Platten kaufen mit James Blake


Ein Rundgang durch den Plattenladen Space Hall in Berlin. Featuring Lee „Scratch“ Perry, Thelonious Monk, Keith Jarrett, Lightnin‘ Hopkins, D’Angelo, J Dilla und Digital Mystikz.

Der Künstler wühlt sich durch das Fach mit seinen eigenen Platten. Es sind so ziemlich alle da: das erste Album, die 12-Inches, die 10-Inches. Nur die Maxi „Klavierwerke“ fehlt. Er sucht weiter, hält inne und zieht eine Platte heraus. Er ist sich nicht sicher, um welche es sich handelt, das Covermotiv alleine gibt keinen Aufschluss. Auf mehreren Plattenhüllen von James Blake ist das gleiche, aber farblich variierte Foto vom Cover seines ersten Albums abgebildet – die Doppelbelichtung des Gesichts mit der Bewegungsunschärfe. Er sieht sich die Rückseite an, es ist „The Wilhelm Scream“. „Die würde ich kaufen. Weil darauf eine wirklich gute Mischung von Musik enthalten ist. Es gibt mit, The Wilhelm Scream‘ einen Song mit einem Beat und einem dramatischen Klimax. Der zweite Track, What Was It You Said About Luck‘ klingt zwar beim ersten Hören ein bisschen verwirrend, aber auf ihn bin ich wirklich stolz. Und dann hat es noch mit, Half Heat Full (Old Circular)‘ dieses ambientartige Stück – das ist einer meiner Lieblingstracks, weil er sehr gut anhörbar ist, obwohl er schon ziemlich seltsam ist. Ich könnte mir, The Wilhelm Scream‘ viel öfters anhören als meine anderen Sachen.“ Wir sind beim Plattenkaufen mit James Blake und hatten ihn gefragt, welche von seinen eigenen er mitnehmen würde, wenn er nur Geld für eine einzige zur Verfügung hätte.

Der Plattenladen Space Hall in Berlin-Kreuzberg gehört zu den bekanntesten und größten der Stadt, wenn nicht sogar der Republik. Auf über 200 Quadratmetern Verkaufsfläche stehen hier Zehntausende von Platten – quer durch alle Genres, Originale und Wiederveröffentlichungen, neu und gebraucht. Space Hall ist nicht nur Treffpunkt für DJs und lokale Plattenkäufer, sondern auch für Touristen aus der ganzen Welt. Wahrscheinlich ist er als „Geheimtipp“ in den diversen Berlin-Reiseführern aufgeführt, von denen sich die Partypeople, die Wochenende für Wochenende in die deutsche Hauptstadt einfallen, inspirieren lassen.

Der Laden ist der wahr gewordene feuchte Traum für Menschen, denen Schallplatten noch etwas bedeuten, die Manifestation des Plattenladens als mythischer Sehnsuchtsort für Jäger und Sammler aller Musikrichtungen. Aber man darf sich nichts vormachen: Trotz regelmäßiger Jubelmeldungen über die Rückkehr der Schallplatte bleibt Vinyl ein Nischenprodukt. In einer Zeit der limitierten Auflagen ist die Veröffentlichung von heute die Rarität von morgen. Dabei könnten es sich die Jäger und Sammler doch so leicht machen und mit ein, zwei Mausklicks jeden Song, jeden Track, jedes Album, das seit Erfindung der Tonaufnahme veröffentlicht wurde, auf ihren Festplatten speichern.

Wir erklären James Blake den Aufbau des Ladens. Im hinteren Teil gibt es ausschließlich elektronische Musik, vorne alles andere – von Rock, Pop, Indie über Blues und Jazz bis HipHop und Dub. Wo würde er mit der Suche anfangen? „Ich würde auf jeden Fall nicht in der Techno-Abteilung beginnen, sondern da.“ Er zeigt in den vorderen Teil des Ladens. Und da gehen wir jetzt hin. Auf dem Weg bemerkt Blake das Dub-Fach und zieht ein Album heraus. KUNG FU MEETS THE DRAGON, eine klassische, ultraminimalistische Dub-Platte von Lee „Scratch“ Perry aus dem Jahr 1975. „So was zum Beispiel höre ich sehr gerne.“ In der Jazzabteilung sucht der ausgebildete Pianist nach Piano-Aufnahmen und findet eine von Thelonious Monk. Dann entdeckt er eine frühe ECM-Platte des Pianisten Keith Jarrett. „Ich mag nicht alles von ihm, aber ein paar Sachen schon. Ich finde ihn sehr interessant, weil er einen klassischen Hintergrund hat.“ Keith Jarrett, der zu Unrecht auf den zarten Schmelz seines Millionenseller-Albums THE KÖLN CONCERT reduziert wird, stand bereits im Alter von sieben Jahren auf der Bühne und hat Stücke von Bach, Mozart und Beethoven aufgeführt. „Jarrett ist für mich das Bindeglied zwischen der Welt der klassischen Musik und der Improvisationsmusik“, sagt Blake. „In diesem Teil des Ladens entdecke ich für mich viel mehr, als ich in der Abteilung für elektronische Musik finden würde. Vieles davon ist interessanter als die meisten neuen Elektronik-Releases.“ Und dann outet er sich auch noch als Blues-Hörer. „Als ich jünger war“, sagt der, der vor gut einem halben Jahr seinen 24. Geburtstag feierte, „war Robert Johnson mein Lieblingsbluesmusiker. Heute höre ich sehr gerne Lightnin‘ Hopkins.“ Eine gute Wahl, wie wir finden, weil der 1982 verstorbene Texaner ein ganz besonderer Musiker gewesen ist, der – ähnlich wie Blake – ein Genre transzendiert hat – und Blues für Leute gespielt hat, die normalerweise keinen Blues hören. James Blake bewegt sich im Space Hall, als wenn er Stammkunde dort wäre. Er ist Plattenkäufer und -sammler, er schätzt die Institution Plattenladen, weil sie „mit das Wichtigste ist, was wir in der Musikbranche haben“. Aber in seiner Heimatstadt macht er einen großen Bogen um die Läden. „In den meisten Plattenläden in London wirst du als Kunde behandelt, als wärst du ein kompletter Volltrottel. So, als ob du null Ahnung von dem hättest, was du kaufst. Die Mitarbeiter geben einem das Gefühl, als wäre man es nicht wert, in ihrem Laden überhaupt bedient zu werden, das zieht mich ein bisschen herunter. Deshalb halte ich mich meistens von Plattenläden fern. Obwohl ich sie prinzipiell sehr gerne mag. Ich mag es auch, Sachen zu finden, auch wenn ich nicht unbedingt der Typ bin, der stundenlang Plattenkisten durchwühlt.“

Gibt es eine bestimmte Platte, die er schon jahrelang sucht, aber bisher nicht finden konnte? „Oh ja, da gibt es einige. VOODOO von D’Angelo zum Beispiel habe ich jahrelang gesucht, bis sie im Januar wiederveröffentlicht wurde. Und eine alte 12-Inch von Digital Mystikz, die ich unbedingt haben will, die aber seit langer Zeit nicht mehr erhältlich ist. Heute kostet sie gebraucht um die 350 Euro. Ich kaufe sehr viel Vinyl über Discogs – das ist ein sehr teures Hobby. Es ist natürlich verrückt: Man gibt 300 Euro aus, nur weil man drei seltene Platten haben will. Aber das ist es mir wert. Ich spiele die Sachen ja auch bei meinen DJ-Sets.“ Das letzte Album, das James Blake gekauft hat, war 48 HOURS INSTRUMENTALS. Eine Wiederveröffentlichung der Instrumental-Tracks des ersten Albums des Detroiter HipHop-Duos Frank n Dank. „Die Tracks wurden von J Dilla produziert, sie sind unglaublich experimentell, minimalistisch, melodisch und wunderschön.“

Demnächst wird James Blakes zweites Album OVERGROWN auch in diesem Laden erhältlich sein. Was spukt bei diesem Gedanken in seinem Kopf herum? „Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, um das, was ich eigentlich mit dem ersten Album sagen wollte, besser auszudrücken. Es spiegelt die Entwicklungen in meinem Leben in den vergangenen zwei Jahren wider, ich bin ein bisschen erwachsener geworden. Das Songschreiben ist mir diesmal leichter gefallen. Für manche Leute mag das wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirken, aber für mich bedeutet das eine sehr große Entwicklung. Ich glaube, dass ich offener geworden bin seit dem ersten Album. Als Mensch sucht man die Beziehung zu anderen Menschen. Man kann sich nicht vor 3 000 Leuten auf die Bühne stellen und tun, was man will. Man beugt sich in gewisser Weise dem, was die Leute wollen, weil man etwas bieten will, was ihnen gefällt. Ich wusste nicht, wie die Leute auf mein erstes Album reagieren würden – nicht, dass es mir egal gewesen wäre, ich wusste es einfach nicht.“

Zwischendurch wird der Rundgang durch den Laden von unserem Fotografen und seinem Team unterbrochen. James Blake wird nicht allein auf den Bildern zu sehen sein. Der Fotograf hat einen Bussard mitgebracht. Nicht die schlechteste Wahl, scheint der Künstler doch eine Affinität zu wild lebenden Tieren zu haben. Auf dem Frontcover seiner 10-Inch „Lindisfarne/Unluck“ ist ein Adler zu sehen; im Vorfeld der Veröffentlichung von OVERGROWN kursierte ein Covermotiv im Internet, das Blake vor einem Gemälde mit einem röhrenden Hirsch zeigt, was kurzzeitig für ästhetische Diskussionen in der Blake-Community sorgte. Als der Fotograf den Vorschlag mit dem Bussard machte, war Blake sofort ganz angetan. Und jetzt steht er vor einer Kiste mit Hunderten von Vinyl-Platten und stöbert darin herum, während ein paar Meter weiter ein Greifvogel ihm dabei zusieht.

Ein spanischer Tourist, Style: Berlin-Hipster – enge Hose, komischer Hut und Schnauzbart obligatorisch -, schießt mit einem Dauergrinsen auf seinem Gesicht mit seiner Digitalkamera fleißig Bilder von diesem seltsamen Szenario. Da steht James Blake in Lebensgröße von 1,96 Metern in diesem Monster von Plattenladen, stöbert in den Kisten herum – und vor ihm sitzt ein Bussard. So etwas Verrücktes kann es halt einfach nur in Berlin geben.

Albumkritik S. 73