Nine Inch Nails


Der Automatisierung, dem Stadtlärm mit mechanisch anmutender Musik begegnen: Nine Inch Nails haben Industrial einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Genie dahinter ist ohne Frage Bandgründer Trent Reznor. Er selbst hat sich über die Jahre zu seiner eigenen kleinen Ein-Mann-Musikindustrie gewandelt.

Am 13. August, der Mond hatte sich längst hinter gebrochene Wolken zurückgezogen, betraten Nine Inch Nails vor 350 000 Menschen die Bühne von Woodstock, New York. Wobei „betreten“ vielleicht das falsche Wort ist. Die Musiker schwankten zögernd aus düsteren Trockeneisnebeln, scheinbar völlig fertig, bevor noch die ersten metallischen Töne von „Pinion“ durch die Nacht sägten. An ihren hageren Körpern klebte noch feucht oder schon angetrocknet der Matsch wie ein Panzer. Wie Untote sahen sie aus, dabei aber auch nicht anders als das Publikum zu ihren Füßen. Das folgende Konzert, eine unheilige Messe aus Blut, Schweiß, Schmerz, Euphorie und zersplitterndem Equipment, gilt heute als das beste, das diese Gruppe jemals gegeben hat -obwohl Trent Reznor selbst es für einen seiner schwächsten Auftritte hält. Schließlich gab am Ende, während „Happiness Is Slavery“, sein an einem kleinen Kran befestigtes Keyboard den Geist auf. Reznor schüttete daraufh in eine Wasserflasche über der Tastatur aus, bevor er das arme Gerät durch gezielte Axtschläge mit seinem Mikrofonständer förmlich hinrichtete. Gewalt gegen sich selbst gehörte immer schon zum Programm von Nine Inch Nails. Und Gewalt gegen Sachen: „Wenn ein Instrument versagt“, erklärte Reznor später einmal, „dann muss es den ultimativen Preis zahlen.“

Bevor sie die Bühne von Woodstock betraten und das Konzert zum 25-jährigen Jubiläum des Originals von 1969 zu ihrem eigenen Konzert machten, hatten Nine Inch Nails sich in der überschaubaren „Szene“ bereits einen Namen gemacht. Als sie die Bühne 85 Minuten später wieder verließen, existierte diese „Szene“ nicht mehr. Denn die Band war erstmals einer ganzen Nation ins Bewusstsein getreten, die den Auftritt millionenfach zu Hause vor den Fernsehern verfolgt hatte. Kann sein, das Grunge soeben klanglos untergegangen war. Aber Leidenschaft, Selbsthass und kompromisslose Musikalität hatten überlebt in einer Gruppe, die an diesem Abend erst richtig zur Welt kam. Mit einem Frontmann, der keineswegs den Eindruck machte, sonderlich alt werden zu können. Freilich kamen NIN nicht aus dem Nichts. Deshalb sollte die Geschichte vielleicht schon früher ansetzen.

Schreiben wir also das Jahr 1986, auch wenn es kein Vergnügen ist, das Jahr 1986 zu schreiben. Wir befinden uns inmitten einer musikalischen Wüste namens „Achtzigerjahre“. Ganz gleich, was diesem traurigen Jahrzehnt nachträglich für eine glamouröse Größe angedichtet werden mag – Slam Bamboo gehörten sicher nicht dazu, nicht einmal als Geheimtipp. Dabei hatte sich das Quintett in seiner Heimat, dem Großraum von Cleveland am Eriesee, durchaus schon einen gewissen Namen gemacht, als es ins lokale Fernsehen eingeladen wurde. Auf der Bühne stehen an diesem denkwürdigen Abend fünf fragwürdige Figuren, die man als „bunte Truppe“ bezeichnen darf. Vor allem der Sänger fällt auf durch heftiges Armwedeln, sein goldfarbenes Jackett, das Kassengestell auf der Nase und eine Frisur auf dem Kopf, die jeder Beschreibung spottet. Slam Bamboo spielen „House On Fire“, ein harmloses Stück Synthie-Pop. Dabei steht hinter den Keyboards ein Typ, der wegen seiner schwarzen Haare und den schwarzen Klamotten vor dem schwarzen Hintergrund kaum zu erkennen ist.

Es ist Trent Reznor, der heute fast 17 Millionen Tonträger verkauft, als solitäres Genie gilt und der Rockmusik zum entscheidenden Zeitpunkt einen ganz entscheidenden Drall gegeben hat. Damals war er gerade 21 Jahre alt, es sind seine ersten Gehversuchen als professioneller Musiker. Sonderlich wohl scheint er sich -anders als der Sänger – auf dieser Bühne nicht zu fühlen. Noch während des Interviews, das der ölige Moderator anschließend mit dem Sänger führt, sieht man ihn aus dem Bild schleichen. Dabei wendet sich der Moderator noch einmal speziell an „den jungen Mann“ im Hintergrund, weil er bei einer anderen Sendung kleinen Kindern gezeigt hat, wie „Synthesizer und andere Sachen“ funktionieren. Reznor nickt nur verhuscht wie einer, der hofft, dass der Onkel seinem dunklen Geheimnis nicht auf die Schliche kommt. Dabei war, bis auf seine Seele vielleicht und sicher seine Farbenwahl, zu jener Zeit noch nichts Dunkles an dem „jungen Mann“.

Reznor ist in idyllischen Verhältnissen im ländlichen Pennsylvania aufgewachsen. Keine reiche Familie, aber doch eine wohlhabende – ein geschäftstüchtiger Vorfahre hatte im 19. Jahrhundert die „Reznor Company“ für Heizungen und Klima-Anlagen gegründet, unscheinbare Produkte, ohne die allerdings die Urbanisierung vor allem des tropischen amerikanischen Südens undenkbar gewesen wäre. Trent war noch keine vier Jahre alt, da verließ der Vater die Familie und ließ sich scheiden. Weil die Mutter mit zwei Kindern und Job überfordert war, behielt sie nur Trents kleine Schwester bei sich – und gab ihren Sohn in die Obhut der Großeltern.

Hieraus könnte man nun trefflich den Mythos einer zerrütteten, wenn nicht sogar traumatischen Kindheit stricken -wenn nicht Reznor selbst später immer betont hätte, wie idyllisch seine Kindheit und Jugend gewesen sei. Nicht zuletzt deshalb, weil seine Großmutter die musikalischen Interessen des Kindes erkannte und früh förderte. In der Schule lernte Trent Saxofon, Tuba und Klavier – Letzteres ein Instrument, das er bis heute nicht aufgegeben hat. Neben den regelmäßigen Pianostunden investierte er seine Zeit in die Schulcombo und ins Theater. Zu seinen frühesten Auftritten des Jugendlichen – damals hörte er Kiss und hatte gerade David Bowies LOW entdeckt -zählt die Rolle des Judas in einer Auff.shortührung von „Jesus Christ Superstar“. Schwer vorstellbar, dass ihn diese Figur nicht beeinflusst hat, zumal der Text fast schon klingt wie von Nine Inch Nails: „I have been spattered with innocent blood /I shall be dragged through the slime and the mud“.

Nach der Schule übersiedelt Reznor nach Cleveland, wo er sich an der Universität für „Computer Engineering“ einschreibt – nicht ohne seine musikalischen Interessen zu vergessen. Er schließt sich als Keyboarder, der sich mit neumodischen „Synthesizern und anderen Sachen“ auskennt, verschiedenen Bands an: The Urge, The Innocent, Lucky Pierre und eben Slam Bamboo. Bei keiner dieser Gruppen wurde er wirklich alt, meistens trieb es ihn schon nach ein paar Monaten weiter. Vielversprechender war da sein Engagement bei Exotic Birds, wo er an der Seite von Andy Kubiszewski (der später mit Stabbing Westwards erfolgreich war und zuletzt das Russinnen-Duo t.A.T.u. produzierte) sogar im Vorprogramm von Culture Club auftrat – und in einer heiteren Komödie mit Michael J. Fox und Joan Jett. Der Film heißt „The Light Of Day“, und Reznor ist hier in einer winzigen Nebenrolle zu sehen, erst am Flipper und später auf der Bühne.

Zu dieser Zeit arbeitete Trent Reznor hauptberuflich in einem örtlichen Tonstudio als Ingenieur. Vom Besitzer hat er die Erlaubnis, in seiner freien Zeit an eigenem Material zu arbeiten. So entstehen, während er auf der Bühne noch fröhlichen Bubble-Gum-Synthie-Quatsch verzapft, über mehrere Monate in langen Nächten eine Reihe von Demos, die 1989 auf PRETTY HATE MACHINE zusammengefasst werden sollten – das legendäre Debüt einer Gruppe, die im Kern nur aus Reznor selbst bestand, auch wenn hin und wieder Mietmusiker wie Chris Vrenna eigene Akzente setzen konnten. Den Namen hatte sich der Künstler selbst ausgedacht, weil er ausreichend bedrohlich klang, einen enormen Assoziationsraum (Jesus! Horrorfilme!) öffnete und den „Zwei-Wochen-Test“ überstand, also auch nach 14 Tagen noch halbwegs gut klang.

Und wie klang die Musik, die da noch kommen sollte? Die Legende will, dass Nine Inch Nails den Industrial in den Mainstream überführt hätten. Nicht ohne Eigennutz erklärte Genesis P-Orridge von den Industrial-Pionieren Throbbing Gristle, Trent Reznor habe „die Öffentlichkeit dazu gebracht, endlich Industrial zu verstehen“. Das ist nicht einmal die halbe, sondern höchstens ein Viertel der Wahrheit. Reznor hat früh Ministry und Throbbing Gristle gehört, Gruppen also, die auf die akustischen Zumutungen der Moderne -Verkehr, Automatisierung, Städte -mit einer mechanisch anmutenden Musik reagierten: Industrial. Nun paarten zwar Nine Inch Nails stellenweise ebenfalls Elektronik mit Härte frei von allen menschlichen Regungen, stellten dies aber in den Dienst eines neu formulierten Punk-Gestus mit – und jetzt wird’s langsam absurd – musikalischen Wurzeln im klassischen Rock. Eine von Reznors erklärten Lieblingsalben ist das allseits unterschätzte THE WALL von Pink Floyd. Wie wir gesehen haben, wurde die Wiege dieser Musik in den Achtzigerjahren geschaukelt, kann also ihre schnöde Synthie-Pop-Vergangenheit nicht leugnen. Es ist, wenn man so will, die dunkle Unterseite einer Musik, deren polierte Oberfläche ein ganzes Jahrzehnt dominiert hatte.

Der Unterseite sollten nun die Neunzigerjahre gehören. Für die Arbeit an seinem zweiten Album suchte Reznor lange nach einem Haus in Beverly Hills, und als er dann endlich eines fand, war es jenes, in dem der Sektenführer Charles Manson die schwangere Schauspielerin Sharon Tate und einige andere Leute blutig hinmetzeln ließ. Ein verfluchter Ort der amerikanischen Mythologie also, an dessen Tür noch das – mit Tates Blut geschriebene – Wort „Pig“ zu lesen waren. Womöglich war das Anwesen, weil dort niemand sonst einziehen wollte, wirklich einfach nur billig genug für den neuen Hausherrn. Dennoch floss sein satanischer „spiritus loci“ natürlich in das nächste Album, Reznors erstes echtes Meisterwerk, ein Konzeptalbum, dessen Konzept nicht von ungefähr an das von THE WALL erinnert: THE DOWNWARD SPIRAL.

Er komponierte, spielte und produzierte das Album fast im Alleingang, ohne nennenswerte Hilfe von anderen Musikern. Dies sollte lange seine typische Arbeitsweise bleiben, wobei sie nicht mit der Do-it-Yourself-Ästhetik des Punk verwechselt werden darf – eher mit der manischen Kontrollsucht eines Mike Oldfield. Später erklärte er in einem Interview, er verlasse sich lieber auf seine Computer als auf Menschen, weil die Rechner eben keinen „Swing und keine menschlichen Gefühle“ hätten. Komplexere Passagen müssten nur programmiert werden, er habe sie also niemandem beizubringen. An seiner Seite duldete er nur Künstler, die dieses Ethos teilten – und in der Lage waren, seine Visionen umzusetzen. Einer davon war der Gitarrist Adrian Belew von den Progrockern King Crimson, der seine außerordentlichen Fertigkeiten zuvor schon in den Dienst anderer manischer Musiker wie eben Mike Oldfield, Laurie Anderson, Frank Zappa oder David Byrne von den Talking Heads gestellt hatte. „Niemand“, sagte Belew noch 2013, „macht besser klingende Platten als Trent.“

Fast noch wichtiger als dieser Meilenstein – später sollte Johnny Cash sich den Song „Hurt“ anverwandeln – war aber die Gründung von „Nothing Records“, der eigenen Plattenfirma von Reznor und seinem damaligen Manager John Malm. Auf diesem Label veröffentlichte Reznor nicht nur künftige NIN-Produktionen, sondern übernahm auch den US-Vertrieb für ein noch winziges, britisches Elektro-Label namens Warp und Projekte wie Autechre, Plaid oder Squarepusher. Nebenbei nahm Reznor auch andere Künstler unter Vertrag, wie die Einstürzenden Neubauten, Pop Will Eat Itself, The The, Meat Beat Manifesto, 12 Rounds (mit einem gewissen Atticus Ross) – und einen Musikjournalisten, der sich Marilyn Manson nannte und seine ganze Karriere darauf aufbauen würde, eine Art geschmacksverstärkte „enfant terrible“-Version von Trent Reznor darzustellen.

Für Reznor selbst wurde THE DOWNWARD SPIRAL zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Er gehört zu den Charakteren, denen Geld, Ruhm und öffentliche Aufmerksamkeit nicht eben zum Glück verhelfen – und die deshalb zu Drogen greifen, was die Sache nicht eben unkomplizierter macht. Die „Self Destruct“-Tour zur Platte erwies sich denn auch als Tortur, vielleicht einer der Gründe, warum er heute den Woodstock-Auftritt jener Zeit mit eher gemischten Gefühlen sieht. Um die Probleme in den Griff zu bekommen, wies er sich in Florida selbst in eine Reha-Klinik ein – wo ihn die Nachricht vom Tod seiner geliebten Großmutter ereilte. Ein Erlebnis, das er später in dem Song „I’m Looking Forward To Joining You, Finally“ auf seinem kommenden Album verarbeiten sollte. Als geheilt entlassen, mietete er sich in Kalifornien in einem Haus am Meer ein und begann erneut mit der Arbeit. „La Mer“ sollte das erste von vielen – vielleicht zu vielen – Stücken werden, die es 1999 auf THE FRAGILE schafften. Das Doppelalbum mit epischer Länge ist das womöglich reifste, mit Sicherheit aber auch größenwahnsinnigste Werk des Künstlers. Es floppte. Künstlerisch mag es ein Erfolg gewesen sein, für den kommerziellen Erfolg war es wohl schlicht zu lang, wenngleich es durchaus eine typische Single enthielt: „Starfuckers Inc.“, eine kaum verkappte Kriegserklärung an damals kontemporäre Rockstars wie Billy Corgan, Michael Stipe und Schützling Marilyn Manson – der dann bizarrerweise auch noch im zugehörigen Video mitspielt.

Pünktlich zur Veröffentlichung von THE FRAGILE erlebte Reznor einen Rückfall in den Alkohol und andere Drogen, diesmal gefährlicher als jemals zuvor. Erneut wies er sich in die Klinik ein, diesmal in New Orleans, und erlebte dort einen kalten Entzug als einschneidendes Erlebnis. Dieser Entzug ist eine Zäsur in seinem Schaffen. Er zieht sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurück, in sein neues Studio in New Orleans – und liefert sich eine juristische Trennungsschlacht von seinem Manager Malm. Der hatte drei Millionen Dollar ausstehender Honorare verlangt und vor Gericht erklären lassen, Reznor habe ihm mit „Neun-Zoll-Nägeln in den Rücken gestochen“, natürlich nur im übertragenen Sinn. Reznor behält die Oberhand, nur „Nothing Records“, die gemeinsame Firma, wird nach dem Prozess liquidiert. Zusammen mit Atticus Ross macht er sich in aller Stille an die Arbeit für sein Comeback.

Das erweist sich als schwer. „Kann ich nüchtern Musik schreiben, die etwas taugt?“ Es ist die klassische Frage: Kann ein Künstler noch Künstler sein, wenn er nicht leidet? Er versucht es, nur mit Drumcomputer und Piano. WITH TEETH, erschienen 2005, sollte zunächst ebenfalls ein Konzeptalbum werden, das ihm dann doch „zu prätentiös“ erschien. Stattdessen gibt es eine ordinäre Songsammlung, sein bisher rocklastigstes Album. Bei sieben Stücken sitzt hörbar Dave Grohl hinter dem Schlagzeug. Auferstanden ist ein nüchterner, aufgeräumter Reznor. Einer, der nicht nur bleibt, sondern die Taktzahl seiner Veröffentlichungen stetig erhöhen wird.

Schon 2007 gibt es dann doch noch ein Konzeptalbum, diesmal über eine dystopische USA, in der jeder Mensch von seiner Regierung durch einen implantierten Chip bespitzelt werden kann – was einem gerade heute, nach Prism und Edward Snowden, so visionär wie angestaubt vorkommen kann. Dem dezidiert politischen YEAR ZERO vorausgegangen war Reznors durchaus persönlicher Frust über die Folgen des Hurrikan Katrina, bei dem auch sein Studio in New Orleans ein Opfer der Fluten und einer tatenlosen Regierung wurde. 2008 veröffentlicht Reznor nach zehnwöchigen Sessions über seine Website den Zyklus GHOSTS I-IV, sein bis dahin wohl abseitigstes Werk aus experimentellen Instrumentalskizzen. Kurz darauf folgt THE SLIP, ein ebenfalls online (und mit Gewinn) vertriebener Nachfolger von YEAR ZERO. Seine Gesundung erfasst auch das bisher unstete Privatleben. Er macht, als Teil seiner Therapie, regelmäßig Krafttraining, was man ihm auch bald ansieht – aus dem dürren Junkie ist ein regelrechter Muskelprotz geworden.

Er heiratet die philippinische Sängerin Mariqueen Maandig, wird Vater – und arbeitet an mehreren Projekten gleichzeitig. Er schreibt einen Song für seinen alten Freund, den Tool-Sänger Maynard James Keenan und dessen Band Puscifer. 2010 komponiert er zusammen mit seinem Partner Atticus Ross den Score für den David-Fincher-Film „The Social Network“ und erhält dafür den Oscar, 2011 verleiht er dem düsteren Kinodrama „The Girl With The Dragon Tattoo“ die richtige Atmosphäre. Er nimmt sogar wieder Aufträge als Komponist für Computerspiele an, wie zuletzt in den Neunzigerjahren für das Ballerspiel „Quake“. 2012 schreibt er den Titelsong für „Call Of Duty: Black Ops“ – und damit nicht genug: Zusammen mit seiner Gattin und zur Freude der Kritiker gründet er das Projekt How To Destroy Angels, bei dem er zugunsten seiner Frau vom Mikro zurücktritt. Zuletzt spielte er mit Dave Grohl und Josh Homme für den „Sin City“-Soundtrack und beteiligte sich an LIKE CLOCKWORK, dem jüngsten Album der Queens Of The Stone Age. Im Frühjahr 2013 schließlich kündigte er, überraschend wie immer, ein weiteres NIN-Album an – seine Arbeit für das Kino habe ihn zu einer „neuen Richtung“ für Nine Inch Nails inspiriert.

Es scheint, als greife bei diesem Mann inzwischen alles ineinander, all die inneren Zahnräder, zwischen denen es in der Vergangenheit so oft knirschte. Es scheint, als würde er keine Instrumente mehr hinrichten und auch, dass das kommende Album HESITATION MARKS wohl kaum der Schlussstein dieser außerordentlichen Karriere sein wird. Trent Reznor mag mit den Jahren ein wenig dicker und seine Musik ein wenig gemütlicher geworden sein. Aber das ist es, was die Jahre mit einem machen, wenn man sie denn erlebt.

5 BESTE TEXTZEILEN

Head like a hole /Black as your soul / I’d rather die than give you control

(„Head Like A Hole“)

The clouds will part and the sky cracks open / And God himself will reach his fucking arm through /Just to push you down / To hold you down

(„The Wretched“)

Peel off our skin /We’re gonna burn what we were to the ground /Fuck in the fi re and we’ll spread all the ashes around /I wanna kill away the rest of what’s left and I do /Yes, I do

(„Sunspots“)

Look through these blackened eyes / You’ll see ten thousand lies / My lips may promise but my heart is a whore

(„Last“)

I hurt myself today /To see if I still feel / I focus on the pain / The only thing that’s real

(„Hurt“)

INSPIRIERT VON

JOY DIVISION

DAVID BOWIE

PINK FLOYD

THROBBING GRISTLE

TALKING HEADS

MINISTRY

HABEN INSPIRIERT

AUTECHRE

MARILYN MANSON

LADY GAGA

DILLINGER ESCAPE PLAN

PUSCIFER

TV ON THE RADIO

DER KANON

PRETTY HATE MACHINE (1989)

Zusammengewürfelt aus frühen Demos, kann das Album seine Herkunft aus den Achtzigerjahren nicht verleugnen. Nichts gegen die Achtzigerjahre, aber für NIN-Verhältnisse sind die Beats hier noch arg eindimensional und klapprig. Mit „Head Like A Hole“ enthält es den entscheidenden Hit, mit „Terrible Lie“ einen Song, der heute noch als Live-Klassiker gilt. Hier ist alles enthalten, was die späteren NIN ausmachen: alternativer Rock mit starken Synthie-Elementen, allerlei Samples (Prince! Jane’s Addiction!) und eine Aggressivität, die heute mit Emo verwechselt werden könnte. Nicht zu vergessen das frühreife Songwriting: „Something I Can Never Have“ ist für die Ewigkeit.

BROKEN (1992)

Der Klassiker. Songs von nichts als höchster zwischenmenschlicher Dringlichkeit. Aber eben nicht nur lyrisch-romantisch, sondern klug und ehrlich in der Analyse. Von Thomas Dolby mit vor allem synthetischen Mitteln erstaunlicherweise so inszeniert, dass die ganze Platte eine fragile, unwirkliche Aura erhielt. Key Tracks: „Bonny“, „Goodbye Lucille #1“

THE DOWNWARD SPIRAL (1994)

Das „Opus Magnum“. Die Spirale nach unten ist das Konzeptalbum über den Untergang eines Menschen, der nach und nach alles infrage stellt, was ihm zuvor Sicherheit gegeben hatte. Musikalisch ging es Reznor um „Textur und Raum“ und darum, das Klangspektrum deutlich zu erweitern. Das Ergebnis ist ein Album, das als Fundament für alles zu betrachten ist, was noch kommen sollte. Das Album klingt, als hätte es zu viel Speed genommen, dicht bis zur Klaustrophobie rast es dahin, die Metal-Riffs von Adrian Belew gehen Hand in Hand mit Elektronik wie aus dem Zerhacker. Die herzzerreißende Ruhe und Schönheit von „Hurt“ legte dann Jahre später erst Johnny Cash wirklich frei.

THE FRAGILE (1999)

Manche sagen, Trent Reznor sei bei dem nicht eben kleinmütigen Versuch, THE DOWNWARD SPIRAL noch zu übertreffen, grandios gescheitert. Andere schweigen und genießen die Doppel-CD THE FRAGILE als das, was sie ist: der einsame künstlerische Höhepunkt von NIN. Lähmende Depression, wütende Ausbruchsversuche und schiere Schönheit am ungeschützten Piano oder auch dort, wo man sie nie vermuten würde, etwa im höllisch dahinreitenden E-Gitarrensolo von „We’re In This Together“ oder weirder Elektronik. Nie zuvor und nie mehr danach erreichte Trent Reznor eine solche ernste Tiefe -ohne freilich auf die fröhlich dahinbretternden Hasshymnen zu verzichten („Starfuckers Inc.“). Ein Gipfel, wie ihn das an Größenwahnsinn nicht arme Jahrzehnte nur selten erklommen hat.

YEAR ZERO (2007)

Zuvor hatte sich ein geläuterter und um alle Drogen oder andere Exzesse bereinigter Trent Reznor mit WITH TEETH zurückgemeldet, das, nun ja, ein wenig zahnlos geraten war. YEAR ZERO markiert die Rückkehr zu alter Form und definiert so etwas wie die künftige Reiseflughöhe der Band. Ein Konzeptalbum – again! – über eine USA unter einer religiösen Diktatur.

Musikalisch bleibt sich der Künstler in dem Sinne treu, wie auch Paare sich manchmal nach erloschener Ekstase treu bleiben. Die Ausbrüche kommen wohldosiert, es herrscht eine enorme Freude am Detail und am Songwriting, eine allgemeine Reifung ist deutlich zu spüren, und die Spannung bleibt erhalten. Wohin die Reise gehen könnte, zeigte hier schon ein so bedrohlich schleichendes Meisterwerk wie „Me, I’m Not“.

GHOSTS I-IV (2008)

Der GHOSTS-Zyklus klingt, als hätten sich die digitalen Apparate im Studio nachts auf, ja, gespenstische Weise verselbstständigt. Und das ist positiv gemeint. Diese Sammlung mit 36 experimentellen Instrumentalstücken erkundet ein Terrain, das Reznor sonst nur für wenige Minuten betreten hatte. Auch hier sind die verfremdeten Gitarren, die zerquälten Synthesizer, die mal elektronischen, mal handgemachten Beats, die Leidenschaft für das verborgene Detail. So bizarr die Skizzen manchmal geraten, so beruhigend klingen sie in ihrer Gesamtheit. Was fehlt, ist die Stimme. Und die fehlt hier nicht.

NINE INCH NAILS COVERN …

Queen: „Get Down, Make Love“

(„Sin“-Single)-

Soft Cell: „Memorabilia“

(„Closer To God“-Single)-

Joy Division: „Dead Souls“

(auf der japanischen Version von DOWNWARD SPIRAL)-

David Bowie: „Scary Monsters“

(auf der „Outside“-Tournee mit David Bowie)-

Gary Numan: „Metal“

(auf THINGS FALLING APART

DIE INTERESSANTESTEN TRENT-REZNOR-ZITATE

„Idiotischerweise dachte ich früher, wenn ich ‚es‘ erst einmal geschaff t hätte, wäre alles in Ordnung. Und dann war gar nichts in Ordnung.“

„Über mein Alter habe ich mir nie Gedanken gemacht, bis ich 39 Jahre alt wurde. Sind das Falten? Was zum Teufel? Und sind das Haare? Auf meinem Rücken? Jesus!“

„Wenn du nicht bereit bist dafür, ist es schrecklich, ist es Lärm. Wenn du es ein paar Mal gehört hast, wenn du überhaupt so weit kommst, wirst du die Schönheit unter einer Oberfl äche aus Hässlichkeit erkennen“

„Songs schreibe ich meistens in schlechter Laune.“

„Ein wichtiger Bestandteil jeder Beziehung ist das Wissen darum, jederzeit im Schlaf getötet werden zu können.“

„Ich habe mir mal den Schädel rasiert und dachte: ,Gott, bin ich hässlich! Und welche Hüte sind denn gerade modern?'“

TRENT REZNOR FÜR KENNER

1. PRETTY HATE MACHINE hätte INDUSTRIAL NATION heißen sollen, aber die Plattenfirma mochte den Namen nicht.

2. Reznor besitzt einen Labrador namens Ethyl und – angeblich – eine Nacktkatze, weil er gegen die Haare allergisch ist.

3. Trent Reznor gehört heute das ehemalige Mellotron John Lennons. Er benutzte es unter anderem für THE FRAGILE und seine Arbeit an Marilyn Mansons Album ANTICHRIST SUPERSTAR.

4. Der allererste aufgenommene NIN-Song war „Down With It“ und erschien 1987 als Single.

5. Trent Reznors einziger Filmauftritt: In „Light Of Day“ (1987, mit Michael J. Fox) als Bandmitglied der fiktiven „Problems“.

6. Er singt den dunklen Hintergrundrefrain von Tori Amos‘ „Past The Mission“ (1994), sie begleitete ihn im Gegenzug live bei „Hurt“.

7. Mit seiner ersten Band, der Synthie-Truppe The Exotic Birds, spielte Trent Reznor in den 80er-Jahren im Vorprogramm von Eurythmics und Culture Club. Ja, Culture Club.