Hast du erwartet, dass der Film kunstvoller und prätentiöser ausfallen würde?

Yeah, immer ausgehend von dem, was Anton zuvor gemacht hat. Aber das waren Videoclips und keine Spielfilme. Ich finde, er hat einen guten Job gemacht. Mich amüsiert allerdings, dass es so aussieht, als ob Macclesfield nur aus einer einzigen Straße bestünde. Einige Szenen wurden in Nottingham gedreht, doch die Einstellungen vor Ians Haus entstanden in Macclesfield vor seinem tatsächlichen Haus. Es sieht aus wie in den sechziger Jahren. Erst kürzlich habe ich tonnenweise alte Fotos hervorgekramt, und die sehen genauso aus. Fotos aus den siebziger Jahren, die jedoch wirken, als ob sie während des Krieges gemacht worden wären. Weil der Film in Schwarzweiß ist, vermisst man all die schrägen Farben jener Epoche, die orangefarbenen Autos und all das. Ursprünglich sollten Ians Augen in einer Szene farbig sein, aber das hat nicht funktioniert.

Zeigt der Film eine geschönte Realität oder die raue Wirklichkeit?

Sowohl als auch. Mehr raue Wirklichkeit, und der Streifen wäre einer dieser deprimierenden Problemfilme. Ich glaube, die Balance stimmt.

Wie fühlt man sich, wenn die eigene Jugend auf der Leinwand mythologisiert wird?

Es brachte mich eben dazu, diese alten Fotos hervorzukramen, denn ich wollte wissen, ob ich damals wirklich so aussah. Ich stellte fest, dass diese Epoche heute altmodischer aussieht, als ich gedacht hätte.

Wie schneidet „Control im Vergleich zu Oliver Stones „The Doors“ ab?

Ich fand „The Doors“ grauenhaft. Ich hätte es furchtbar gefunden, wenn in „Control“ irgendwelche Schauspieler zu unseren Playbacks posiert hätten. Als ich erfuhr, dass sie die Musik selbst spielen würden, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder wird’s richtig gut oder total mies. Letztlich hat’s dann funktioniert.

Wird Ian wahrheitsgemäß porträtiert?

Jeder hat seinen eigenen Ian, seine eigenen Erinnerungen. Letztlich ist es ein Schauspieler, der vorgibt, irgendjemand zu sein. Aber manche Szenen haben mich definitiv an Ian erinnert. Der epileptische Anfall im Auto etwa lief ziemlich genau so ab. Wenn überhaupt, dann war der echte Ian eine Spur gehässiger. Der Streit um den Schlafsack war ein Dauerbrenner: „Du hast ihn zehn Minuten gehabt, jetzt bin ich an der Reihe.“ Er konnte ganz schön arschig sein, trat mir in den Hintern und solche Sachen. Erst später merkten wir dann, dass da was komplett schieflief …

Glorifiziert der Film die Düsternis und den Selbstmord, oder hält er den Ball eher flach?

Er hält ihn flach. Es gab eine frühe Version, die mit dem Selbstmord begann und die Geschichte dann rückwärts erzählte. Mir gefiel sie, denn so war der Tod aus dem Weg geräumt. Die jetzige Version funktioniert aber genauso gut.

Jetzt hat die Postpunk-Generation endlich ihren eigenen Film…

… genau. Als Nächstes kommt wahrscheinlich Frankie Goes To Hollywood oder Nirvana. Schrecklich, dass erst jemand sterben muss, bevor sie einen Film über dich drehen. Die vielversprechendsten Anwärter auf den nächsten Biopic sind sicher Nirvana.

Wie war es, „Control mit den beiden anderen anzusehen?

Ich sah den Film mit Bernard und Hooky in Cannes. Manche glauben, er hätte uns wieder zusammenführen können, aber bei dem Zirkus in Cannes war das völlig unmöglich. Dieses ständige Blitzlichtgewitter war nicht unser Ding. Nach dem Film gab’s eine Strandparry, wo sie die Live-Aufnahmen aus unserem Video „Here Are The Young Men“ in der Endlosschleife spielten. Wenn wir damals als Joy Division auf so einer Party aufgetaucht wären, hätte man uns gesagt, dass wir uns schleunigst verpissen sollen.

Ist es gefährlich, sich vom Mainstream vereinnahmen zu lassen? Siehst du Joy Division lieber als weltgrößte Underground-Band?

Yeah. Das wäre doch nicht die schlechteste Grabinschrift. Aber es geht ja nicht nur um uns. Es geht darum, was aus der Musik generell geworden ist. Früher war Musik etwas sehr Persönliches. Heute latscht man in den Drogeriemarkt, um sich eine Zahnbürste zu kaufen, und

aus den Lautsprechern dröhnt Iggy Pop. Musik ist so selbstverständlich wie Luft, sie hat viel von ihrer Mystik verloren. Irgendeinen Song runterzuladen, ist eben nicht so emotional, wie eine Zwölfzoll-Vinylscheibe zu erbeuten.

Für viele Menschen ist Joy Diuision die letzte Band von Bedeutung, die letzte Band, die ein Anliegen hatte…

Für viele Bands heute ist Musik nur eine Karriereoption. Bei uns ging es auch nicht nur darum, unsere Gefühle, unsere Angst auszudrücken, aber Erfolg zu haben, spielte eben auch überhaupt keine Rolle. Eigentlich hatten wir keinen blassen Schimmer, was wir überhaupt taten. Es war einfach das, was wir wollten. Heute ist Musik weniger Ausdruck deiner Persönlichkeit, sondern Ausdruck dessen, was andere Leute von dir erwarten.

Wenn tan noch am Leben wäre, hatte Anton dann diesen Film machen können?

Ich glaube, dass Ian nur überlebt hätte, wenn die Band aufgelöst worden wäre. Wenn wir getrennte Wege gegangen wären und ihm klargemacht hätten, dass er sein Leben in den Griff kriegen muss. Wäre es so gelaufen, hätte man diesen Film definitiv nicht drehen können.

Wie war es, für den Soundtrack neue Songs aufzunehmen?

Man kann nicht einfach die Zeit um 30 Jahre zurückdrehen und annehmen, man sei die gleiche Person wie damals. Ist man nämlich nicht. Wir orientierten uns an dem, was Anton von uns wollte. Es ist in der Art von Joy Division, aber wir haben gar nicht erst versucht, Joy Division zu sein.

Kann man ein drittes Joy-Division-Album definitiv ausschließen?

Ich glaube nicht, dass es ein neues Album geben wird. Nach Ians Tod haben wir das Kapitel Joy Division bewusst abgeschlossen. Wir wollten keinen neuen Sänger, der die alten Sachen singt. „Ceremony“ und „In A Lonely Place“ waren von Joy Division übrig geblieben, wir betrachteten beide Songs als Geschenk an uns. Von da an war Joy Division abgeschlossen, auch wenn uns das den Ruf einbrachte, zu mauern. Aber warum mauerten wir? Weil jeder Interviewer die gleiche Frage stellte: „Warum hat sich Jan umgebracht?“ Also gaben wir überhaupt keine Interviews mehr und schlugen mit New Order eine ganz andere Richtung ein. Wir machten Disco-Musik, was ja nun wirklich die Antithese von Joy Division darstellte. Als wir 1998 wieder zusammenkamen, fragten wir uns, warum wir nicht in Gottes Namen Songs von Joy Division spielen sollten. Wenn jemand das Recht dazu hat, dann doch wohl wir. Erst jetzt konnte sich der Kreis schließen. Doch als wir dann ein paar Songs ausprobierten, merkten wir recht schnell, dass unser musikalischer Ansatz bei New Order völlig anders und dass Ian nicht zu ersetzen war. Es wäre falsch gewesen, wenn irgendjemand vorgegeben hätte, Ian Curtis zu sein.

Wie funktionierte der Übergang von Joy Division zu New Order?

Es war sehr schwierig. Einer unserer Kumpels war gestorben, und zwar auf eine sehr seltsame Weise. Das klingt vielleicht furchtbar, aber es ist die Wahrheit: Erst nach seinem Tod haben wir uns hingesetzt und seinen Texten zugehört. Und dabei wurde uns dann klar, dass wir manches gar nicht kapiert hatten. Ich dachte immer, wie clever es doch von Ian ist, in seinen Texten in die Rolle anderer Menschen zu schlüpfen. Ich hatte nie geglaubt, dass er über sich selbst schreibt. Heute frage ich mich natürlich, wie ich nur so verdammt blöd sein konnte. Natürlich schrieb er über sich, und ich habe ihn damals nie beiseite genommen und gefragt, ob er wirklich meint, sein Leben sei wertlos. Im Kino gab es Momente, in denen ich am liebsten in den Film eingetreten wäre. Leider geht das nicht.

Aufweiche Band bist du stolzer? Joy Division oder New Order?

Heute sehe ich sie nicht mehr als zwei verschiedene Bands, denn sie gehören zusammen.

Die US-Tournee hätte vieles ändern können …

… wer weiß, was dann passiert wäre. Ich werde es nie verstehen, denn Ian wollte genauso gerne in die USA wie der Rest der Band. Wir waren wie Kinder im Spielzeugladen. Noch schlimmer ist, dass wir es damals wirklich hätten tun können. Ian sagte so was wie: „Prima, wir sehen uns dann am Flughafen“, aber dazu kam es dann nicht mehr.

Wie sieht New Orders Zukunft aus?

Keine Ahnung. Wir sind immer gut damit gefahren, keinen Plan zu haben und nicht zu wissen, wie es weitergeht. Wir werden sehen.

Sind Joy Division das Bindeglied zwischen den Beatles und Nirvana?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich war zufällig in einer Band, deren Musik ich liebte. Ob sie historisch relevant sein könnte, war nie die Frage. Aber wenn das jemand so sehen möchte: gerne. Für mich ist es nur ein Abschnitt meines Lebens, der jetzt im Kino läuft.