Last Band Standing


Mit dem Ende der White Stripes wurden die indierockenden Nullerjahre offiziell abgehakt. Als letzte Überlebendeder Garagenrock-Revolution vor zehn Jahren bleiben The Strokes. Und die erfinden sich gerade neu.

Die Popkultur verfügt über eine unangenehme Eigenschaft. Sie macht den Chronisten, den Journalisten und anderen Kategorisierern das Leben schwer und oft einen Strich durch die zu einfach angelegte Rechnung. Der Pop will sich mit neuen Trends und Strömungen partout nicht an den Ablauf der Jahrzehnte halten. Was in der Retrospektive als prägend für ein Jahrzehnt, als bestimmender Sound, als Trademark bezeichnet wird, hat sich selten an einem 1. Januar materialisiert, sondern häufig vor und manchmal aber auch erst nach dem kalendarischen Beginn einer Dekade.

Die 70er-Jahre zum Beispiel begannen schon im Summer of Love 1967. Weil Jimi Hendrix mit der Erfindung des Leadgitarristen und die Beatles mit ihrem Album Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band und der daraus resultierenden Kunstwerdung von Popmusik die wichtigsten Strömungen für den Rock des darauf folgenden Jahrzehnts vorgegeben hatten. Hat nicht die Punk-Revolution im Jahr 1977 den durch zu viele Leadgitarristen und zu viel Kunstrock schematisch gewordenen 70er-Jahren das verdiente vorzeitige Ende bereitet? Haben die elektronischen Auswüchse der New Wave mit Bands wie The Human League die 80er-Jahre nicht schon um 1978 herum erfunden? Wurde die entscheidende Grundlage der Musik der 90er nicht schon um 1988/89 gelegt, im „Second Summer Of Love“, als die Acid-House-Revolution begann und die ersten MDMA-befeuerten Raves stattfanden?

Selbstverständlich hat sich der Beginn der Nullerjahre im Pop auch nicht an den Kalender gehalten. Für elektronisch ausgerichtete Zeitgenossen mag das Jahrzehnt am 8. Juli 2002 begonnen haben, dem Tag, an dem „Losing My Edge“, die erste 12-Inch von LCD Soundsystem, veröffentlicht wurde. Oder am 22. Oktober 2002, als das Debütalbum von Metro Area erschienen ist. Im Indierock begannen die Nuller am 30. Juli 2001. An diesem Tag ließen The Strokes ihr erstes Album Is This It auf die Welt los. So wie der Beginn lässt sich auch das Ende der Pop-Nuller an einem ganz bestimmten Tag festmachen: Am 2. Februar 2011 vermeldeten The White Stripes auf ihrer Webseite ihre Trennung. Eine der bedeutendsten und größten Indierockbands des vergangenen Jahrzehnts hatte sich nach 13 Jahren und sechs Alben aufgelöst, nachdem sie ihre Aktivitäten bereits 2007 eingestellt hatte. Bemerkenswert war die Begründung für den Schritt. Es gebe unzählige Ursachen für die Auflösung, war auf der Webseite zu lesen, der Hauptgrund aber sei, dass durch den Split das Besondere, das die Band umgibt, bewahrt bleibe. Oder so: aufhören, wenn’s am schönsten ist. Jack White, der einmal in einem Interview mit dem Magazin Guitar Player erklärt hatte, dass The White Stripes ihr gleichnamiges Debütalbum aus dem Jahr 1999 nie übertroffen hätten, ist viel zu sehr ein Musikbesessener, als dass er nicht um die kreative Vergänglichkeit wissen würde, mit der jede Band zu kämpfen hat. Die Auflösung der White Stripes war also ein konsequenter Schritt – nicht nur für die White Stripes selbst, sondern auch einer mit hoher Symbolkraft für die ganze Szene. Mit dem Ende ihrer Band setzten Jack und Meg White offiziell den Schlussstrich unter den vor sich hin dümpelnden Indierock der Nullerjahre, der langweilig geworden war, schematisch und formelhaft. Das Ende der White Stripes markiert das Ende der Nullerjahre.

Um die White Stripes als musikalisches Phänomen zu begreifen, muss man sich in Erinnerung rufen, in welchem popkulturellen Umfeld das Debütalbum von Jack und Meg White im Sommer 1999 angekommen war. Konservative Musikhörer beschäftigten sich damals noch mit dem letzten großen Untergrund-Ding, das freilich schon längst zum Mainstream geworden war. Sie surften auf der Britpop-Welle, die sich bereits am Strand der Bedeutungslosigkeit gebrochen hatte. Da musste dieses komische Duo aus Detroit mit seinem Punk-infizierten Do-it-yourself-Blues-Rock wie eine musikalische Offenbarung wirken. Auf ihrem dritten Album White Blood Cells, für viele das Meisterwerk der White Stripes, perfektionierten Jack und Meg White im Jahr 2001 dieses Konzept, dem sie auf den noch kommenden drei Alben nicht mehr sehr viel hinzuzufügen hatten. Die Qualität von Pop ist immer auch im zeitlichen Kontext zu sehen. Der Überraschungseffekt des Eindringens in eine vermeintlich gefestigte Musikszene mit einer vermeintlich neuen Musik nutzt sich schnell ab. Von der zeitverzögerten Umdeutung der 2003er White-Stripes-Single „Seven Nation Army“ in einen nach schalem Bier und Erbrochenem riechenden Schlachtgesang für hirntote Fußballfans ganz zu schweigen. Die White Stripes sind die Letzten, denen das anzulasten ist. Am Ende allerdings war aus ihnen in der Wahrnehmung kritischer Musikhörer eine ganz normale Blues-Rock-Band geworden. Und ganz normale Bands will keiner haben, der an die innovative Kraft der Popmusik glaubt.

The Strokes pflanzten ihr Debütalbum Is This It im Sommer 2001 in ein ähnliches popkulturelles Klima wie zwei Jahre vorher die White Stripes ihr erstes Album. Die Zeit von Grunge, Shoegaze und Britpop war Anfang der Nullerjahre längst vorbei. Wer an Innovationen in der Musik interessiert war, war schon Mitte der 90er in die experimentelle elektronische Musik geflüchtet. Aber die, die immer noch nicht genug vom Gitarrenrock hatten, warteten auf einen neuen Messias. Und den glaubten sie in den Strokes und ihrem Debütalbum gefunden zu haben. Is This It war die Synthese aus 30 Jahren New Yorker Garagenbands – von The Velvet Underground über Suicide bis hin zu Television -, zeitgemäß aufbereitet. Kein schlechtes Album, aber auch nicht die Sensation, zu der die Medien auf der ganzen Welt es hochgeschrieben hatten.

Für den Anlauf des Strokes-Hypes sorgte zunächst ein megalomanisches Marketing- und Promotionbudget ihrer Plattenfirma. Damit wurden Artikel über die Band auch in der letzten Mainstreamzeitschrift platziert. Überhaupt ist seit den Strokes einiges anders geworden in der Berichterstattung über Popmusik in den großen Publikumszeitschriften, den Frauen- und den „Lifestyle“-Magazinen. Während dort vorher überwiegend über die Opa- und Oma-Musik von Phil Collins und Tina Turner berichtet wurde, saßen mittlerweile hellwache, Pop-affine Kerlchen in den Redaktionen, denen das nächste große Ding näher zu sein schien als die Superstars von vorvorgestern.

Was den Strokes-Hype am Leben hielt, war ein soziokulturelles Phänomen. Die Bewertung von Musik geht über musikalische Kriterien hinaus und geschieht nicht unabhängig von der Zeit, in der sie entsteht. It’s the singer, not the song. Man vergleiche Is This It mit dem ein Jahr vorher veröffentlichten Langweileralbum Standing On The Shoulder Of Giants von Oasis, die eine Saison zuvor noch als Maß aller Dinge im Gitarrenrock galten; man vergleiche den angejahrten Mod(e)style der Gallagher-Brüder mit dem renovierten Street-Style der Strokes, und man ahnt, warum die New Yorker Anfang der Nuller als Sensation wahrgenommen wurden.

Auch Indierocker durften jetzt Sexsymbole sein. Der Schein, das Verkaufen von Träumen, wurde jahrelang – zu Unrecht – ausschließlich dem Mainstream zugeschrieben. Die Indie-Protagonisten galten als „authentisch“ und seriös, weil sich ihr Style unterschieden hatte von dem der glitzernden Mainstream-Acts. Mit dem Auftauchen der Strokes hat sich vieles geändert. Ähnlich wie bei Megastars wie Madonna und Michael Jackson wurde auch bei Indie das Gesamtpaket aus Image, Inszenierung und Ruhm eventmäßig gefeiert, auch wenn die Musik einer kritischen Untersuchung nur selten standhielt. Freilich machen Musikhörer, die sich für seriös halten, die mit dem ganzen niederen Popscheiß irgendwie nichts zu tun haben wollen, qualitative Unterschiede zwischen den verschiedenen Inszenierungen. Sie ziehen gerne mal das Authentizitätskärtchen aus dem Ärmel. The Strokes, heißt es dann, seien „authentischer“ als Lady Gaga. Natürlich ist der Style der New Yorker – Chucks, Röhrenjeans, T-Shirts, Hemden und Sakkos – straßentauglicher als das Fleischkleid von Gaga. Allerdings sollen beide Arten der Inszenierung auf einer höheren Ebene denselben Zweck erfüllen: ein idealisiertes Selbstbild nach außen tragen, um Sehnsüchte zu wecken und Erwartungen zu erfüllen (im Fall der Strokes die des idealisierten Outsidertums) oder eben gerade nicht (wie bei Lady Gaga). Authentizitätsdiskussionen führen zu nichts, außer zu irrwitzigen Thesen wie der, Intellekt und Style würden einander ausschließen.

Während The White Stripes mit der Verkündung ihrer Auflösung die Nullerjahre beendet haben, machen The Strokes weiter. Freiwillig oder nicht bewegen sie sich dabei immer noch in ihrer Nische, die in den vergangenen Jahren nicht unbedingt größer geworden ist, der vermutete Superstarruhm ist ausgeblieben. Die Stadien der Welt werden von anderen bespielt. Aber The Strokes sind nicht Kings Of Leon und nicht Mando Diao, sie haben sich nicht verheizen lassen wie die Schweden, haben nicht in den vergangenen sechs Jahren fünf Alben veröffentlicht und nicht mit exzessivem Touren dafür gesorgt, dass ein Entkommen vor ihnen unmöglich war. Im Gegenteil, The Strokes haben sich zum Beispiel nie auf eine richtige Deutschlandtournee begeben. In den zwölf Jahren ihres Bestehens waren sie hierzulande neun Mal live zu sehen.

Die Band umgibt also durchaus noch die Aura des Geheimnisvollen. Was bei der rasanten Geschwindigkeit, mit der die Generationswechsel im Pop stattfinden, alte Hörer aus Gründen der Interessensverlagerung aussteigen und neue dazukommen, sich auch als Nachteil erweisen kann. Wer heute 17 Jahre alt ist, für den sind The Strokes nicht mehr als eine Phantomband. Ihr letzter Auftritt ist Jahre her, das letzte Album First Impressions Of Earth ein halbes Jahrzehnt alt.

Man muss nicht dem popkulturellen Diktat folgen und das Debütalbum der Strokes als Meisterwerk empfinden. Unbestreitbar ist dagegen die Bedeutung der New Yorker Band auf den Indierock des vergangenen Jahrzehnts. Ohne The Strokes hätte es keine Libertines gegeben, keine Franz Ferdinand und keine Bloc Party und wahrscheinlich auch nicht den Strokes-Intimus Adam Green, der mit einer von jeglicher Scham befreiten Mediengeilheit einiges dafür getan hat, die Grube auszuheben, in die der Indierock jetzt endgültig gefahren ist.

Nach dem Ende der White Stripes dürfen sich The Strokes als letzte große Indieband der Nullerjahre fühlen. Dass sie aber nun mit ihrem vierten Album Angles einen hörbaren Wechsel ihres Stils vollzogen haben, der eben nicht das variationsarme Kompositionsschema der Nullerjahre mit den betont gelangweilten Songs repetiert, ist eine Überraschung. Die letzte große Indieband der Nuller scheint irgendwie doch in den Zehnerjahren angekommen zu sein.