MONSTER PARTY


Im Jahr 2006 drehten Thomas Bangalter und Guy-Manuel de Homem-Christo den Kunstfilm „Daft Punk’s Electroma“. Sie verzichteten darin auf Dialoge, sogar auf eigene Musik. Das Werk steht in der Tradition des experimentellen Kinos der frühen Siebziger, das sich in langen Einstellungen und endlosen Landschaften verliert, und nimmt sich 74 Minuten Zeit für eine Geschichte, die in einem Satz erzählt werden kann: Daft Punk, die beiden Roboter, scheitern an dem Versuch, Menschen zu werden, und zerstören sich schließlich selbst. Aus Verzweiflung, nehmen wir an. Sie sagen ja nichts. Können auch keine Regung zeigen. Genau darum geht es ja. Es ist eine Tragödie.

Der philosophische Gehalt des Films hält sich in Grenzen. Insgesamt lässt sich über Daft Punks Spiel mit den Identitäten, die Frage nach Menschlich-und Künstlichkeit, die das eben nicht nur musikalisch stark von der Gruppe Kraftwerk geprägte Duo verhandelt, aber sagen: Auch wenn der Erkenntnisgewinn daraus in knapp 20 Jahren eher überschaubar ausfiel, bietet ihr Gesamtkonstrukt doch um einiges mehr als die meisten anderen Musiker, die dort draußen ganzjährig Halloween feiern.

Fantasiefiguren, Ungeheuer, Clowns, Superhelden und aufrecht gehende Tiere, die Instrumente bedienen können, hat es in der Geschichte der Popmusik seit Ende der Sechziger so einige gegeben. Als die Avantgarde, das Progressive und schließlich der Glam in den Rock kamen, ging das los. In den letzten Jahren ist wiederum ein stärkerer Trend zur Maske zu beobachten, vor allem in der elektronischen Szene, im HipHop sowie bei Art-Pop-Kapellen wie Animal Collective oder Of Montreal, die ihre besondere Fantasiebegabung auch optisch ausstellen möchten. Zum einen reagieren Musiker damit auf das weiterhin steigende Bedürfnis des Publikums nach visueller Unterhaltung. Zum anderen erklärt sich dies aus dem Druck, in einem immer unübersichtlicheren Popangebot den eigenen Wiedererkennungswert erhöhen zu müssen.

Doch welche Geschichten erzählen uns diese Gestalten? Was haben diese Figuren uns anzubieten außer den spaßigen oder kurzzeitig vielleicht auch verstörenden Showeffekt ihrer Maskeraden -plus gegebenenfalls ein kleines Mysterium, das sich um ihre wahre Identität herum stricken lässt?

Über viele Jahrhunderte hat sich der Mensch nicht mit kleinen Mysterien zufriedengegeben, wenn Masken ins Spiel kamen. Die Geschichte der Gesichtsverkleidung (mit oder ohne Kostüm) ist nicht von ungefähr in etwa so alt wie die Kulturgeschichte des Menschen selbst. Denn er schuf sich Masken, um ein Bild von seinen Göttern zu erhalten. Er setzte diese Masken auf, um mit ihnen in Kontakt zu treten oder selbst zu einem dieser mächtigen Wesen zu werden. Die Maskenträger waren nicht etwa verkleidete Menschen, sie waren im Ritual die Götter, Geister und Verstorbenen selbst.

Man geht davon aus, dass unsere abendländische Theatertradition auf solchen Kult zurückzuführen ist -auf Opferrituale der Antike nämlich. Festspiele zu Ehren des Weinund-Ekstase-Gottes Dionysos führten schließlich zur griechischen Tragödie, der Urform des europäischen Theaters. Und auch hier trugen die Schauspieler typisierte Masken, mit starrem Ausdruck und festgelegtem Charakter. Noch bis ins Mittelalter spielten Masken eine wichtige Rolle bei Mysterien- und Passionsspielen. Doch mit der Renaissance, in der der Mensch und seine Persönlichkeit auch im Theater in den Mittelpunkt rückten, wurde die starre Maske weitgehend von der Schminkmaske abgelöst: Ein lebendiger, sich wandelnder Charakter bedarf der Mimik.

Schminkmasken und Kostüme mit eindeutigem Bezug zum Theater waren es schließlich auch, die im Pop für Aufmerksamkeit sorgten, als der bis dato eher unauffällige britische Sänger David Bowie ab Anfang der Siebziger in immer neuen Rollen auftrat – inspiriert von der Pantomime und dem japanischen Kabuki-Theater genauso wie von Geschlechterrollen sprengenden Szenegängern der New Yorker Subkultur. Auch der surrealistische Geschichtenerzähler Peter Gabriel machte sich ein paar interessante Gedanken zur Verbindung von Form und Inhalt und trug die Songs seiner Progrock-Gruppe Genesis bald als Blume, bald als Göttin Britannia vor. Sein „Slipperman“, ein nacktes, blasenübersätes Wesen, dürfte zu den absurdesten Gestalten gehören, die je eine Bühne betreten haben.

Mit weitaus weniger Fantasie und Gestaltungswillen, aber großem Gespür für die Bedürfnisse der durch Comics und Monster-Filmen angefütterten Teenager der Siebziger ausgestattet, verwandelten Gene Simmons und Paul Stanley zur gleichen Zeit ihre Band Kiss in die ersten Actionfiguren des Rock. Sie konnten Feuer spucken, Explosionen entfachen, fliegen, das volle Programm. Eigenartigerweise war auch für die New Yorker Band das Kabuki-Theater ein wichtiger Einfluss, hier seine dick aufgetragene Schminke. Weitere Inspiration dürften sie sich bei Schockrockpionier Alice Cooper geholt haben, der ab 1970 mit viel Make-up, Kostümen und Spezialeffekten eine Horrorshow veranstaltete, die 30 Jahre zuvor noch ein Fall für den Jahrmarkt gewesen wäre.

Es ist im Rückblick auf die über 40-jährige Karriere von Kiss erstaunlich, wie wenig diese Band aus ihren Comic-Charakteren gemacht hat – inhaltlich, anders als am Merchandise-Stand. Dort, wo sie tatsächlich versuchte, Geschichten zu erzählen, zum Beispiel in dem trashigen TV-Film „Kiss Meets The Phantom Of The Park“, verhob sich die Gruppe allerdings auch gründlich. Doch fast erstaunlicher ist es noch, welche musikalische Eskapaden, vom Schmachtfetzen bis zum Discoschlager, dieser Band zugestanden wurden. Tatsächlich lässt sich anhand dieses Beispiels für die meisten maskierten Acts feststellen: Offensichtlich verlangt der Fan kaum nach Entsprechungen zwischen den dargestellten Charakteren und ihren künstlerischen Aussagen. Solange „God of Thunder“ Simmons im Konzert nur das Kunstblut aus den Mundwinkeln läuft, ist die Kiss-Welt in Ordnung.

Metal und Horrorfilm sind bis heute die beiden Spielwiesen der Popkultur, auf der sich Maskenwesen am wildesten austoben dürfen. Sie erscheinen dort vor allem in zwei Varianten. Zum einen als Fratze, als Abbild des Grauens – zu sehen bei den Corpse Paints der Black-Metal-Szene, bei Show-Monsterhorden wie GWAR und Lordi, aber auch bei im Mainstream erfolgreichen Acts wie Slipknot oder Marilyn Manson. Zum anderen versteckt sich das Grauen aber auch gerne hinter Hockey-Masken und Karnevalbedarf, zeigt so nicht die Spur eines Gefühls und sorgt dadurch erst recht für Gänsehaut. Siehe „Freitag, der 13.“ oder „Scream“ oder auch die leere Plastikmaske des ominösen Gitarristen Buckethead.

Womit wir wieder beim kleinsten Nenner der ganzen Verkleidungsshow wären: Die Maske sorgt für einen gewissen Wow-Effekt und man weiß nicht, ob ihr Träger vielleicht samstags vor einem an der Supermarktkasse steht.

Mehr Konzept war auch bei Daft Punk nicht, als sie sich Anfang der Nullerjahre die Roboterhelme überzogen. Dennoch sind ihre Tarnmanöver, die schon Mitte der Neunziger begannen, in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Franzosen setzten nicht nur die Mensch-Maschinen-Vision von Kraftwerk konsequent um: Wer Musik von Daft Punk hört, nimmt diese unweigerlich als „von Robotern gemacht“ wahr. Das Duo befolgte mit seinem Schritt in die Anonymität auch das frühe Techno-Ideal, als Produzent unsichtbar zu werden. Aphex Twin wählte hierfür wiederum die verwirrende Taktik, sein eigenes Antlitz als Fratze zu inszenieren und sich quasi hinter seinem eigenen Gesicht zu verstecken. Aber auch jüngere Musiker wie SBTRKT und Redshape, die sich ebenfalls Masken aufsetzen, um unerkannt zu bleiben, sind in dieser Tradition zu sehen. Daft Punks Roboter waren allerdings so faszinierend, dass Bangalter und de Homem-Christo nicht widerstehen konnten, ihnen ein Eigenleben zu geben – am Ende wurden sie die Stars. Und ein gewisser Joel Thomas Zimmerman alias Deadmau5 setzte ein paar Jahre später gewissermaßen als Automat der nächsten Baureihe noch eins drauf: Sein Mausohr-Helm wurde selbst zur Projektionsfläche. Der DJ für die multivisuelle Gadget-Generation.

Einen besonderen Stellenwert nimmt die Maske schließlich im HipHop ein. Authentizität spielt hier eine große Rolle. Wer sich dennoch versteckt, wird also nicht umhinkommen, sich in seinen Texten damit auseinanderzusetzen. Während jemand wie MF Doom die Metallmaske aufsetzt, um eine Kunstfigur zu erschaffen, berichtete das Berliner Ghettokind Sido mit einem Totenkopf-Mikrofon-Hybrid vor dem Gesicht vom Leben in seinem „Block“. Er nahm die Maske dann aber bald schon ab, um mit dem Stück „Mama ist stolz“ privat und zutraulich zu werden. Eine schlüssige Geschichte.

Vielleicht hätte sich das auch Poprapper Cro noch einmal vor Augen führen sollen, bevor er seine Panda-Bär-Maske mit einem Satanistenkreuz verzierte, um so verkleidet darüber zu dozieren, dass er sich in seiner schwäbischen Heimat immer noch am wohlsten fühle. Hier purzeln Symbole und Bedeutungen nur noch krude und sinnlos durcheinander. Aber Jeanette Biedermann findet Cro bestimmt auch gut und tanzt dazu in ihrem Exploited-T-Shirt.

Das umfangreichste, in sich geschlossenste und damit überzeugendste Masken-Konzept setzen bis heute übrigens The Residents um. Eine anonyme Avantgarde-Band aus San Francisco, die seit über 40 Jahren ihre eigene Parallelwelt am Leben hält, aus der heraus sie unsere Popkultur kommentiert, parodiert, unterwandert. Ihre bekannteste Verkleidung: Frackgestalten mit großen Augäpfeln als Köpfe, die uns sagen: Die ganze Welt tut eben doch nichts lieber, als zu glotzen. Also haben all die anderen Halloween-Kapellen dort draußen eigentlich alles richtig gemacht.