Moralist Und Wichser


In seiner Heimat England gilt er als einer, der die Jugend verderben will. Mit anzüglichen Texten und schamlosen Gebärden ist Almond ausgezogen, um für mehr Sinnlichkeit zu werben/Sylvie Simmons begab sich in die Höhle des schwulen Löwen.

Es isl drei Uhr an einem nassen, grauen Nachmittag. Wir trinken Tee und reden übers Wichsen.

„Es ist eines dieser tabuisierten Themen, das die Leute meiden wie der Teufel das Weihwasser. Dabei ist das ein Gesprächsthema, bei dem eigentlich doch jedermann mitreden kann. „

Marc Almond hat sich am Ende des Sofas niedergelassen und kreischt wie eine unterernährte Krähe: „Wichsen ist neben dem Essen die natürlichste Sache auf der Welt! Wenn sie schon heutzutage ständig über .Sufer Sex‘ reden, warum lehren sie dann nicht gleich Masturbation in der Schule?“

Noch ein Lacher. „Aber es ist wirklich lustig, wie viele Leute sich nicht einmal überwinden können, den Namen meines Albums auszusprechen. „

MOTHER F1ST AND HER Fl-VE DAUGHTERS (Mutter Faust und ihre fünf Töchter) heißt das corpus delicti — em Loblied auf die Freuden einsamer Herzen, ein Streifzug durch die unteren Körperregionen, akustisch untermalt von Melancholie und großem Gefühl. Es ist Almonds bestes Album bisher, sein inhaltsschwerstes und gleichzeitig verdaulichstes Werk.

Und — zumindest in England — das am wenigsten gespielte Album. Die BBC strich automatisch die Single vom Spielplan. Und Almonds Plattenfirma schlug ihm vor, doch besser kein Portraitfoto von sich auf das Single-Cover drucken zu lassen, denn er würde als Schwuler „bedrohlich auf die britische Bevölkerung wirken“, als Verderber der plattenkaufenden englischen Jugend.

„Ich hin überhaupt nicht verdorben“, meint Almond. diesmal gar nicht lachend, „ich bin sogar sehr moralistisch. Ich schreibe davon, was ich unter ehrlich, was ich unter Leben versiehe, über die wahren Gefiihle und Wünsche. Und ich hoffe, ich kann helfen, die Tabus und Barrieren und die aufgebauten Frustrationen zu durchbrechen. Schau mich an, ich bin doch eine harmlose Person! Ich bin schlimmstenfalls ein Teufel in Engelskleidern!“

Er wurde auch schon anders betitelt — die Judy Garland der Müllhalden, so nannten sie ihn zum Beispiel in Spanien. Marc, geboren in Southport an der Küste Englands, ist eigentlich ein verkappter Spanier.

Er lacht wieder. „Ich glaube nicht, daß ich das je verheimlicht habe. Ich liebe die Mentalität der Spanier, die Art, wie sie mit jedem Aspekt ihres Lebens umgehen, als wäre es ein Drama, und wie alles so farbenprächtig wie ein riesiges Bild von Dali erscheint. Die Musik, die ich höre, kommt auch aus diesem Teil der Erde. England ist das, wo ich mein Zuhause und einige wunderbare Freunde haben, aber meine Heimat ist das nicht. „

MOTHER FIST, so scheint es, ist ein sehr nachdenkliches Album …

„Es wurde in einer Periode geschrieben, als ich mein Leben sehr nostalgisch betrachtete, Situationen bedachte, die lange zurücklagen, mich umschaute und fragte: Wo bin ich jetzt, wohin gehe ich ?, The River‘ zum Beispiel ist ein Song über Orientierungslosigkeit und den Versuch, eine Richtung zu finden. Es ist ein Gefihl von Einsamkeit, das ich in den letzten vier Jahren hatte, von Isolation, eine Art Verzweiflung, die in den Songs auch zum Ausdruck kommt. Ich war immer glücklicher, wenn ich traurige Lieder schrieb.

Und ich war immer ein Einzelgänger, schon als Junge. Genau was der Song ,The Sea‘ ausdrückt: Mein bester Freund war damals das Meer und der Strand. „

Marc Almond, der Naturbursche? Man vermutet seine Jugend doch mehr in düsteren Straßen und Kneipen, in eher beklemmenden Plätzen.

„Ich sehe mich auch nicht gerade als Kind der Natur. Meine Affinität zum Meer stammt sicherlich aus der Zeit, als ich an der Küste aufgewachsen bin. Ich war als Kind ziemlich anfällig, hatte Asthma und Bronchitis und mußte immer am Strand mit Großvater Spazierengehen, um die Seeluft zu atmen; das war das einzige, was mir half.

Ich ging immer am Wasser entlang, hob kleine Knochen auf oder Sachen, die Leute weggeworfen hatten, und Seetang … das gab mir dieses unglaublich romantische Gefühl, dieses Gefühl von Stärke, Freiheit, Jugend, Einsamkeit, Melancholie, Glück und all diese Sachen. Ich wollte immer ein Segler an Bord eines Schiffes sein, dieses Gefühl von Freiheil, Reisen in neue Länder, vermischt mit dem Geruch von Opium. Zu viele Jean Genet-Romane, denke ich.“

Seine Plane beinhalten ein Album mit Gedichten französischer Klassiker — Rimbaud, Beaudelaire — übersetzt ins Englische und aufbereitet mit Almonds Musik, ferner ein Sampler, wo Sänger/innen wie Juliet Greco seine Kompositionen zum Besten geben werden, und schließlich möchte Marc ein Album mit Jaques Brei-Liedern aufnehmen.

„Die besten Songs sind meiner Ansicht nach eben schon geschrieben!

Und ich möchte mich der großen Oper widmen! Ich habe die letzten Jahre viel trainiert und meine Stimme und meinen Stimmumfang ganz ordentlich entwickeln können. Ich habe mir meine Ziele immer sehr hoch gesteckt“, kichert er, „sogar außerhalb meiner Reichweiten. Ich mag das Risiko und den Wunsch nach Unerreichbarem. Wichtig ist nicht, ob man Fehler macht, — die mach ‚ ich, ganz bestimmt! — nein, das Wichtigste ist, Ambitionen zu haben. „