My Bloody Valentine


Wäre die Popwelt nicht so besessen von Zahlen und Daten, würde man den genialen Klangkünstler Kevin Shields vielleicht in Ruhe lassen. So aber wird seine Geschichte und die seiner Band My Bloody Valentine zu einem Drama. Mit Happy End.

Das Telefon schellt, der Boss ist dran. Kevin Shields weiß sofort, was ihm blüht. Er ist arg im Verzug, die neue Platte hätte längst fertig sein müssen. „Wann kommt die Platte?“ Shields schweigt. Der Boss schimpft und fleht. Alan McGee ist auf Entzug. Und fast pleite. „Am Ende schrie, drohte und weinte ich gleichzeitig“, erinnert sich McGee, Chef der Plattenfirma Creation Records, an diesen erinnerungswürdigen Anruf im Frühjahr 1991. „Vielleicht war es gut so, denn ab jetzt wusste der Typ, dass ich es ernst meinte.“ McGee legt auf, und Kevin Shields hört sich noch einmal an, was von LOVELESS, seiner zweiten Platte für Creation, bereits fertig war. Ihm fällt es schwer, sich in seinen eigenen Aufnahmen zurechtzufinden. Dutzende Gitarrenspuren liegen übereinander. Es ist alles zu viel. Zu kompliziert. Er blickt in sein Notizbuch mit den Aufzeichnungen über den Aufnahmeprozess, das Chaos ist groß. In fast 20 Studios hat er an den neuen Songs gearbeitet, viele hat er schon nach Stunden wieder verlassen, weil ihm die Ordnung der Verstärker nicht passte. Oder weil der Toningenieur eine falsche Bewegung machte, ein falsches Wort sagte. Vertrauen schenkt Kevin Shields in dieser Phase nur dem Produzenten Alan Moulder. Aber der hat irgendwann auch Besseres zu tun, als mit Shields von Studio zu Studio zu vagabundieren und den Perfektionszwang dieses Menschen zu ertragen.

Am liebsten hätte Kevin Shields die Brocken hingeschmissen. Ein Neustart vielleicht. Oder eine Karriere als Gastgitarrist in einer Ramones-Coverband. Die Ramones sind seine Lieblingsband. Bei denen ging immer alles so schnell, bei ihm dauert alles so unendlich lange. Er hinterfragt seinen Perfektionismus, sein miserables Zeitmanagement. Sein Fazit: Das Leben ist zu kurz, um die Dinge, die man gut kann, nicht auch perfekt zu machen. Und sowieso: Wer hat überhaupt diesen Zeitdruck in sein Leben gebracht? Er versteht sich als Künstler. Und hat es jemals jemanden gekümmert, wie lange Edvard Munch an seinem „Schrei“ gemalt hat? Längst verachtet Kevin Shields die Musikindustrie. Diese zahlen- und zeitgläubige Branche, die Verkäufe bejubelt und das Jahr in monetäre Kampfzonen einteilt wie ein Börsianer seine Börsenwoche. Hinschmeißen also? Geht nicht. Shields weiß, dass er nicht allein bestimmt. Er ist kein Maler, kein Schriftsteller. Er ist Chef einer Band, die bei einem Label unter Vertrag steht. „Wir haben uns dann halt ins Zeug gelegt“, sagte Kevin Shields Jahre später. „Ein paar Monate danach war das Album ja auch fertig.“ Ein paar Monate für den Endspurt. Eigentlich war vorgesehen, die ganze Platte in fünf Tagen fertig zu bekommen.

LOVELESS erscheint dann im Herbst 1991. Die Neunziger tun sich noch schwer. Michael Jackson führt mit „Black Or White“ die britischen Charts an, im Sommer tanzen alle zu Jason Donovans und Chers „The Shoop Shoop Song“. LOVELESS ist eine der Platten, die dem Jahrzehnt endlich auf die Sprünge hilft. Ein Stück Lärm, dem ein melodischer Magnet innewohnt, der allen, die ihren Kopf in diesen Krach stecken, die Sinne verdreht. Alternativer Rock, der wirklich anders ist. Musik, die man so noch nie gehört hat. Pop, gespielt von echten Individualisten. Nur ein paar Wochen zuvor erscheint eine weitere Platte dieser Qualität: NEVERMIND von Nirvana. Die Neunziger haben begonnen.

Die Leute staunen nicht schlecht, als Anna Quimby ihre Flöte auspackt. Man hat auf der „Loveless“-Tour von My Bloody Valentine mit einem Schwarm von Gitarristen gerechnet, um die immense Klangfülle des Albums auf die Bühne zu bringen. Aber nicht mit einer Flötistin. Dann spielt die Band „You Made Me Realise“, eine ältere Single aus dem Jahr 1988, und Anna Quimby beginnt zu spielen. Die hohen Frequenzen stapeln sich, Töne bersten in der Luft. Oskar Matzerath wäre vor Neid verblasst. Zum Finale von „You Made Me Realise“ halten Kevin Shields, Anna Quimby und Bilinda Butcher den Schlussakkord zehn Minuten lang. Ist das noch Musik, oder schon eine Waffe? Sean O’Hagan, Gründer der High Llamas, fasst seine Erfahrung von damals zusammen: „Kevin Shields hatte seinen Tinnitus schon. Nun war das Publikum dran. Der Effekt war so gewaltig, dass die ersten Reihen einen Zustand annahmen, den man nur als anderen Bewusstseinszustand bezeichnen kann, halb schamanisches Ritual, halb kollektives Delirium.“ Und der Journalist Mark Kemp schreibt über die Reaktion von Seele und Körper: „Nach 30 Sekunden stieg das Adrenalin, die Leute schrieen, hoben ihre Fäuste. Nach einer Minute wunderte man sich, was da oben geschah. Nach einer weiteren Minute war man vollkommen durcheinander. Der Lärm begann zu schmerzen. Aber der Lärm ging weiter. Nach drei Minuten rang man nach Luft. Nach vier Minuten überschwemmte einen eine Welle der Beruhigung.“ Die Presse nennt das Finale von „You Made Me Realise“ den „Holocaust-Teil der Show“. Später platziert das „Mojo“-Magazin My Bloody Valentine auf Platz zwei seiner Liste der lautesten Rockbands aller Zeiten. Der Titel des Features lautet „The Grateful Deaf“, den ersten Platz belegen die Proto-Heavies Blue Cheer. Kevin Shields jedoch hält bis heute nicht viel von der Theorie, es handle sich bei My Bloody Valentine um eine brutal laute Band. „Geh doch mal nach draußen und halt dein Ohr an eine viel befahrene Straße! Oder höre nur mal eine Bluesrockband im Pub.“ Zudem geht ihm gegen den Strich, dass laute Musik generell mit Aggressivität gleichgesetzt wird. „Bei uns stimmt das nicht. Wir spielen sinnlich. Wenn wir besonders laut spielen, kann ich beobachten, wie sich kleine Wellenbewegungen im Publikum bilden, weil die Leute in diesem Moment von bestimmten Frequenzen getroffen werden.“

Die eigentliche Überraschung an dieser Aussage: Kevin Shields beobachtet das Publikum. Eine Stichprobe aller verfügbaren You-Tube-Clips hat nämlich ergeben, dass er – wenn er singt – die Augen geschlossen hat oder – wenn er nicht singt – nach unten guckt. Auf seine Gitarre und auf seine Effektgeräte auf dem Boden. Nicht auf seine Schuhe. Trotzdem: My Bloody Valentine sind und bleiben die Eltern der Shoegazer. So wie Nirvana die Urväter des Grunge sind. Kevin Shields bliebe auch ein Shoegazer, wenn er mit bloßen Füßen aufträte. Aber die spannende Frage ist sowieso eine andere: Nachdem My Bloody Valentine mit ihrem 88er-Album ISN’T ANYTHING und ihrer EP „You Made Me Realise“ die Grundkoordinaten des Genres setzten, gründete sich eine unüberschaubare Anzahl von Bands, die genauso klingen wollten. Keine hat ihr Ziel erreicht. Warum eigentlich nicht? „Weil es verteufelt schwer ist.“ Sagt Kevin Shields. Das Zitat stammt aus einem längeren Interview, das er 2007 dem ehemaligen The-Make-Up-Sänger Ian Svenonius für dessen Gesprächsreihe „Soft Focus“ gibt. Damals sind nach LOVELESS bereits 16 Jahre ohne ein weiteres Album von My Bloody Valentine vergangen. Heute wissen wir: Mehr als fünf weitere Jahre ziehen ins Land, bis am ersten Samstag im Februar 2013 plötzlich das Album MBV zum Download auf der Bandhomepage zur Verfügung steht. Zwischen LOVELESS und MBV liegen also mehr als 21 Jahre. Eine sehr lange Zeit. Aber wenn man bedenkt, wie verteufelt schwer es ist, so eine Musik zu machen, relativiert sich die Sache.

Jede Shoegazer-Platte, die im Laufe dieser 21 Jahre erschienen ist, erhärtet den Verdacht, dass Meisterwerke dieses Genres nicht vom Himmel fallen. Es waren gute Alben darunter. Einige sehr gute. Viele schwache. Sehr viele unnötige. Aber keines, wirklich keines spielt mit LOVELESS in einer Liga. Das soll kein Vorwurf sein an Slowdive und Ride, Chapterhouse und Curve, die Engineers und Ulrich Schnauss. Sie haben sich alle Mühe gegeben. Haben das Genre mit Ideen belebt und brillante Momente erschaffen. Aber diese besonderen Wellenbewegungen im Publikum haben sie allesamt nicht auslösen können. Dabei ist es auf dem Papier so leicht, Shoegazer-Musik zu spielen. Offene Akkorde durchs Hallgerät schicken, den Verstärker ordentlich aufdrehen, dazu unkonkrete Lyrics hauchen. Wie aber macht es Kevin Shields? Offene Akkorde spielt auch er. Sein Trick ist das Tremolo, dieser kleine Hebel an der E-Gitarre, der die Spannung der Saiten verändert – und damit auch ihren Ton. Das Tremolo hat in der Geschichte der Rock-und Popmusik eine lange Geschichte: In den frühen Sechzigern verzierten die Shadows auf diese Weise ihren Twang, später erweiterten Jimi Hendrix, Dave Gilmour oder Steve Hackett von Genesis das Klangspektrum ihrer elektrischen Gitarren, indem sie das Tremolo mit Effekten koppelten und ihr Instrument damit weinen und tanzen ließen.

Man muss an dieser Stelle aufpassen, Kevin Shields nicht in die Abteilung der Gitarrenakrobaten zu verfrachten, die ihr Instrument sportlich betrachten. „Ich spiele meine Gitarre nicht im herkömmlichen Sinn“, sagt er. „Ich nutze sie, um einen Klang herzustellen.“ Sein Ansatz ist intuitiv: Den Hebel hat er weiter oben an der Gitarre befestigt; er hält ihn beim Spielen in der Hand, setzt ihn unbewusst ein. Es gibt Videoclips, da sieht er aus, als tanze er mit seiner Gitarre einen körperlosen Tanz. Und die Gitarre führt. Auch nutzt er keine Armada an Effektgeräten. Neben Verzerrern schickt er seine Gitarre durch ein Reverse-Reverb, ein rückwärts laufendes Echo. Dieser Effekt hat die Eigenart, dass man ihn so gut steuern kann wie eine Nussschale im Taifun. Shields gefällt dieser Eigenwille, und dennoch versucht er, die Kontrolle zu behalten. Darum dauert es so lange, bis ein Song von My Bloody Valentine fertig ist. Aber wenn er mal fertig ist, dann klingt er wie nichts anderes auf der Welt.

Geboren und aufgewachsen ist Kevin Shields in New York, als ältestes von fünf Kindern einer irischstämmigen Familie. 1969, da ist er sechs Jahre alt, sieht er eine wilde Teenagerband, die in einer Garage Songs der Rolling Stones und der Beatles spielt. Grandioser junger Krach, die British Invasion in New York. Shields mag diesen Lärm. Doch er merkt auch, wie die Erwachsenen über den Krach und die langen Haare der Jungs aus der Garage schimpfen. Das New York Ende der Sechziger kann ganz schön spießig sein. Daher empfindet er es als Befreiung, als seine Familie 1973 zurück nach Dublin zieht. „Ich war zehn Jahre alt und wusste, wohin mich mein Weg führen würde“, erinnert er sich. Sechs Jahre vergehen, dann werden die Weichen gestellt. Bei einer Sportveranstaltung trifft er Colm Ó Cíosóig, einen groß gewachsenen Jungen, drei Jahre jünger als Shields, der sich für einen guten Drummer hält und eine Band gründen will. Man nennt sich The Complex, und um zu verstehen, wie man das macht, auf der Bühne Gitarre zu spielen, sieht sich Shields die Ramones an, die 1979 in Dublin auftreten. Er beobachtet Johnny Ramone, der nichts Kompliziertes macht – dabei aber unglaublich viel Krach erzeugt. Also kopieren The Complex die Ramones: einfache Songs, möglichst schnell und laut. Als die Achtziger beginnen, ändert die Clique regelmäßig Namen und Besetzung. 1983 formiert sie sich zu My Bloody Valentine. Die Band reist durch Europa, geht schließlich nach Berlin und spielt dort eine Mini-LP ein: THIS IS YOUR BLOODY VALENTINE, eine Sammlung psychedelischer Gothic-Blues-Stücke, inspiriert von der düsteren Szene der geteilten Stadt, die von Nick Cave und den Einstürzenden Neubauten geprägt wird.

Eine Warnung an alle, die diese Platte jetzt unbedingt haben wollen: Sie ist nicht gut. Es singt noch der extrovertierte Dave Conway; mit viel Einsatz versucht er, Nick Cave und Ian Curtis zusammenzubringen. Nach dem Berlin-Abenteuer und einigen weiteren EPs verlässt Conway schließlich die Gruppe, und Shields wird eher unfreiwillig zum neuen Bandchef. Er holt die schüchterne Bilinda Butcher als Sängerin und Gitarristin hinzu, und weil er von Sängern die Nase voll hat, stellt er sich selber ans Mikro. Bassistin ist schon seit 1986 die coole Debbie Googe – und was das eigentlich Unglaubliche ist: Trotz aller Irrungen und Wirrungen spielt die Band bis heute in dieser Besetzung. Was müssen das für geduldige Menschen sein, die einem Chef wie Kevin Shields so viel durchgehen lassen. Auf zwei weiteren EPs suchen die neuen My Bloody Valentine ab 1987 ihren Sound. Den Namen behalten sie, weil ihnen kein besserer einfällt. Dann begegnen sie Alan McGee, doch das erste Treffen steht unter keinem guten Stern. My Bloody Valentine und McGees Band Biff Bang Pow! sollen sich für eine Clubshow die Bühne teilen. Als der Creation-Boss hört, dass seine Band zuerst spielen soll, platzte dem Rotschopf der Kragen: „Wir als Support für diese Anorak-Band?“ Nach dem Gig ist er schlauer: Während der verhallte Indie-Pop seiner Gruppe von der Vergangenheit erzählt, hat er mit My Bloody Valentine die Zukunft gesehen. Backstage holt er sie auf sein Label; noch im selben Jahr erscheint ISN’T ANYTHING. Dieses eine und einzige Mal geht alles sehr schnell.

Drei Jahre später, als das zweite Album, LOVELESS, endlich in den Läden steht, ist von McGees Plattenfirma nicht mehr viel übrig. Der Boss hat in der Not die Hälfte des Labels an Sony verkauft. Nicht ausschließlich wegen der Kosten, die My Bloody Valentine verursacht haben. Aber auch. McGee bestimmt, dass es keine weitere My-Bloody-Valentine-Platte auf Creation geben wird. „Er oder ich, einer muss gehen!“ Also fliegt Shields – und pflegt fortan das Leben eines Sonderlings. Gerüchte über diverse Nervenzusammenbrüche werden nur halbherzig dementiert. Später gesteht Shields: „Wer als verrückt gilt, muss sich nicht erklären.“ Sicher ist, dass er sich monatelang in seinem Apartment einschließt, um ihn herum Dutzende Chinchillas, im Videorekorder schlechte Filme, auf dem Teller Dosenfutter. Mit Kevin Shields haben nun auch die Neunziger ihren Brian Wilson, ihren Syd Barrett. Das Major-Label Island startet 1992 den ehrbaren Versuch, My Bloody Valentine zurück in die Spur zu bringen. Die Firma zahlt einen Vorschuss von 500 000 Pfund; Shields investiert das Geld in ein Heimstudio. Nach einem halben Jahr ist die Kohle weg, Island überweist ihm acht Jahre lang 5 000 Pfund im Monat. Es sind die Neunziger, die Industrie schwimmt noch im Geld. Als die Island-Leute Kevin Shields Ende des Jahrzehnts ein letztes Mal besuchen, sind nicht mal Anfänge einer neuen Platte erkennbar. Island stellt die Zahlungen ein, Shields kümmert es wenig. „Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, in diesem Jahrzehnt eine neue Platte zu veröffentlichen“, gesteht er. Es regieren Grunge und BritPop, die elektronische Musik teilt sich in unzählige Strömungen. Der Ruhm von My Bloody Valentine verblasst, der Zeitgeist bringt wenig Verständnis auf für einen Mann, der die Regeln missachtet, die Zeit ignoriert, die Standards bricht. „Wenn Liam Gallagher der perfekte Rock’n’Roll-Star ist, dann ist Kevin Shields der perfekte Künstler“, sagt Alan McGee. Ob er daher noch einmal mit ihm zusammenarbeiten würde? „Nur, wenn mir der Herrgott Eier aus Stahl schenkt.“

Täuscht der Eindruck, dass das soziale Netzwerk am Abend des 2. Februar 2013 seltsam flimmert? Zwischen Nichtigkeiten über Katzen, das elendige Wetter und die erwartbaren Fußballergebnisse haben gute Freunde aufregende Dinge gepostet: Das neue Album von My Bloody Valentine, jetzt kann man es herunterladen, einfach auf die Bandhomepage gehen. Mehr als 21 Jahre lang hat Kevin Shields die Leute warten lassen. Jetzt macht er seine jüngsten Ankündigungen wahr: Die neuen Songs sind fertig. Und sie sind zu haben. Dazu eine Tour, Festivalauftritte, beinahe das volle Programm. Kevin Shields hat die 21 Jahre ganz gut weggesteckt. Die Haare noch immer lang, aber grau und fisselig. Aber er wirkt zufrieden. Im Mai wird er 50, seine Bandkollegen sind ihm treu geblieben. Bilinda Butcher, mit der er Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger ein paar Jahre lang zusammen war. Debbie Googe, die My Bloody Valentine 1996 verlassen hatte, mit der traurigen Begründung, sie sei seit Jahren nicht mehr glücklich gewesen. Und selbstverständlich Colm Ó Cíosóig, der alte Kumpel aus Dublin, mit dem Shields seit 1979 in Bands zusammenspielt. Dass Kevin Shields nicht im Chaos untergegangen ist, hat sicherlich mit diesen treuen Leuten aus seiner Band zu tun. Außerdem mit seiner Reputation als Künstler: Als Island den Geldhahn zudreht, findet er schnell Jobs als Gitarrist und Produzent, Remixer und Songwriter. Die größte Hilfe jedoch erhält Kevin Shields seit vielen Jahren von den Indie-Kids. Von jungen Menschen mehrerer Generationen, die immer wieder LOVELESS nachkaufen, weil sie ein Gespür dafür haben, was eine wichtige Platte ist. Viele von ihnen gründen dann selber Shoegazer-Bands. Kevin Shields lebt heute irgendwo in London, aber er bekommt mit, wie sich immer neue Musiker auf ihn beziehen. Wie sich eine Shoegazer-Galaxie bildet, und My Bloody Valentine sind die Sonne. Er entscheidet, dass die Sonne neu erstrahlen soll, und nimmt ab Mitte der Nullerjahre eine neue Platte in Angriff, MBV.

Zwischen zwei Songs auf einem der Konzerte, die My Bloody Valentine seit vier Jahren spielen, platzt einem Fan im Januar 2013 der Kragen. „Wann kommt die Platte?“ Er schimpft und fleht. „Vielleicht in zwei oder drei Tagen“, sagt Kevin Shields. Einige Leute im Publikum lachen, einige johlen. Er hat sich dann ins Zeug gelegt. Fünf Tage später war das Album da. Geht doch.

Albumkritik S. 75

INSPIRIERT VON

PHIL SPECTOR

THE BEACH BOYS

SONIC YOUTH

THE RAMONES

THE JESUS & MARY CHAIN

JOE MEEK

HABEN INSPIRIERT

RIDE

SLOWDIVE

SWERVEDRIVER

MAZZY STAR

SIGUR RÓS

M83

ZWISCHEN DEN JAHREN

Ein Mixtape mit zehn Stücken von My Bloody Valentine/Kevin Shields aus der traurigen Zeit zwischen 1991 und 2013:

My Bloody Valentine: „We Have All The Time In The World“

Coverversion des Songs von Louis Armstrong, von der Benefiz-Compilation PEACE TOGETHER (1993)

La La La Human Steps: „2“

Lärmcollage für eine Choreografie der kanadischen Avantgarde-Tänzer La La La Human Steps (1995)

My Bloody Valentine: „Map Ref 41°N 93°W“

Coverversion eines Songs von Wire, von der Tribute-Compilation WHORE: TRIBUTE TO WIRE (1996)

Yo La Tengo: „Autumn Sweater (Kevin Shields Remix)“

Breakbeat-Variation des hypnotischen Songs, zu finden auf der Yo-La-Tengo-Werkschau PRISONERS OF LOVE: 1985-2003 (2005)

Mogwai: „Mogwai Fear Satan (My Bloody Valentine Remix)“

Epischer Remix des sowieso schon epischen Finales der ersten Mogwai-Platte, zu finden auf der Remix-Zusammenstellung KICKING A DEAD PIG (1998)

Primal Scream: „MBV Arkestra (If They Move Kill ‚Em)“

Gitarre-und-Beat-Collage von Kevin Shields, zu finden auf dem Album XTRMNTR der ehemaligen Creation-Kollegen Primal Scream (2000)

Kevin Shields: „City Girl“

Der beste von vier neuen Songs für den Soundtrack zu Sofia Coppolas LOST IN TRANSLATION (2003)

The Go! Team: „Huddle Flash (Kevin Shields vs. The Go! Team)“

Kevin Shields mischt für die B-Seite der „Ladyflash“-Single zwei Songs des Indie-Dance-Kollektivs aus Brighton zusammen (2004)

Patti Smith &Kevin Shields: „The Coral Sea: Performance I, Part I“

Patti Smith trägt aus ihrem Lyrikband vor, Kevin Shields untermalt die Worte mit Drone-Gitarren (2008)

Le Volume Courbe feat. Kevin Shields: „I Love The Living You“

Zusammenarbeit mit der Französin Charlotte Marionneau, zu finden auf einer Tribute-Platte für die 13th Floor Elevators, THE PSYCHEDELIC SOUNDS OF THE SONIC CATHEDRAL (2010)

I. DIE ZWEI MEILENSTEINE

ISN’T ANYTHING (1988)

Eingespielt in nur zwei Wochen. Dementsprechend wenig hat die Band geschlafen, den Gesang hat man in der Regel um halb acht Uhr morgens aufgenommen, und so klingt er dann auch: Halbschlafmelodien, wie aus Träumen gerissen. Songs wie „Sueisfine“ oder „You Never Should“ haben einen echten Pop-Punk-Punch, die wolkigen Tracks „Lose My Breath“ und „No More Sorry“ definieren ein neues Genre, das bald Shoegazer heißen wird. Der Hit: „Feed Me With Your Kiss“. Der ungewöhnlichste Song: Der Auftakt „Soft As Snow (But Warm Inside)“ mit funky Bass und Kevin Shields auf den Spuren von Paddy McAloon von Prefab Sprout.

LOVELESS (1991)

Eingespielt in zwei Jahren. Dementsprechend schlecht haben die Leute von Creation Records geschlafen. Wenn man LOVELESS heute aufmerksam hört, möchte man die pathologische Akribie von Kevin Shields allerdings ausdrücklich begrüßen. Alles passt: Die Wucht der Gitarren kratzt kein bisschen an der Hoheit von Bilinda Butchers Gesangsmelodien, die Tremolo-Gitarren finden Harmonien, die es nach westeuropäischen Maßstäben gar nicht geben dürfte. Der Hit: „Only Shallow“. Der ungewöhnlichste Song: „To Here Knows When“, zuerst eine Art irisches Drone-Reel zu Madchester-Beats, dann eine Bilinda-Butcher-Melodie aus dem atomaren Märchenwald.

II. DIE NON-ALBUM-SAMMLUNG

EP’S 1988-1991 (2012)

Alle EPs und Singles für Creation Records, dazu sieben bislang unveröffentlichte Songs. Bis heute unfassbar ist die Wucht des Titelstücks der „You Made Me Realise“-EP: Hardcore im Wolkenkuckucksheim, mit Tätowierungen aus Karamell. Ältere Stücke atmen noch den Geist der Labelfreunde The Jesus & Mary Chain, die Songs der EPs „Tremolo“ und „Glider“ weisen bereits auf LOVELESS hin. An anderer Stelle experimentiert Shields mit Ethno-Rhythmen, persifliert beim „Moon Song“ Fahrstuhlmuzak oder jagt für „Instrumental No. 2“ einen Beat von Public Enemy durch den Sampler.

III. DIE NEUE PLATTE

MBV (2013)

Ein Album in drei Teilen: Klassisches (und wohl auch recht altes) Material im ersten Drittel, zwei erstaunlich poppige Songs im Herzen des Albums, dann drei Geniestreiche, in denen der Wahnsinn wohnt. „Another Way In“ ist Shields‘ Version von Brian Wilsons Vision, aus mehreren exzellenten Songs einen unglaublich guten Song zu konstruieren. Dass man für so was ein paar Jahre braucht, sollte keinen verwundern. Schließlich folgt auf den gewaltigen Baukastenpunkrock „Nothing Is“ das wirre „Wonder 2“: Alle Stimmen, die Kevin Shields jemals in seinem Leben gehört hat, tanzen zu Flugzeuglärm und Helium-Drum’n’Bass.

IV. DAS FRÜHWERK

Man ist natürlich neugierig auf die Songs aus der Phase, als Kevin Shields nur Gitarrist war und der erste Sänger Dave Conway das Sagen hatte. Hat man die Platten in den wilden Ecken des Netzes oder in sehr guten Second-Hand-Läden gefunden, folgt schnell die Ernüchterung: Die Mini-LP THIS IS YOUR BLOODY VALENTINE klingt nach The Birthday Party ohne Drogen, Tod und Teufel; die EPs „Geek!“ und „The New Record By My Bloody Valentine“ fügen dem Debüt wenig Neues hinzu, mit „Sunny Sundae Smile“ gelingt der Band 1987 immerhin ein klasse Indie-Punk-Hit. Nachdem Conway die Band verlassen hatte, wechselte Shields ans Mikro und rekrutierte Bilinda Butcher als weibliche Stimme. Die EP „Strawberry Wine“ und das Mini-Album ECSTASY (beide 1987) bieten den herkömmlichen Indie-Sound jener Jahre, vieles erinnert an die schottischen Pastels. Die beiden Platten sind zusammengefasst als Compilation ECSTASY & WINE erhältlich.

O-TON KEVIN SHIELDS

„Mein ultimatives Hassbild sind Rockertypen aus den Siebzigern, die in zu engen Hosen auf ihren Gitarren herumdudeln.“

„Von 1993 bis 1995 bin ich komplett in die Drum’n’Bass-Welt eingetaucht. Von dort aus habe ich beobachtet, wie die Mainstream-Musik einen gewaltigen Rechtsruck erlebte. Anfang der Neunziger schien es noch so, als könne Musik die Welt verändern. Kurz danach verlor sie dramatisch an positiver Energie.“

„Songs von Led Zeppelin handeln davon, Sex haben zu wollen. Wir singen darüber, es zu tun!“

FUN FACTS

– Der Legende nach antwortete Kevin Shields auf die Frage seines Labels, wann denn endlich mit der neuen Platte LOVELESS zu rechnen sei, mit Songtiteln des dramatisch langsam entstehenden Albums: „Soon“,“Sometimes“, „When You Sleep“,“To Here Knows When“.

– Obwohl der gleichnamige Horrorfilm zwei Jahre vor der Bandgründung von My Bloody Valentine in die Kinos kam, behaupten alle Gründungsmitglieder, dieses Werk nicht gekannt zu haben. Zuvor war man übrigens unter dem hübschen Namen Burning Peacocks aufgetreten.

– Kevin Shields‘ Lieblingssong der vergangenen Jahre ist ein obskurer, von Soundvisionär Joe Meek produzierter Beathit der Honeycombs aus dem Jahr 1965: „Have I The Right?“ mit einem fulminantem Stampfrhythmus, gespielt von Schlagzeugerin Ann „Honey“ Lantree.

– Eine wirklich wahre Geschichte: 1986 machte Kevin Shields einen Hörtest, und der Hörakustiker sagte ihm: „Sie spielen in einer Rockband? Sie sind jetzt schon halbtaub, brauchen ein Hörgerät und sollten Ihre Karriere beenden!“ Nur durch Zufall erfuhr Shields, der damals noch tadellos hörte, dass es sich bei dem Hörakustiker um ein ehemaliges Mitglied von Joe Meeks Band The Tornados handelte. Der Mann wurde von seinem wahnsinnigen Bandleader so lange akustisch misshandelt, dass er sich später an der Rockmusik rächte und jedem Musiker eiskalt einen Hörschaden andichtete. Shields: „Seitdem bewundere ich Joe Meek noch mehr. Ich mag die dunkle Seite seiner Persönlichkeit.“

– Konservativ geschätzt kostete das LOVELESS-Album das Label Creation Records rund 140 000 britische Pfund. Das ist viel. Aber nicht viel mehr, als die Plattenfirma Primal Screams SCREAMADELICA kostete (geschätzte 130 000 Pfund). Der Unterschied: Während die alten Kumpels Alan McGee und Bobby Gillespie zusammen Spaß hatten, verstörte das verstörte Genie Kevin Shields den dauerbreiten Labelboss mit seinem nerdig-abstinenten Perfektionismus so sehr, dass er ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.

– Kevins jüngerer Bruder Jimi Shields ist Schlagzeuger und spielte unter anderem bei der irischen Indie-Rockband Rollerskate Skinny. Für einige Songs von MBV spielte Jimi Shields das Pilotschlagzeug, bevor am Ende Colm Ó Cíosóig übernahm.

– Sängerin Bilinda Butcher sagte jüngst im Interview, es gebe genug Material, um sehr schnell ein nächstes neues My-Bloody-Valentine-Album zu veröffentlichen. Wer’s glaubt

Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 23 – Pavement