Mick Jagger


Selbst an Steinen nagt der Zahn der Zeit. 40 Jahre ist der einstige Rock-Rebell alt - und sieht die Welt des Rock 'n' Roll inzwischen gelassen und distanziert. Nach Abschluß der Aufnahmen zu dem neuen Stones-Album UNDER-COVER nahm sich der Stein der Steine die Zeit, ME/Sounds ein langes Interview zu geben.

Jagger: (ironisch, lehnt sich übers Mikrophon): Testing, testing. one-two…

ME/Sounds:Können wir vielleicht zunächst kurz die Fakten des neuen Albums durchgehen: Wo habt ihr aufgenommen, wie lang hat’s gedauert… ?

Jagger: „Ja, sicher. Alle Tracks wurden in Paris eingespielt, in einem Studio, das inzwischen nicht mehr existiert. Es wurde abgerissen und durch ein Bürohaus ersetzt. Eine Menge Overdubs haben wir in Nassau auf den Bahamas gemacht, nur so zur Abwechslung. Aber dort arbeitet man einfach viel weniger, der Strand ist zu nah. Alles in allem hat es ungefähr zweieinhalb Monate gedauert.“

ME/Sounds: War das Material vorbereitet oder wurde es erst im Studio geschrieben ?

Jagger: „Keith und ich sind ein paar Wochen vorher rübergefahren und haben ein kleines Basement-Studio gemietet. Wir spielten uns die Songs vor, die jeder geschrieben hatte und machten ein paar 4-Track-Demos. Wir spielten beide Gitarre, ich selbst setzte mich auch an die Drums. (er grinst bei dieser Erinnerung), nur so zum Spaß.

Wir sind beide sehr kritisch. Ich sagte z.B. “ Yeah, das ist gut, aber es fehlt noch der Biß“ – oder er sagte .. Diese Lyric ; bringen ’s nicht“. Auf diese Weise hatten wir drei Viertel des Albums arrangiert, bevor der Rest der Band eintraf.

Das haben wir noch nie so gemacht, spart aber viel Zeit und gibt dir Sicherheit und Selbstvertrauen. „Too Much Blood“ schrieb ich dann im Studio.“ (Das Telefon läutet.) Alan Edwards, Publizist: „Entschuldige, da ist ein Typ am Telefon, der behauptet, dein Bruder Chris zu sein, aber er kennt das Pseudonym nicht, das du hier benutzt.“

Jagger: „Dann ist es auch nicht Chris.“

Edwards (ins Telefon): „Ich glaube, das vergessen wir lieber. Goodbye.“

Jagger: „Wo war ich stehengeblieben?“

ME/Sounds: Du sprachst über „Too Much Blood.“

Jagger: „Yeah. das haben wir in einem Take geschrieben, gespielt und aufgenommen. Passiert manchmal so. Dann haben wir das Zeug in New York abgemischt, noch Musiker dazugenommen, z.B. Bläser, aber nicht bei allen Songs. Ein gutes Solo von whats his name 9 – yeah… Dave Sanborn, Alt-Sax. echt gut, das bringt das Salz in die Suppe.“

ME/Sounds: Nachdem verschiedentlich zu lesen war, ihr hättet die Sugarhill Hörn Section für das Album verpflichtet, habe ich fast ein regelrechtes Rap/Scratch-Album erwartet. Ich war überrascht, wie rockig die Songs letztlich geworden sind.

Jagger: „Nein (lachend). Es ist ein bißchen Rap dabei, aber es ist ein Rock-Album, wenn auch kein typischer Rolling Stones-Rock. Es ist noch schwierig für mich, das Album objektiv zu beurteilen. Es ist relativ hart, keine Balladen, keine Streicher …

(Er schüttet eine Untertasse voll Pillen in seine Hand.) Hier, du kannst die Untertasse als Aschenbecher benutzen – und ich nehme meine Vitamine. Es ist ein rauhes Album. Einige Songs sind auch politisch angehaucht.“

ME/Sounds: Man konnte eine Reihe politischer Anspielungen aus demTitelsong „Undercover“ raushören. Was bewegt dich heute dazu, solche Lyrics zu schreiben?

Jagger: „Es geht um politische Gewalt und Unterdrückung und auch darum, daß man trot2dem mittendrin wie in einem Glashaus existieren kann. Der andere politische Song ist „Must Be Hell“, über Osteuropa, allerdings auch kein wirklicher Protestsong.“

ME/Sounds: Bist du schon in Ostblockländern gewesen?

Jagger: „Nur in ein oder zwei. Was dort passiert, ist eine Schande – potentiell reich, aber immer unter haarsträubendem Druck. Der Ostblock hat sich nie vom 2. Weltkrieg erholt. Könnte hier allerdings genauso passiert sein, in England. Genau genommen weiß ich gar nicht, ob sich England wirklich jemals vom 2. Weltkrieg erholt hat. (Lachen) Aber dort im Osten ist das ganz sicher nicht passiert. Die Atmosphäre dort hat etwas Träges, Schwerfälliges, erinnert mich ein bißchen an die Fünfziger.“

Schauplatz: das ehrwürdige Savoy-Hotel, London – perfektes Exempel altenglischer Eleganz: eichengetäfelte Wände, weißer Stuck, antike Ledersofas und Armsessel. Welcher Ort wäre idealer für ein Treffen mit einem Gentleman von Michael Philip Jaggers Stil und Raffinement.

Natürlich trifft man ihn nicht, ohne einige Hürden hinter sich gebracht zu haben. Wie jeder anständige VIP ist er unter falschem Namen abgestiegen. Doch die Journaille hat Lunte gerochen: Jerry Hall und Girlfhend wurden in einem nahegelegenen Coffee-Shop gesichtet: innerhalb weniger Minuten wimmelt die Halle des Savoy nur so von Fotografen.

Währenddessen werde ich von der üblichen Schar Auserwählter, die einen Superstar von der harten Realität abschirmen, in Empfang genommen. Eine Auswahl des neuen Stones-Albums UNDERCOVER wird angespielt – und ich bin zum ersten Mal in meiner elfjährigen Laufbahn als Journalist gezwungen, einen Vertrag (mit acht Kopien) zu unterschreiben, der die Verwendung dieses Interviews auf eine einzige Veröffentlichung limitiert.

Schließlich kommt der bedeutende Augenblick, sich auf den Weg in Jaggers Suite zu machen. Wie viele große Männer ist Mick nicht gerade eine Riese. Beim Shake-Hands habe ich den Eindruck, sein Kopf befinde sich irgendwo in meiner Ellbogengegend.

In kragenlosem Hemd, cremefarbenen Cricket-Hosen und kreppbesohlten Schuhen macht er es sich auf dem Sofa bequem. Er ist in all seinen Bewegungen oft etwas kokett: man gewinnt eher den Eindruck, einem Teenager gegenüberzusitzen als einem gestandenen Mann von 40 Jahren. Er spricht lebhaft und untermalt seine Aussagen mit Kichern, Grimassen und weit ausholender Gestik, (sl) ME/Sounds: Es ist interessant, wie ernst die Menschen in diesen Ländern Musik nehmen. Vor einigen Jahren schrieb ich Programme für den russischen Service der BBC und bekam all diese Briefe über die befreiende Kraft des Rock und Jazz. Für sie ist Musik ein Symbol der Freiheit, des Widerstandes gegen ihr System. Sie glauben noch an Ideale, die im restlichen Europa längst aufgegeben worden sind.

Jagger: „Ja, das lief bei uns in den Sechzigern – Rock n‘ Roll sollte die Welt retten! Dort drüben gibt’s diese Ideen noch, sie sind Realität, wir hingegen sind heute abgestumpft. Dabei hatte die ganze Bewegung durchaus einen liberalisierenden Effekt. Weiße haben z.B. angefangen, sich mit schwarzer Musik zu beschäftigen, dasselbe passierte in der Malerei mit Black Art.“

ME/Sounds: Du meinst Picasso und seine Zeitgenossen ?

Jagger: „Ja, aber .Die Kunst‘ ist nun mal eine elitäre Sache, populäre Musik dagegen der Masse zugänglich. Heute ist schwarze Musik im Radio etwas völlig Normales, wir sind also durchaus bis zu einem gewissen Grad freier geworden. Jedenfalls war die gesamte Musik noch weitaus weniger liberal, als ich jung war: niemand konnte auch nur ein offenes Wort bringen in seinen Lyrics – eindeutige sexuelle Anspielungen wurden ohnehin zensiert, einfach rausgeschnitten. Es hat sich also was verändert, sogar die BBC ist toleranter geworden seit meinen Anfängen.

Die Leute im Ostblock hingegen glauben noch so stark an die revolutionäre Kraft der Musik, weil diese Entwicklung bei ihnen eben noch nicht stattgefunden hat. Besonders Schriftsteller werden in diesem System extrem unterdrückt. Das erste, was wir in unserer Ecke der Welt mit Freiheit assoziieren, ist die freie Meinungsäußerung, daß wir beispielsweise jedes Buch veröffentlichen können, solange dabei niemand denunziert wird.

Dort ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Es muß einem geradezu die Luft abwürgen. Und doch akzeptiert offensichtlich der Großteil ihrer Schriftsteller diese Situation so wie wir unsere Konventionen etwa im Fall von Denunzierung respektieren.“

ME/Sounds: Laß uns nochmal auf das Thema Popmusik/Banalität zurückkommen. Es gibt immer noch Leute im Rockgeschäft, die sich verzweifelt an die Vorstellung von Rockmusik als Kunstform klammern.

Jagger: „Ja, was ich vorhin gemeint habe, ist eben, daß diese Art Musik am stärksten junge Leute anspricht; und das bedeutet nun mal zwangsläufig, daß die meisten Bands nicht allzu Tiefschürfendes zu sagen haben, aber gut aussehen, tolle Klamotten tragen und eben heute ,in‘ sind und morgen vergessen.

Als Musiker habe ich Pop nie für Kunst gehalten. Es hat aber eine Menge wahrer Künstlerin unseren Reihen gegeben, oder nicht? Emerson, Lake und Palmer etwa machten auf Mussorgsky. Das scheint vorbei zu sein, aber man weiß nie …, diese Sachen sind unberechenbar, ehe du dich versiehst, ist der Trend wieder da.“

ME/Sounds: Ich hoffe jedenfalls, daß es kein Keith Emerson-Comeback geben wird!

Jagger: (Lachend): „Nun, das hast du gesagt.

ME/Sounds: Ich habe auch mehr an jemanden wie Peter Townshend gedacht. Er ist doch einer aus dieser“.Rock-ist-Kunst“-Liga. Ich nehme an, du hast seine Kontemplationen anläßlich deines 40. Geburtstages gelesen (abgedruckt in ME/ Sounds vom November).

Jagger: „Ich kann mich da nicht so gut erinnern. Ich hab’s gelesen und gleich wieder vergessen. Aber er ist davon besessen. Rockmusik intellektuell zu begreifen. Für mich war das Ganze immer mehr eine rein körperliche Sache, bei der es nichts zu analysieren gibt.

Bis in die späten Sechziger hat das niemand gebraucht, doch dann fing dieser Kult des Rock-Journalismus so richtig an. Wie dieser Riesenwälzer … (er nimmt einen aufwendigen Fotoband über die Stones mit einem einleitenden Essay von New York Times-Kritiker Robert Palmer vom Sofa.) Palmer ist o.k. als Typ, aber wenn man das liest – phew! – es ist echt heavy. Dieser Trend begann in den Sechzigern, plötzlich versuchte alle Welt, unsere Songs zu interpretieren. Erinnerst du dich, als die Times anfing, die Beatles zu analysieren?“

ME/Sounds: Sicher. Wilfred Meilers verglich sie mit klassischer Musik.

Jagger:“.Genau – Bach und die Beatles. Das klingt heute alles so lächerlich. (Schüttelt den Kopf) Jazzkritiker waren die Vorreiter des Ganzen. Aber ich habe so was nie gelesen. Jazz wurde in den Fünfzigern intellektuell, in der Cool Ära; damals fingen die Musiker an, öffentlich zu philosophieren. Neulich hab‘ ich mir übrigens Keith Jarrett angesehen; er kehrt wieder zum Jazz zurück, nachdem er einige Jahre nur Solokonzerte gegeben hat. Er spielte in New York, im Village Vanguard. zusammen mit Jack deJohnette und Gary Peacock. Keith spielte viel Funk, hätte aber ein E-Piano gebraucht. Denn Jack deJohnette spielte mächtig laut, Keith war kaum zu hören. Mann. Jarrett sollte sich am Riemen reißen, so was wie ein Herbie Hancock werden.“

ME/Sounds: Wird er aber nicht. Er ist völlig konservativ, was elektrische Musik anbelangt.

Jagger: „Wirklich?“

ME/Sounds: Ja. er sagt: „Elektrizität durchströmt uns alle und sollte deshalb nicht in elektrische Drähte und Kontake gezwängt werden.“

Jagger: „Hahahahahahaha… oooh… what can you say? Wenn ich sowas höre, krieg ich ne Gänsehaut. Egal, er ist ein guter Musiker. Und Jack deJohnette war großartig. Komischerweise habe ich ihn ausgerechnet auf einem Police-Konzert kennengelernt. Er macht zur Zeit ein Album mit Andy Summers, besser gesagt, wirkt auf seinem Solo-Album mit. Es ist rein instrumental, wird bestimmt ganz interessant.“

ME/Sounds: Um ein anderes Thema anzuschneiden: Im angesprochenen Townshend-Artikel schien mir ein Thema interessant zu sein, nämlich, daß dein Berühmtheitsgrad es mit sich bringt, daß jede kleine Unterhaltung, die du mal geführt hast, unter Umständen nach fünf Jahren für irgendein Buch oder einen Artikel wieder ausgegraben wird…

Jagger: „Ja. das Witzige ist nur, daß Pete genau dasselbe macht, oder?“ (Lacht schallend) ME/Sounds: Er meint wohl vor allem Leute, die für dich gearbeitet haben…

Jagger: „Ah. das ist mir scheißegal. Tatsache ist, daß nur sehr wenige Leute, die für mich gearbeitet haben, wirklich was geschrieben haben; das waren doch meist professionelle Journalisten. Eine Ausnahme macht da dieser Typ, der für Keith die Drogen besorgt hat, Tony Sanchez. Er war aber nicht bei den Stones angestellt, sondern hing eben immer so um Keith rum.“

ME/Sounds: Mein erster Gedanke, als ich sein Buch „Up And Down With The Rolling Stones“ mit den stellenweise extremen Beschuldigungen las….

Jagger: „Es ist verlogen und verleumderisch.“

ME/Sounds: Also, warum verfolgt ihr diesen Kerl nicht von einer Ecke der Welt zur anderen?

Jagger: „Wer möchte sich schon in langwierige und kostspielige Prozesse mit solchen Leuten begeben? Ich denke auch nicht, daß jeder Leser unbedingt glaubt, was drin steht. Wer’s tut – selbst schuld.“

ME/Sounds: Betrachtest du all die negative Publicity nicht auch manchmal als Wasser auf den Mühlen der Image-Pflege?“

Jagger: „So zynisch bin ich nun wieder auch nicht. Und ich bin wirklich nicht daran interessiert, jemanden wie Tony Sanchez zu verklagen. Erstens ist sowas zeitraubend – und dann kann es obendrein passieren, daß du verlierst. Und dann mußt du damit rausrücken, was wirklich passiert ist. Die Verleger sollten lieber von vorneherein verantwortungsvoller handeln.“

ME/Sounds: Hast du nicht mal daran gedacht, selbst deine Geschichte zu schreiben ?

Jagger: „Ja, ich bin gerade dabei, bzw. sollte es eigentlich sein. Aber ich werde dabei nichts entschuldigen oder beschönigen. Ich werde mich nicht als Unschuldsengel darstellen, ich werde mich als gar nichts darstellen, nur meine subjektive Sicht der Dinge zeigen.

Es sind so viele Biographien über die Stones oder mich in Umlauf, daß ich mir gedacht habe, ich könnfe genausogut eine selbst schreiben – als mir das Geld dafür angeboten wurde. Es hat keinen Sinn. Zeit auf so etwas zu verschwenden, wenn ich keine Lust dazu habe oder die Kohle nicht stimmt. Aber Geld ist eine feine Sache, eine Motivation.

Aber nachdem ich jetzt sehr gut dafür bezahlt werde, muß es schon interessant werden, gut zu lesen und auf halbwegs literarischem Niveau sein. Nächsten Herbst soll es erscheinen.“

ME/Sounds: Werden es private Enthüllungen sein, so im Stile Henry Millers?

Jagger: „Ich habe noch nicht die leiseste Ahnung. Ich habe nur eine vage Vorstellung, wie es werden wird.

Einige der Sachen, die mir echt gut gefallen, sind in den Fünfzigern passiert. Da war ich zwar noch recht grün, aber die Erinnerung daran ist noch sehr lebendig. An einige der späteren Jahre kann ich mich kaum erinnern. Wo hab ich letzte Woche gespielt? – Keine Ahnung. Mein Problem ist, daß ich nie Tagebücher führte, also habe ich auch kein Material, auf das ich mich stützen könnte.“

ME/Sounds: Bill Wyman gilt doch als der große Stones-Archivist.

Jagger: „Ja, ich werde viel von ihm klauen. Er schreibt auch an einem Buch, hat aber eine total andere Perspektive. Er will endlich DIE WAHRHEIT verkünden, mit all dem Klatsch aufräumen. Ich hab zu ihm gesagt: ,Bill. schau, was ich mache, ist ganz und gar subjektiv.‘ Für mich gibt es keine Wahrheit, es gibt nur die rein persönliche Sicht der Dinge.

Bill denkt immer, er müsse die Stones verteidigen. Er möchte die ganzen Lügen und Gerüchte aus der Welt schaffen. Mir ist das alles schnurzegal. Mein Buch soll nicht einzig und allein über mich, mich, mich sein, sondern über die Zeiten allgemein; wie schon gesagt, die Fünfziger waren wirklich aufregend… Dieses Buch wird also nicht nur die Geschichte der Band sein oder ein Verzeichnis der Mädchen, mit denen ich gevögelt habe. Ich möchte eine Art Rückschau halten, das ist es, was mich an der Sache reizt – und der Scheck.“

ME/Sounds: Mich würde interessieren, wie du in so einem Buch die Siebziger darstellst – das war wohl auch für die Stones ein komisches Jahrzehnt.

Jagger: „Sehr sonderbar, in der Tat; die Siebziger schienen bis ungefähr 1972 gar nicht richtig anzufangen die Energie der Sechziger hielt irgendwie bis dahin an. Viele halten die Siebziger für langweilig, was «h eigentlich nicht so sehe.

Wir verließen England. Das war der entscheidende Schritt; wir wanderten aus. Wir gingen nicht nach Australien, obwohl das genauso möglich gewesen wäre. Wenn man das Land verläßt, in dem man geboren wurde,.. .na. das war ein definitiver Schlußstrich für uns, ein Wendepunkt.“

ME/Sounds: Die Scene um euch schien exklusiver zu werden, mehr High Society…

Jagger: „Ja, internationaler. Aber das wurde auch von der Presse hochgespielt. Vorher war’s auch nicht viel anders, die Leute interessierten sich nur plötzlich ciafur.

ME/Sounds: Plötzlich gab es Zeitschriften wie Warhols „Interview“…

Jagger: „Genau. Journalismus bedeutet nicht nur, über Ereignisse zu berichten, er kreiert Ereignisse. Oder verschafft zumindest den Eindruck. Magazine wie .Interview‘, obwohl sie keine nennenswerte Auflage hatten, schienen eine bestimmte Scene zu kreieren; dabei hatte es diese Scene durchaus schon vorher gegeben. Wir sind mehr zufällig dazugestoßen und haben sie für unsere Zwecke genutzt.“

ME/Sounds: Die Stones-Clique schien aber damals tatsächlich aus einer Art Elite zu bestehen. Immer war eine Prinzessin oder Premierminister-Gattin mit von der Partie. Und all die berühmten Schriftsteller wie Terry Southern. William Burroughs.

Truman Capote…

Jagger: „Klar, aber die kannten wir auch schon in den Sechzigern. Wir waren oft mit Burroughs, Gysin und diesen Leuten zusammen; es hat nur niemand drüber geschrieben! In den Siebzigern wurde Rock ’n‘ Roll zur Industrie, man kann es drehen und wenden wie man will. Dann, in den späten Siebzigern, gab’s natürlich Gegenreaktionen.“

ME/Sounds: Glaubst du wirklich, das war eine echte, spontane Reaktion?

Jagger: „Hier in England hat sie tatsächlich stattgefunden. Überall sonst war sie nur nachgeäfft. In Los Angeles war Punk letztes Jahr immer noch ein Thema. Das ist doch ein Witz! Die glauben, sie hätten den Punk erfunden. Dort laufen heute noch Leute mit rosa Haaren rum. jetzt, wo wir fast 1984 haben. Echt ätzend!

Sie sagen: .Oh. die Rolling Stones sind so altmodisch!‘ Und ich sage: .Ich glaube. ihr seid altmodisch!‘ Keine dieser Bands reißt einen wirklich vom Hocker. Ich weiß nicht, wie die Lage in Deutschland ist, ich bin nicht oft dort. Aber auch Punk in Frankreich war lächerlich. Total kopiert, künstlich, nachgemacht. Sie kamen nach London, gingen zur Kings Road, kauften ein paar Klamotten und fuhren wieder zurück. So sahen sie dann auch aus.

ME/Sounds: O.k.. kommen wir zur letzten Frage, der Frage nach eurer Zukunft. Ihr habt gerade einen 25-Millionen-Dollar-Vertrag mit CBS in Amerika unterschrieben, über 4 LPs. Das bedeutet eine ziemliche Verpflichtung. Du sagst, die Erfüllung dieses Vertrages würde wenigstens vier bis fünf Jahre, wahrscheinlich länger dauern. Glaubst du. daß die Stones noch so lange zusammenbleiben und die Alben wirklich zustande kommen? Kannst du dir vorstellen, daß die Band nochmals versucht, die letztjährige Tour zu übertreffen 7 Jagger: „Das sind ne Menge Fragen. Gehen wir auf Tournee, machen wir Platten? Wahrscheinlich, die CBS würde mich auch killen, wenn ich nicht sagte: .Aber natürlich! Auf jeden Fall! 1 Ich weiß es nicht. Ich kann keine vier LPs voraussagen. Das habe ich auch der CBS gesagt, das hat sich die Band gesagt. Wir können nicht behaupten, garantiert vier großartige Alben rauszubringen. Wir haben natürlich fertige Sachen in der Hinterhand, die wir problemlos veröffentlichen könnten; aber das möchte ich nicht so gerne. Wir werden noch Platten machen, das ist klar.

Was das Touren anbelangt: Die Amerika-Tournee 1981 war eigentlich die erste, die nur in Stadien ablief. Das war eine relativ spontane Entscheidung, weil eine so ungeheure Nachfrage nach Tickets bestand. Dieses Jahr haben David Bowie, Journey und Police reine Stadien-Tourneen gemacht, es ist zur Regel geworden. Es gibt nur zwei stichhaltige Gründe dafür: 1. die Nachfrage für die Tickets, 2. der Musiker will die Kohle. Musikalisch ist das sicher nicht befriedigend. Aber genau das haben wir in den Sechzigern schon von kleineren Arenen behauptet! (Lacht vorsieh hin.) Ich weiß nicht, ob ich das noch mal machen will. Ich denke darüber nach. Aber in Clubs mag ich auch nicht mehr spielen.“