Kraftwerk im Museum, Tag 1: „AUTOBAHN“


Acht Alben, acht Auftritte: Am Dienstagabend eröffneten die Elektro-Pioniere ihre Konzertretrospektive in der Neuen Nationalgalerie Berlin mit dem Klassiker AUTOBAHN.

„Irgendwie retro“ hat die junge Dame den Auftritt von Kraftwerk empfunden. Das jedenfalls sagt sie in die Kamera eines von mindestens fünf Fernsehteams, die nach dem Konzert in der Berliner Neuen Nationalgalerie am 6. Januar 2015 Zuschauer nach ihren Eindrücken befragen. Die Düsseldorfer Elektro-Pioniere haben im Laufe ihrer 45-jährigen Karriere viele Prophezeiungen gemacht in ihrem Werk – das vereinte Europa, die Computer-dominierte Welt inklusive Entfremdung und Überwachung – nur eines haben sie nicht vorausgesagt: das unerträgliche Gebaren der Medien im 21. Jahrhundert, den Mann/die Frau von der Straße nach ihrer Meinung zu staatstragenden Themen zu befragen.

Aber von Anfang an. Im Frühjahr 2012 führten Kraftwerk erstmals den „Katalog“ – die acht Alben von AUTOBAHN (1974) bis TOUR DE FRANCE (2003) – an acht aufeinanderfolgenden Tagen im Museum Of Modern Art in New York auf – dazu gab es Projektionen in 3-D und kostenlos verteilte 3-D-Brillen. Es war der zwischenzeitliche Höhepunkt der Selbsthistorisierung und –musealisierung Kraftwerks. Nach diversen Stationen kommt die Retrospektive nach Berlin.

Es beginnt an diesem Abend mit dem Album AUTOBAHN, das 1974 veröffentlicht wurde, und in England und in den USA in die Top 10 der Charts kam, was wiederum in einer positiven Rückkopplung für ein Kraftwerk-Bewusstsein in Deutschland sorgte. Der ursprünglich fast 23-minütige Titelsong enthielt alle Bausteine für den Techno-Pop der Zukunft, der wiederum einen unermesslichen Einfluss auf HipHop, House und Techno ausübte. Wir erinnern an das Zeltfestival „Tribal Gathering“ 1997 in Luton bei London, bei dem das benachbarte „Detroit Tent“ schloss, weil Jeff Mills und Carl Craig den Auftritt von Kraftwerk sehen wollten.

Aber was heißt es, wenn Kraftwerk „ganze“ Alben spielen? Diese dauern oft nicht länger als eine halbe Stunde. Und wenn, wie an diesem Abend, AUTOBAHN in einer stark gekürzten Version gespielt wird, ist das Album, das im Mittelpunkt stehen soll, nach einer guten halben Stunde vorbei. Und die restlichen eineinhalb Stunden werden mit einem Greatest-Hits-Programm aufgefüllt, in dem fast das ganze Album DIE MENSCH-MASCHINE, Seite 1 von TECHNO POP und über die Hälfte von COMPUTERWELT gespielt wird. Das lässt den Star des Abends, das AUTOBAHN-Album, zu einem Nebendarsteller werden.

Auffällig – nicht nur beim Titelsong „Autobahn“ – sondern vor allem bei den selten gespielten B-Seiten-Tracks, den beiden Versionen von „Kometenmelodie“, „Mitternacht“ und „Morgenspaziergang“ ist das dramatische Sound-Update, das die 40 Jahre alten Tracks stellenweise wie neu erscheinen lassen. Dazu gibt es niedliche Projektionen mit Super-Mario-Grafik-Anmutung. Bei „Autobahn“ sehen wir einen alten VW Käfer, dessen Kennzeichen D-KR 70 auf das Gründungsjahr der Band anspielt, und einen alten S-Klasse Mercedes (Kennzeichen D-KR 74, das Erscheinungsjahr des Albums) über deutsche Autobahnen fahren. Dieser Auftritt ist kein Konzert, es ist eine multimediale Installation, die das Gesamtkonzept Kraftwerk, das 45 Jahre in the making war, abschließt. Insofern ist diese „Retrospektive“ in der Neuen Nationalgalerie, einem Museum für Kunst des 20, Jahrhunderts, sehr gut aufgehoben.

Ralf Hütter, mittlerweile 68 Jahre alt und einzig verbliebenes Gründungsmitglied von Kraftwerk, geht an diesem Abend richtig ab. Er wippt mit den Füßen und bewegt seinen Oberkörper hinter dem Pult. Einmal raunt der „Video Operator“ Falk Grieffenhagen dem „Audio Operator“ Fritz Hilpert etwas zu, und beide müssen lächeln. Die Mensch-Maschinen werden menschlich auf ihre alten Tage. Nach der letzten Zugabe verlässt – wie in Joseph Haydns „Abschiedsinfonie“ – ein Musiker nach dem anderen die Bühne, nicht aber ohne sich vorher noch zu verbeugen. Am Schluss verabschiedet sich Ralf Hütter: „Gute Nacht, auf Wiedersehen.“ Ganz bestimmt.*

Kraftwerk live am 6. Januar 2015 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin – die Setlist des „Autobahn“-Konzerts:

Autobahn

Kometenmelodie 1

Kometenmelodie 2

Mitternacht

Morgenspaziergang

Nachrichten

Radioaktivität

Spacelab

Das Model

Neonlicht

Die Mensch-Maschine

Nummern

Computerwelt

It’s More Fun To Compute

Heimcomputer

Computerliebe

Tour de France (1983)

Tour de France (2003)

Trans Europa Express

Metall auf Metall

Abzug

Die Roboter

Boing Boom Tschak

Techno Pop

Musique Non-Stop

*Wir werden auch von den weiteren sieben Kraftwerk-Konzerten berichten.