Raus aus der Subkultur


Massive Attack

Blue Lines – 2012 Remix/Remaster

Virgin Catalogue/EMI

Dokument der Zeitenwende: Dieses Album half sowohl der Dance-Szene als auch dem TripHop auf die Beine.

Man muss zunächst etwas ausholen. Die Geschichte von Massive Attack beginnt schon 1983, acht Jahre vor Erscheinen dieses Debüts. In Bristol taten sich ein paar Musikfanatiker unter dem Namen The Wild Bunch zusammen. Sie wollten die heißesten Partys der Stadt schmeißen und nahmen sich dafür jamaikanische Soundsystems zum Vorbild. Man brauchte Plattenspieler, Boxen, Verstärker, Mischpult und die neuesten und unbekanntesten Weißmuster-12-Inches. Anders als in der Karibik mussten es nicht unbedingt Reggae-Dubplates sein. Bei The Wild Bunch war alles erlaubt, was in der Musikkultur im urbanen Britannien der 80er eine Rolle spielte: neben Reggae und Dub auch HipHop, Soul und Rock. Von dieser Mischung konnte man in der Hafenstadt schon bald nicht genug kriegen. Konzertveranstalter waren beunruhigt, weil im nicht übermäßig großen Bristol plötzlich viele Leute dieses Soundsystem und seine Soundclashs abfeierten. Die Besorgnis hatte aber bald ein Ende. Einige Booker sollen Jubelsprünge gemacht haben, als sie erfuhren, dass sich die Quertreiber zurückziehen, um selber Tracks zu produzieren.

Völlig abwegig war so ein Werdegang schon zur damaligen Zeit nicht. DJs wurden selbstbewusster, sie wollten sich durch mehr Eigenleistung beim Poppublikum empfehlen. Robert Del Naja (3D), Grant Marshall (Daddy G) und Andrew Vowles (Mushroom) unternahmen den ersten Versuch in diese Richtung im Jahr 1988 mit einer 12-Inch für das Label 4th & Broadway. Einer der drei Tracks war eine mit HipHop-Scheppern versetzte Version von Burt Bacharachs „The Look Of Love“, gesungen von Shara Nelson. Dieselbe Dame war drei Jahre später flächendeckend auf Blue Lines zu hören. Ihre kämpferische Zeile „If you hurt what’s mine, I’ll sure as hell retaliate“ unterlegten Massive Attack in „Safe From Harm“ mit dem pumpenden Bass-Groove aus Billy Cobhams „Stratus“. Vom Prinzip her kannte man so etwas aus dem HipHop. Ausschnitte einer im Idealfall nicht landläufig bekannten Komposition anderer Musiker wurden gesampelt und mit einem Rap oder, wie in diesem Fall, mit Gesang belegt. Für Cobham schienen Massive Attack eine Schwäche zu haben, er war früher Schlagzeuger für John McLaughlins furiose Fusion-Rock-Formation Mahavishnu Orchestra. Deren introvertierter Jam „You Know, You Know“ bildet die Grundlage von „One Love“, gesungen von Reggae-Größe Horace Andy.

Blue Lines ist ein vielfältiges Album, wesentlich abwechslungsreicher als der Nachfolger Protection. Trotzdem ist es nicht verkehrt, wenn man den erst später fest in den Sprachgebrauch übernommenen Begriff TripHop rückblickend auch auf das Debüt anwendet. „One Love“ ist einer der Gründe dafür. Der Beat ist langsam, Keyboard-Akkorde hypnotisieren und in Andys Worten steckt Tiefgang. Ähnliches lässt sich vom Titelsong „Five Man Army“ und von „Daydreaming“ behaupten. Hier machte man erstmals Bekanntschaft mit der sprechsingenden Stimme eines gewissen Tricky. Eher konventionell ist die Version von William DeVaughns Soul-Liebhaberstück „Be Thankful For What You’ve Got“ ausgefallen. Nur etwas Scratching und Getrommel hatte man hinzugefügt, was angesichts eines schon sehr perfekt wirkenden Originals die richtige Entscheidung war.

„Unfinished Sympathy“, das Meisterstück dieses Albums, ist flotter und wird von Glockenspiel und Streichern begleitet. Von besonderer Bedeutung ist auch „Hymn Of The Big Wheel“, nicht zuletzt wegen des Gesangs von Neneh Cherry, zu der Massive Attack anfangs ein enges Verhältnis hatten. Del Naja war Co-Autor ihres Hits „Manchild“, danach stellte Cherry ihr Haus für erste Aufnahmen von Massive Attack zur Verfügung. Cherrys Freund und späterer Ehemann Cameron McVey war der erste Manager der Band und hat Blue Lines coproduziert. McVey riet auch dazu, den Bandnamen zur Zeit des Golfkrieges 1991 zu verkürzen und das Album unter dem Namen Massive zu veröffentlichen. Darin steckte durchaus ein Risiko. Höhere Gewalt kann das Schicksal einer Band ungünstig beeinflussen, aber dazu ist es in diesem Fall nicht gekommen.

Blue Lines ist eines der wichtigsten Alben der frühen 90er-Jahre. Es zeigt, wie Musiker aus der Enge der Dance-Subkultur ausbrachen und sich ein größeres Publikum erschlossen, ohne Ausverkauf zu betreiben. Von daher ist es mehr als angemessen, dass es jetzt eine Neuauflage dieses Debüts gibt. Die Band hat die Songs in ihrem Studio in Bristol mithilfe der Originalbänder neu abgemischt und gemastert. Die Master Edition enthält das Album auf zwei 180g-Gramm-LPs, eine CD, eine DVD und ein Poster, alles schön verpackt in einer Schachtel, die so aussieht wie Verpackungen, mit denen Plattenfirmen Vinyl-Tonträger verschicken. Etwas Stil ist für einen Klassiker nie zu viel.

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MASSIVE ATTACK

Aktiv von 1988 bis heute

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Besetzung:

Robert Del Naja (3D), Grant Marshall (Daddy G), Andrew Vowles (Mushroom), Adrian Thaws (Tricky), Shara Nelson

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Genres: TripHop, Soul, Reggae, Dub

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Beeinflusst von:

Soul II Soul, Marvin Gaye, Lee „Scratch“ Perry, Big Audio Dynamite, The Cure, Grandmaster Flash, Coldcut

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Beeinflussten:

Portishead, Morcheeba, Nightmares On Wax, DJ Shadow, Kruder & Dorfmeister, Rae & Christian