Morrissey live in Bremen


Die Reise zu einem Morrissey-Konzert gleicht einer Pilgerfahrt, ein Auftritt des ehemaligen Smiths-Sängers ist für treue Fans am ehesten mit einem Kirchgang zu vergleichen. ME-Leser Siegfried Bendix war im Pier 2 in Bremen dabei.

„Entschuldigung, ich seh‘ da grad Ihr Smiths-T-Shirt, Sie wollen bestimmt zu Morrissey, oder?“ – „Ja, und?“ – er sollte nicht der einzige von scheinbar chronisch schlechter Laune gebeutelte angegraute Indie-Rock-Veteran an diesem Abend bleiben, der mit den ‚Jungspunden‘, die ja selber gar nicht ‚dabei‘ gewesen sind, und deshalb nie erfahren werden, wie ‚das‘ damals alles so war, wahrscheinlich nicht sehr viel am Hut hat, oder besser, am Hut haben will.Bremen Hauptbahnhof. Ich weiß nicht mehr so genau, welche Straßenbahnlinie ich zum Ort des Geschehens, dem Pier 2, nehmen muss, und der Mann hinter der Information weiß das auch nicht, und kann mit meiner Beschreibung („Die Station heißt irgendwas mit Use und klingt für den Nichtbremer eher kurios“) ähnlich wenig anfangen wie der „echte Fan“, der sich dann doch zu einem Smalltalk hinreißen lässt, weil ich ihm Informationen über die Möglichkeiten des Bahnticketkaufs und die Vorband beschaffen kann.Die sich mittlerweile als „richtig“ herausgestellt haben sollende Straßenbahn rollt ein. Im Laufe der Fahrt steigen weitere offensichtlich mozza-affine Menschen zu, unter anderem ein Jungspund in Anzug, der die Frage einer Freundin, warum er denn so fein im Anzug auftretete, damit beantwortet, dass er das Konzert sozusagen als Kirchengang betrachte; und so wirkt sie auch, die Anreise – mehr Pilgerfahrt als „Ich geh‘ heute zu ’nem Konzert“. In Anbetracht soviel klassischer Stilsicherheit komme ich mir kurz blöd vor, denn ich sehe aus, als hätte ich höchstens 3-4 Stunden geschlafen, was daran liegt, dass ich höchstens 3-4 Stunden geschlafen habe. Bis mir einfällt, dass ich ja eigentlich aus Überzeugung kein Anzugträger bin. Und überhaupt – seit wann gibt es auf Konzerten einen Dresscode?Use Akschen. Menschen steigen in Scharen aus Straßenbahnen, und das, obwohl der Einlass schon vor einer halben Stunde begonnen hat. So geht es auch verhältnismäßig schnell, und ich stehe mitten im Pier 2, das genau die ideale Größe für ein Morrissey-Konzert hat, die die an Größenwahn grenzende Hamburger Color Line Arena Ende 2006 nicht hatte. Das Konzert ist ausverkauft, die Menschendichte entsprechend hoch. Ich unterschreibe unterwegs eine Petition der PETA, kämpfe mich zum Bierstand vor und bekomme Anrufe von Menschen, sie stünden gerade in der zweiten Reihe, ich solle doch mal kommen. „Klar, bin gleich da“, antworte ich leichtfertig, ohne in Betracht zu ziehen, dass sich die Masse ’nach vorne hin‘ eher verdichtet als dass sie auseinanderdriften würde. Die Leute sind ganz vernarrt auf Morrissey und wehren sich mit Händen, Füßen und Worten dagegen, irgendeinen Grünschnabel, der wahrscheinlich noch nicht mal auf der Welt war, als Morrissey erstmals „The Queen is dead“ skandierte, vorzulassen. Ein, zwei Minuten lang ziehe ich in Erwägung, mir gleich zwei Bier auf einmal zu kaufen, um den Leuten zu signalisieren, ich müsse irgendjemandem in der zweiten Reihe jetzt unbedingt ein Bier bringen, worauf sie mir nicht einfach nur Platz machen würden, sondern mindestens eine Schneise durch die Menge bauen, damit das Glas auch ja voll und ich heil am Bühnenrand ankommen. Exakt in dem Moment, an dem ich zu dem Schluss komme, dass ich gerade dabei bin, mir aus lauter Müdigkeit Utopien zurecht zu basteln, wird das „Doll And The Kicks“-Logo auf den noch zugezogenen Vorhang gebannt. Doll And The Kicks sind heute Support für einen Mann, der ‚Support‘ im Wortsinne wohl kaum nötig hat, und die Band – aus Gründen, die zu erörtern mir noch nicht gelungen ist – später damit supporten wird, das Publikum zu bitten, irgendjemand solle Doll und ihre Kicks doch bitteschön signen – „Maybe you?“Doll (the british „Mieze Katz“?) ist die Frontfrau, die Kicks der Rest. Circa „Nick Cave and the Bad Seeds“, nur ohne einen coolen Hund wie Blixa. Sie sieht aus wie eine abgemagerte P!nk, die eigentlich doch lieber Agyness Deyn wäre. Dass Doll und Kicks in Morrisseys Bild von ‚guter Musik‘ passen, ist in Anbetracht seiner Referenzen, von Glam bis Punk, nicht von der Hand zu weisen, weshalb er sich aber gerade sie ausgesucht hat, in einem Meer von mittleren bis sehr guten Bands, die sich stilistisch auf ähnlichem Terrain bewegen, wird nicht ersichtlich. Doll verblüfft mit Einsichten wie zum Beispiel, dass man von den Balkonen wahrscheinlich eine ziemlich gute Sicht hätte, gefällt sich in angesexten Posen, die mit ihrer Angewohnheit, nach jeder aufreizenden Verrenkung relativierend zu lachen (frei nach dem Motto: „Eigentlich alles nur ein Witz, ich bin gar nicht so, das hier ist Showbiz!“) konterkarieren. Musikalisch bleiben sie indes kaum erwähnenswert, Doll kiekst wie Karen O, lallt wie Björk, die Songs bleiben vorhersehbar, ohne dass sich wenigstens ein potentieller Hit aus dem Einerlei von Punk-Gitarren und konventionellem Drumming hinauskristallisieren würde. Ich nutze die Gunst der Stunde, die Raucherterrasse zu nutzen, den Bierstand zu besuchen und noch ein bisschen zu probieren, mich in die zweite Reihe durchzuboxen. No way. Ich kapituliere, und die Kicks kapitulieren auch.Nun ist alles wie 2006. Nur der Schauplatz sieht hübscher aus. Dafür war Kristeen Young mit ihren extravaganten Klang- installationen, die es trotzdem schafften, irgendwie Pop zu sein, die bessere Supportwahl. Auf die Leinwand werden erneut Videos projeziert, die Morrissey höchstselbst zusammengestellt hat, um seinen Jüngern die Wartezeit zu verkürzen. Ausschnitte aus obskuren 50er-Jahre-Musical-Filmen, Shirley Bassey, Interviews, TV-Auftritte der New York Dolls. This Charming Man!Zweiundzwanzigste Reihe. Das Licht geht aus, ebenso schnell, wie es nach den Kicks wieder angegangen war. Meine Theorie ist, dass der schönste Moment, egal wie wunderbar ein Konzert auch sein mag, das „davor“ ist. Wenn die Dunkelheit die grellen Scheinwerfer ablöst, nur die Bühne dezent erleuchtet ist, ein Intro aus den Boxen schallt, und klar ist, dass „er“, in diesem Falle Steven Patrick Morrissey, in allenfalls einer Minute leibhaftig auf der Bühne stehen wird, um all die Songs zu singen, die man so liebt. Klar. Kann man so pauschal nun auch nicht sagen. Aber dieser eine kurze Moment der vollkommenen, wunderschönen Anspannung ist nicht vergleich- oder wiederholbar. Nach einer dramaturgischen Kunstpause, die ihre Wirkung nicht verfehlt, betritt Morrisseys Band die Bühne, und in geringem Abstand auch der „Mozfather“ (man möge dies künftig unterlassen!) selbst. Ohne ausschweifenden Begrüßungsakt werden die Instrumente in Beschlag genommen (wuchtiger Höhepunkt inmitten all des Equipments bleibt nach wie vor die gewaltige Pauke, die in ihrer Größe und Lautstärke so etwas wie das Bühnenzentrum bildet, natürlich abgesehen von seiner Eminenz), Morrissey und Band stürzen sich mitten in eine merklich großangelegte Version von „This Charming Man“, angereichert mit den ungeliebten Breitwand-Rockismen von YEARS OF REFUSAL. Doch ein unsterblicher Song bleibt ein unsterblicher Song. Ähnlich verhält es sich mit „Billy Budd“, das im Anschluss gespielt wird und mich überrascht hätte, hätte ich nicht schon vorher in der Kölner Setlist gestöbert – getrübt wird die Freude dadurch nicht, handelt es sich doch um einen der schönsten Popsongs der letzten 15 Jahre. Allenfalls die erneute und nicht mehr abbrechende Tendenz zur Großleinwand fällt auf. Man möchte es ihm nicht anlasten, und auch nicht seiner Band, die perfekt spielt, jedes Riff, jeder Paukenschlag. Morrissey ist eben nicht mehr Cinecittà. Er ist jetzt Hollywood. Eine männliche Diva, die sich ihrer Divenhaftigkeit bewusst ist, ebenso wie sich Paul Weller seiner Funktion als „Elder Statesman of Britpop“ bewusst ist, nur dass Morrissey um die ihm eigene Eleganz weiß, die ihn alles tun lassen kann, was eigentlich nicht alle tun können, ohne ungestraft davon zu kommen. Seine Posen sind nie weniger als theatralisch, und selbst der obligate Bühnenstriptease (heute gleich zweimal), eigentlich ein kaum entschuldbarer Rockstar-Akt, älter als Morrissey selbst, gerät bei ihm zur mindestens weltumspannenden Geste.Allerdings bröckelt dort, wo Glanz und Glamour Einzug halten, die Glaubwürdigkeit. Lyrisch stagniert er, was auf YEARS OF REFUSAL, das an diesem Abend erwartungsgemäß die größte Aufmerksamkeit bekommt, mehr denn je ins Gewicht fällt; denn RINGLEADER OF THE TORMENTORS, das auffallenderweise mit keinem Song gewürdigt wird, hatte die Songs, die über jedweden Anflug nicht mehr zeitgemäßer Attitüde hinwegtäuschen konnten, die schier umwerfende Grandezza, die Melodien, den Pop. Niemand liebt ihn, nirgends fühlt er sich zuhause. Nur ist er nicht mehr der kauzige, von Isolation geprägte Mitt-20er, der er damals war, er ist ein gealterter Popstar, der geduldig dumme Publikumsfragen beantwortet, Geschenke annimmt, Hände schüttelt, scherzt, sein Mikrofon Pirouetten schlagen lässt. Was großartig ist, und Entertainment, aber eben – wer von den tausenden Menschen im Publikum wäre nicht bereit, ihn zu lieben, oder treffender: wer würde seine Zuneigung ablehnen, wie in „I’m Throwing My Arms Around Paris“, dem besten Song seiner aktuellen Platte, attestiert? Ohne außer acht lassen zu wollen, dass es verschiedene Arten von Liebe gibt. Doch er wirkt wie ein Mann, der seinen Biss nicht gänzlich verloren, dafür seinen Frieden im Rahmen seiner Möglichkeiten gefunden hat, der aber nicht vergessen hat, wofür sein Name in der Popkultur steht: für stilbewusstes Selbstmitleid aus der Ich-Perspektive.Trotz hoher Fokussierung auf sein letztes Werk und gänzlicher Ignoranz gegenüber RINGLEADER OF THE TORMENTORS, VIVA HATE und KILL UNCLE (was dann doch nicht allzu traurig ist) ist die Setlist ein wunderbarer Querschnitt durch sein Gesamtwerk, von Smiths-Tagen („Girlfriend In A Coma“, „I Keep Mine Hidden“, „Ask“, „How Soon Is Now?“, „Some Girls Are Bigger Than Others“) über Solowerk von YOUR ARSENAL bis YOU ARE THE QUARRY. Persönliche Highlights sind neben sämtlichem Smiths-Material und „Billy Budd“ ein unsagbar berührendes „Why Don’t You Find Out For Yourself?“ und eine aufpeitschende Version von „The Loop“, sowie die erste und einzige Zugabe des Abends, „First Of The Gang To Die“, im Laufe dessen sich Morrissey verabschiedet und seiner Band Raum zur Aufmerksamkeit gibt, indem er sie das Konzert allein und instrumental ausläuten lässt.Das Licht geht an, ich fühle mich geblendet. Während ich mich durch ein Parkplatzlabyrinth kämpfe, um mich mit meiner Mitfahrgelegenheit zu treffen, habe ich Zeit, den Abend in aller Schnelle Revue passieren zu lassen. Die kritische Distanz ist erst jetzt bereit, Euphorie zu weichen, und ich kann mir nicht recht erklären, weshalb. Vielleicht, weil ich das perfekte Morrissey-Konzert, im Rahmen eines perfekten Albums, schon 2006 erlebt habe. Vielleicht, weil das „rosarot“ meiner Fanbrille mit der Zeit einem hellen Karmin gewichen ist. Vielleicht, weil Morrissey einen letztendlich doch so leicht bekommt, mit jeder Bewegung, mit jedem gesungenen Wort, und ich schon wieder auf sein unvergleichliches Charisma hereingefallen bin. Vielleicht aber auch nur, weil es mit dem „danach“ so ein bisschen wie mit dem „davor“ ist, weil es erst jetzt Raum gibt, Eindrücke zu sortieren.Dort, wo ich wohne. Nach vier langen Stunden schließe ich die Wohnungstür auf, lege eine Smiths-CD ein, weiß genau, dass ich sowieso wieder „hingehen“ werde, bei seiner nächsten Tour, möglicherweise mit dem nächsten mediokren Album, und mache mir eine Pizza. Fleischlos. Soviel Respekt muss sein.

Siegfried Bendix – 17.06.2009