ME CD Nr. 0110


Musikexpress-CD: Mit der Belegschaft der Halloweenparty tanzend in einen herrlichen Gesellschaftsentwurf.

1. Annie

„My Love Is Better“

Norwegerpop: „Das Ding“ für 2010?

Für alle, die die Sugababes nur theoretisch mögen und immer noch auf den einen wirklich überzeugenden Crossover-Hit von Kylie Minogue warten: Annie ist durch und durch Pop. Allerdings mit Ecken und Kanten. Und alle haben sie mitgeholfen, das zu ermöglichen: die Top-Produzenten Richard X (M.I.A., Röisin Murphy) und Paul Epworth (Bloc Party, Primal Scream), die Songwritergenies Xenomama sowie Alex Kapranos von Franz Ferdinand. Wenn diese, die aktuelle Single der mittlerweile auch nach Berlin umgesiedelten Norwegerin 2010 nicht über den Dancefloors explodiert, dann ist das Ende nahe. Dann müssen wir gar nicht erst bis 2012 warten.

2. frYars feat. Dave Gahan

„Visitors“

Synthpop, von oben abgesegnet.

Ok, Ben Garrett ist ein junger, viel zu junger Brite, um die 80er auf Höhe der Zeit miterlebt zu haben. Und er macht 80er-Musik. Da ist er weiß Gott nicht der Einzige. Aber er ist der Einzige, dem sich 80er-Gott Dave Gahan quasi aufgedrängt hat, doch bitte auf seiner Debütsingle mitsingen zu dürfen. Was ist also dran an Garretts Vision der 80er? Garrett macht keine alte Musik, um neu zu klingen. Er macht alte Musik, um alt zu klingen. Weil das zu seinen Texten passt, die weder den nächsten Partymarathon noch die Vorzüge enger Hosen thematisieren. Garretts Lyrics könnten einem 19. Jahrhundert-Werk aus der „Penguin Populär Classics“-Reihe entstammen.

3. Dead Man’s Bones

„My Body’s A Zombie For You“

Wo viel Blut, da viel Herz.

Alle paar Wochen ein weiteres ebenso blutreiches wie saftloses Remake eines 70er-Slashers, die Teeniemagazine voller Eisblumen und Vampiren mit Gelfrisuren – dem Horror ist das Schlimmste passiert, was ihm passieren kann. Er hat seinen Schrecken verloren, ist fester Bestandteil unserer Alltagskultur geworden. Deswegen bleibt der Blick am Halloween-Artwork des Debüts der Dead Man’s Bones auch erstmal nicht hängen. Und schon ist der Horror zurück, denn das ist mit das Schrecklichste , was uns dieser Tage passieren kann: diese liebevolle Nischenplatte mit ihren großen, von Kleinen (Kindern) gesungenen Spuk-Lovesongs zu verpassen.

4. The Leisure Society

„Save It For Someone Who Cares“

Single unseres Newcomers des Monats.

Seit Jahrzehnten diskutieren Soziologen das Konzept einer Freizeitgesellschaft, in der der Einzelne weniger arbeiten und mehr Freizeit zur Verfügung haben soll. Als Schattenseite in diesem Paradies wird der eventuelle Motivationsverlust des Individuums angeführt, was dann zu Dekadenz führen könnte. Dem Kopf der britischen Intimrocker Leisure Society, Nick Hemming, ist seine Motivation zumindest bislang noch nicht ausgegangen. Und der musste immerhin satte 15 Jahre auf seinen jetzt einsetzenden Erfolg warten.

5.Lay Low

„By And By“

Verträumter Country aus Island (!).

PLEASE DON’T HATE ME nannte die Isländerin Lovisa Elisabet Sigrunardottir alias Lay Low 2006 ihr Debüt. Ihre Mitbürger gehorchten, und bald musste Sigrunardottir, die damals noch in einem Plattenladen arbeitete, Autogramme auf die Lay-Low-CDs geben, die sie verkaufte. Mit ihrem Zweitwerk wird sie ihren Ruhm noch ausbauen: ME-Autor Frank Sawatzki lobte FAREWELL GOOD NIGHT’S SLEEP in seiner Fünf-Sterne-Besprechung als „das größte Versprechen der Countrymusik in den letzten Jahren“.

6. Thao With The Get Down Stay Down

„When We Swam“

Der Soundtrack zum Beziehungskater.

Ihr 2008er-Album WE BRAVE BEE STINGS AND ALL war der Jahresbestseller ihres Labels Kill Rock Stars. Dann ging alles ganz flott. Auf den Händen der Kritiker treibend verlor Thao Nguyen den Bezug zu ihren Beziehungen. Eben noch einerseits von allen geliebt, stand sie auf der anderen Seite plötzlich allein da, desillusioniert und verwirrt. So schnell konnte sie nicht erwachsen werden. Der Titel ihres neuen, vom Sozialwirrwarr gezeichneten Albums KNOW BETTER LEARN FASTER ist daher ausschließlich ironisch zu verstehen.

7. The Shaky Hands

„Already Gone“

Jetzt schon die neuen Dr. Dog?

Aus Portland, Oregon kommen sie, haben dort viele Bands der British Invasion gehört und diese Einflüsse mit US-Linksaußenseiter-Folkrock der Marke Neil Young vermengt. Eine hinreichend schmutzige Produktion ihres aktuellen, dritten Albums LET IT DIE brachte The Shaky Hands Ende 2009 ins Vorprogramm der Meat Puppers. Und wie soll es von dort nun weitergehen? Richtung fangefülltes Stadion à la Kings Of Leon oder Richtung kritikergefüllter Club à la Dr. Dog? Wir wünschen ihnen Ersteres und uns Zweiteres. Irgendwo dazwischen wird man sich schon treffen.

8. Kraków Loves Adana

„Wolves“

Homemade-Indierock aus Freiburg.

Es wird Zeit, dass Freiburg auf die Poplandkarte zurückfindet, nachdem Tocotronic die südlichste Großstadt Deutschlands vor 15 Jahren mit nur einem Song weggefegt haben. Deniz Cicek und Robert Heitmann nehmen seit zweieinhalb Jahren im Wohnzimmer ihrer gemeinsamen Freiburger Wohnung düster-fragilen Indierock auf, der wieder einmal beweist, wie viel aus wenig herauszuholen ist. Das Mastering hat hier übrigens ausgerechnet Chris von Rautenkranz übernommen, über dessen Dienste sich auch schon Tocotronic freuten.