Meinung

Dosenbier und Kotze: Die Festival-Saison 2017 ist in vollem Gange


Albert Koch über den für ihn unangenehmsten Ort, an dem Musik gehört wird: Rockfestivals.

Es gibt viele Orte, an denen Musik gehört wird oder gehört werden muss. Aber von allen Orten, an denen Musik gehört wird, ist – nach den Filialen der Bekleidungskette „New Yorker“ – das Rockfestival der bei weitem unangenehmste. Die Idee des Rockfestivals geht auf die Anfänge der Hippie-Zeit Ende der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. „Monterey Pop“. „Woodstock“. „Isle Of Wight“. Drei Tage voller Liebe und Frieden. Kritiker merken an, dass das Rockfestival im Lauf der letzten Jahrzehnte seinen unschuldigen Charakter verloren habe. „Der Festivalbetrieb“ sei kommerzialisiert worden, sagen sie. Sie wissen nicht, dass schon „Monterey Pop“ und „Woodstock“ gigantische Kommerzfestivals waren – mit fliegenden Händlern und einem Rahmenprogramm zur „Unterhaltung“. Nur Bungee-Jumping gab es damals in Woodstock noch nicht.

Die Idee des Rockfestivals passt gut zu einer Generation von schnäppchenjagenden Musikhörern, die durch penetrante Fernsehreklame die Worte „Geiz ist geil!“ verinnerlicht hat. Weniger oder wenig mehr als hundert Euro bezahlen zu müssen, um ein paar Dutzend Bands zu sehen, ist ein echtes Schnäppchen. Es ist geil. Der Schnäppchencharakter des Rockfestivals zieht eine ganze Reihe von Besuchern an, die gar nicht an den Bands interessiert sind, die beim Rockfestival auftreten, sondern wegen „der Stimmung“, wegen des „Gemeinschaftsgefühls“ kommen. Diese Leute erkennt man beim Rockfestival daran, dass sie schon am frühen Nachmittag, wenn die ersten unerheblichen Bands auf den Bühnen spielen, besinnungslos in ihrem Erbrochenen auf der Wiese liegen. Oder man erkennt sie gar nicht. Weil sie das Festivalgelände überhaupt nicht erst betreten, sondern auf dem Campingplatz bleiben, weil dort „die Stimmung“ und das Gemeinschaftsgefühl noch besser ist. 100 Euro für die Stimmung auf dem Campingplatz zu bezahlen, ist zwar kein Schnäppchen, aber es ist trotzdem: geil.

Die große Mehrheit der Besucher des Rockfestivals ist gekommen, um Bands zu sehen. Es ist aber unangenehm, bei großer Hitze oder großer Kälte, also im deutschen Sommer, zusammen mit zehntausenden anderen Menschen zwei bis drei Tage lang im Freien ein paar Dutzend Bands auf verschiedenen Bühnen anzusehen. Noch unangenehmer ist es, dass man dabei gezwungen wird, Bands zu sehen, die man gar nicht sehen will und unter Umständen davon abgehalten wird, eine bestimmte Band zu sehen, die man sehen will, weil zur gleichen Zeit auf der anderen Bühne eine andere bestimmte Band spielt, die man noch viel lieber sehen will, als die eine bestimmte.

In den Achtzigerjahren gab es keine Indie-Rockfestivals. Rockfestivals waren „mainstream“. Und mainstream war schlecht. Damals traten Metallica und Iron Maiden bei den Rockfestivals auf. Dreißig Jahre später treten immer noch Metallica und Iron Maiden bei den Rockfestivals auf. Aber die Rockfestival-Veranstalter haben inzwischen das kommerzielle Potenzial von Indie, dem neuen Mainstream, erkannt und mischen immer wieder ein paar Indie-Bands unter die „etablierten Acts“. Die dürfen dann nachmittags um 15 Uhr bei knallendem Sonnenschein ein Dreiviertelstündchen verloren auf der Hauptbühne herumhampeln.

Mittlerweile gibt es auch eine Reihe von Indie-Festivals. Der Indie-Hörer von heute findet die Idee, weniger als hundert Euro zu bezahlen, um ein paar Dutzend Bands zu sehen und darüber hinaus auch noch Bungee springen zu können, nicht mehr mainstream. Er findet es: geil.

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Dieser Text ist ein Auszug aus Albert Kochs Buch „Fuck Forever – Der Tod des Indierock“, in dem er 2007 unter dem Kapitelnamen „Das Rockfestival“ erschien.