Backkatalog

The Damned

Damned Damned Damned – 35th Anniversary Edition

Sanctuary/Universal

Das Debütalbum der Punk-Legenden als Vier-CD-Luxus-Set.

Ist es tatsächlich über 35 Jahre her, dass sich das britische Königreich vom Pogo und Punk bedroht sah? Von den drei frühen Genre-Pionieren The Clash, The Sex Pistols und The Damned gelten Letztere als die mit Abstand unpolitischsten Vertreter. Allein das Cover des Debütalbums DAMNED DAMNED DAMNED (produziert von Nick Lowe) mit den von Sahnetorte beschmierten Gesichtern von Bassist Captain Sensible, Vokalist Dave Vanian, Schlagzeuger Rat Scabies und Gitarrist Brian James signalisiert: Bitte nicht allzu ernst nehmen! Doch als reine Spaßtruppe sollte man The Damned nicht fehlinterpretieren, wie die opulente 35th ANNIVERSARY EDITION mit vier CDs unterstreicht: Zeitlos klingen die Klassiker „New Rose“, „Neat Neat Neat“, „Fan Club“, „Born To Kill“, „Stab Your Back“ und „Feel The Pain“. Opulent ist das Beiwerk: Demos, B-Seiten, Non-LP-Tracks, Radio-Sessions und ein Konzertmitschnitt aus dem 100 Club füllen CD 2 und 3, darunter auch wunderbar wütende Versionen von „Help!“ (The Beatles) und „Circles“ (The Who). Auf CD 4 gibt es Interviews sowie die BBC-Radio-One Audio-Documentary „Is She Really Going Out With Him“ mit Kommentaren von Captain Sensible, Rat Scabies, Glen Matlock und Chrissie Hynde.

***** Mike Köhler

Miles Davis Quintet

Live In Europe 1969: The Bootleg Series Vol. 2

Columbia/Sony Music

Jazz: Der Trompeter wieder einmal am musikalischen Wendepunkt.

Künstlerische Quantensprünge mit stilistischer Neuorientierung waren für Miles Davis ein immer wieder gerne exerziertes Ritual, das half, seine Reputation als Ausnahmekünstler zu unterstreichen. Zum Ausklang der vom steten Wandel geprägten Sixties legte Davis noch einen Zahn zu: Mit FILLES DE KILIMANJARO verabschiedete er sich langsam von der Bandbesetzung der frühen bis mittleren 60er-Jahre. Mit dem nach und nach veränderten Line-up (Saxofonist Wayne Shorter, Pianist Chick Corea, Bassist Dave Holland, Schlagzeuger Jack DeJohnette, Gitarrist John McLaughlin) veränderte sich auch die Musik: Jazz Fusion. Der Wendepunkt war 1969 das Album IN A SILENT WAY. LIVE IN EUROPE 1969: THE BOOTLEG SERIES VOL. 2, der Nachfolger von LIVE IN EUROPE 1967, fasst auf drei CDs drei Konzertmitschnitte zusammen: Zwei CDs widmen sich dem zweitägigen Festival Mondial du Jazz D’Antibes vom 25. und 26. Juli 1969: Ältere Stücke wie Nefertiti“, „Milestones“ und „‚Round Midnight“ kontrastieren mit „Sanctuary“, „Spanish Key“ und „Miles Run The Voodoo Down“ vom noch unveröffentlichten Meilenstein BITCHES BREW. Vom 5. November 1969 im Stockholmer Folket Hus stammen das fast 15-minütige „Bitches Brew“, „Masqualero“ und „Paraphernalia“ von MILES IN THE SKY, das die Fusionsphase einleitete. Einen Archivfund vom Sender Freies Berlin (SFB) gibt es auf der DVD: eine Konzertaufzeichnung vom 7. November 1969 bei den Berliner Jazztagen mit sechs Stücken, darunter „Directions“, „It’s About That Time“ und „I Fall In Love Too Easily“.

**** Mike Köhler

Cerrone

Underworld – the Anthology

Cherry Red/Rough Trade

Frankreichs Beitrag zur Disco-Ära.

Der Beitrag Frankreichs zur Disco-Ära wird immer wieder gerne auf Jacques Morali reduziert. Jener in die USA ausgewanderte Produzent und Komponist, der mit Co-Autor Henri Belolo erst The Ritchie Family, dann den Village People weltweit an die Chartsspitze verhalf. Doch als Erneuerer wirkte vor allem Jean-Marc Cerrone, kurz Cerrone – der als französisches Pendant zu Giorgio Moroder gilt. Cerrones Alben Love In C Minor (1976), Cerrone’s Paradise und Supernature (beide 1977) waren musikhistorisch gesehen die Vorstufe zum Disco-Boom – mit opulent arrangierten, großorchestrierten Songs, die an Kenny Gambles und Leon Huffs Philly-Soul-Klassiker erinnerten. Der Clou: Cerrone, der mit zwölf Jahren als Schlagzeuger begonnen hatte, mixte als Erster die Kick Drum in den Songs in den Vordergrund. Die Doppel-CD UNDERWORLD – THE ANTHOLOGY ist die erste labelübergreifende Werkschau der Musik Cerrones. Darauf gibt es neben fünf Tracks von Cerrones früherer Band The Kongas (u.a. „Jungle“, „Pastel“ sowie das von Tom Moulton remixte „Anikana-O“) auch Musik von Projekten wie Révélacion. Weitere Club-Hits mit Charts-Potenzial wie „Je Suis Music“, „Rocket In The Pocket“, „Trippin‘ On The Moon“ und „Hysteria“ folgen. Cerrone, der seine Alben seit 1976 mit römischen Ziffern durchnummeriert, ist bis in die Gegenwart künstlerisch aktiv.

****** Mike Köhler

Diverse

London Is The Place For Me 5 & 6

Honest Jons/Indigo

Calypso, Highlife, Mento, Jazz und Latin der Migranten aus dem Post-War-London.

Ob es einen Menschen in Großbritannien gibt, der in den letzten Jahren mehr Musik aus entlegenen Winkeln der Welt gehört hat als Mark Ainley? Wahrscheinlich nicht, der Labelmacher von Honest Jons streift regelmäßig durch die EMI-Archive vor den Toren Londons und bringt kaum für möglich gehaltene Schätze zutage, um ein Sammler- und Forscherpublikum damit zu füttern: Songs aus dem Bagdad der 20er-Jahre, Orchestermusik aus Algier, Vintage Recordings aus Kenia und Uganda. Dagegen nimmt sich die Veröffentlichungsreihe LONDON IS THE PLACE FOR ME wie ein Heimspiel aus: Aufnahmen, die Einwanderer aus der Karibik und Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg in London machten. Auf diesen beiden CDs spielt Honest Jons die Geschichte der Immigrant Music um 39 Beiträge fort, mit elegant geschwungenen Calypso-Schlagern, leichtfüßigen Highlife-Tracks, Mento-Aufnahmen und Orchesterjazznummern, die von den diversen musikalischen Import- und Exportbewegungen in einer Zeit künden, in der das Wort Globalisierung noch nicht existierte. Buddy Pipp’s Highlifers trugen mit so wunderbaren Songs wie „Cuban Nightingale“ westafrikanisch-kubanische Rhythmen in die Clubs an der Themse, wo sie wiederum auf die überraschend königinnentreuen Calypso-Hymnen von Mighty Terror („The Queen Is In“) trafen. Ganz nebenbei erzählen diese Lieder etwas über das Verhältnis der, wie man heute sagen würde, Gastarbeiter zu ihrer neuen Heimat, über ihre Hoffnungen und Entbehrungen, sie berichten von den Aktualitäten des Fußballs, vom Eindruck, den britische Polizistinnen auf die Neuankömmlinge ausübten. Dass all die Musiken Spuren bis in elektronische Neufassungen des Afrobeat, Jungle und Dubstep hinterlassen haben, darauf weisen die anderen Veröffentlichungen des über sich hinaus und in die Welt gewachsenen Plattenladens am Ende der Portobello Road in London hin. Mit Fotos und Sleeve Notes im Booklet ist diese Reihe nicht weniger als ein Prequel zur Geschichte der Black Music im UK.

***** Frank Sawatzki

The Everly Brothers

The Ballads Of The Everly Brothers

The Everly Brothers Rock

Bear Family

Evergreens, Country-Balladen und weniger bekannte Dreamsongs. Ein gut sortierter Auszug aus dem umfangreichen Gesamtwerk der einflussreichen Minnesänger aus Kentucky.

Es ist kein Zufall, dass auf dem jüngst erschienenen Everly-Brothers-Tribute-Album von Bonnie „Prince“ Billy und Dawn McCarthy kaum ein Song enthalten ist, den man auf diesen beiden Best-of-Zusammenstellungen von Bear Family wiederfinden könnte. Das Gesamtwerk der beiden Countryminnesänger aus Kentucky umfasst eben nicht nur evergreene Partyschlager wie „Wake Up, Little Susie“ und „Bye Bye Love“ und melancholische Feinstarbeiten wie „All I Have To Do Is Dream“ und „Love Hurts“, das zuerst in der Version von Roy Orbison bekannt wurde und eine Reihe von Country- und Rock-Coverversionen nach sich zog. Man könnte die Geschichte der Everly Brothers alleine über Cover erzählen, oder über ihren Einfluss auf die Gesangstechnik von Simon & Garfunkel ein paar Jahre später, es bieten sich zahlreiche Stränge an, Bear Family leistet mit den Schwerpunktalben ROCK und BALLADS eine erste Einordnung. Wobei die Balladenzusammenstellung für den Everly-Brothers-Novizen die größere Fundgrube sein wird. Im extrem zurückgenommenen, fingerschnippenden „Take A Message To Mary“ (1959) scheint die zeitlose Schönheit dieser Gesangsmusik auf, die doch zwei oder drei Hipshakes vom Rock’n’Roll entfernt groß wurde und in Country-Doyen und Gitarrist Chet Atkins in den frühen Tagen einen Klangmeister fand. Heartaches, Goodbyes und Daydreams – das Autorenteam Boudleaux und Felice Bryant schob die Themen des jugendlichen Publikums ganz wunderbar den leicht dahinwehenden Melodien unter, Don und Phil Everly sangen sie in die Sterne. Für einen Song wie „Be-Bop-A-Lula“ waren die beiden Vorzeige-Countryboys aber dann doch eine Spur zu zahm.

****1/2 Frank Sawatzki

Marvin Gaye

Trouble Man – 40th Anniversary Expanded Edition

Hip-O Select/Universal

Komplette Archivauswertung zum 40. Jubiläum von Marvin Gayes famosem Blaxploitation-Soundtrack.

Als mit „Shaft“ und „Sweet Sweetback’s Baadasssss Song“ im Jahr 1971 gleich zwei eigens für das afroamerikanische Publikum produzierte Spielfilme an der Kinokasse mächtig absahnten, zog das einen regelrechten Boom gleichartiger Filme nach sich. Zumal auch das weiße Amerika Gefallen fand an den zwischen Soul und Funk produzierten Soundtracks. Wer in der künstlerisch aktiven Black Community etwas auf sich hielt, partizipierte von nun an am Trendprodukt Blaxploitation. Auch Marvin Gaye lieferte, parallel zu Isaac Hayes, James Brown, Curtis Mayfield, Roy Ayers und J. J. Johnson, 1972 einen Soundtrack zu einer Kinoproduktion, für die Tamla Motown die Rechte erworben hatte: Trouble Man. Für Marvin Gaye war das eine willkommene Abwechslung – hatte er doch gerade mit WHAT’S GOING ON einen Meilenstein von Album veröffentlicht, für das er im Alleingang verantwortlich zeichnete und das ihm jede Menge Ärger mit seinem Schwiegervater Berry Gordy Jr., dem Label-Chef von Tamla Motown, einbrachte. Als die Verkaufszahlen von WHAT’S GOING ON in unglaubliche Dimensionen anstiegen, wurde Gayes Vertrag dann jedoch runderneuert. Im Gegensatz zu Hayes, Mayfield und Brown, die in ihren Songs die soziale Analyse mit sexuellen Komponenten kombinierten, konzentrierte sich Marvin Gaye in den zwischen Soul, Funk und Jazz angelegten sphärischen Kompositionen ganz auf die Hauptfigur des Films, Mister T (Robert Hooks). Für die Doppel-CD TROUBLE MAN – 40TH ANNIVERSARY EXPANDED EDITION hob man ungeahnte Schätze aus den Archiven: Die Tracklist des Originalalbums, die ursprünglich 13 Songs enthielt, wurde um 29 weitere ergänzt. Darunter Alternate Takes und rare Vocal Performances. Ein großorchestriertes Sinnesvergnügen im entspannten Zeitlupensound.

***** Mike Köhler

Heartbreakers

L.A.M.F. (Definitive Edition)

Jungle Records/Rough Trade

Herzensbrecher mit Verliererbonus: der legendäre 1977er-Klassiker der Punk-Supergroup.

Prinzipiell stimmte das Konzept: zwei ehemalige Mitglieder der New York Dolls – Gitarrist Johnny Thunders und Schlagzeuger Jerry Nolan -, Ex-Television-Bassist Richard Hell sowie Gitarrist Walter Lure, zuvor Mitglied bei der Glam-Band Demons, gründen eine neue Band. Ende 1976 befand sich das illustre Quartett zur richtigen Zeit am rechten Ort. In London nämlich, als Malcolm McLaren, kurzzeitig Manager der New York Dolls, mit seinen neuen Schützlingen Sex Pistols eine musikalische Lawine lostrat, deren Nachwirkungen noch heute spürbar ist: Punk. Mit mehr als ein Dutzend fertigen Songs im Gepäck brillierten die Heartbreakers im Gespann mit The Clash und den Buzzcocks auf der „Anarchy“-Tour der Sex Pistols. Gehätschelt von den britischen Musikgazetten unterzeichneten die nach Richard Hells Abgang mit Billy Rath umbesetzten Heartbreakers einen Vertrag mit Track Records, dem Label der Who-Manager. In Windeseile absolvierten sie eine Demo-Session, zwei Auftritte im Londoner Hotspot The Speakeasy sowie die von Speedy Keen, Daniel Segunda und Mike Thorne beaufsichtigten Studioaufnahmen für L.A.M.F. Doch kurz vor der Veröffentlichung des Albums begann der Ärger: Auf Vinyl-Anpressungen klangen die zwölf Tracks, darunter die Riffkracher „One Track Mind“, „I Wanna Be Loved“ und „Baby Talk“, grauenhaft dumpf. Versuche, den Mix zu retten, die sich über Wochen hinzogen, scheiterten. Track Records drehte dann den Geldhahn zu und Nolan verließ im Streit die Band. Schließlich stand L.A.M.F., Akronym für „Like A Mother Fucker“, in den Läden als eine verhunzte Version, die keiner haben wollte. Trotz der beiden signifikanten Hymnen „Born To Lose“ und „Chinese Rocks“, Letzteres eine Zusammenarbeit von Hell mit Dee Dee Ramone über das Junkiedasein. Es dauerte Jahre, bis herauskam, dass nicht der Mix sondern das Mastering schuld war am kläglichen Klangbild. L.A.M.F. (DEFINITIVE EDITION) wetzt die Scharte mit einer 4-CD-Box aus: Zum tadellos runderneuerten 1977er-Original gesellen sich die kompletten „The Lost ’77 Mixes“ mit „Can’t Keep My Eyes Off You“ und „Do You Love Me?“, 13 Aufnahmen aus drei Demo-Sessions – zum Teil noch mit Richard Hell – sowie 21 Rettungsmixe aus fünf Londoner Studios. Abgerundet wird das Paket mit einem 44-seitigen Heft und vier formschönen Pin-Badge-Repliken.

***** Mike Köhler

Inspiral Carpets

Life – Extended Edition

EMI

Der Weisheit letzter Schluss anno 1990: Madchester Rave und Puddingschüsselfrisuren.

Wer in seiner Pubertät um 1990 clever erscheinen wollte, musste ein T-Shirt der Inspiral Carpets mit einem provokanten Spruch tragen: „Cool As Fuck“. 1989 hatte das Quintett mit den Puddingschüsselfrisuren eine Kassette namens DUNG 4 veröffentlicht. Mit dem Debütalbum LIFE kamen Martyn Walsh (bg), Craig Gill (dr), Graham Lambert (g), Clint Boon (keyb) und Tom Hingley (voc) im Fieber des Madchester Rave auf Anhieb auf den zweiten Rang der britischen Albencharts – näher an die Pole Position sollten die Inspiral Carpets nie wieder gelangen. So schrecklich neu wie damals getan wurde, war das clever aus Elementen von Garagen Beat bis Psychedelik der Swinging Sixties zusammengeklaubte Klangkonzept nicht. Aber um 1990 klammerte man sich an jeden musikalischen Strohhalm, der einigermaßen Innovation verhieß. Single-Hits in Form der sozialkritischen Studien „This Is How It Feels“ und „She Comes In The Fall“ schoben mit quengeliger Farfisa-Orgel, schrammeligen Shoegaze-Gitarren und mehrstimmigem Gesang nicht nur die LP weiter an, sondern leisteten auch Schützenhilfe zur Britpop-Manie ab 1994. Für die CD/DVD LIFE – EXTENDED EDITION hob man diverse Schätze aus den Archiven: vier Songs einer John Peel Session vom 17. Juli 1988, die EPs „Planecrash“ und „Trainsurfing“ und einen Konzertmitschnitt vom 21. Juli 1990 im Manchester G-Mex auf DVD. Aufmerksamen Zuhörern der „Planecrash“-EP verrät eine Coverversion, bei wem die Inspiral Carpets ihr Klangkonzept geklaut haben: von Question Mark & The Mysterians‘ Klassiker „96 Tears“.

***** Mike Köhler

Jethro Tull

Thick As A Brick

Chrysalis/EMI

„Die Mutter aller Konzeptalben“, sagt Ian Anderson. „Ein Meilenstein des Prog Rock“, sagen wir. Und: Was soll das heißen, Sie wissen nicht, wer Gerald Bostock ist?

Wir haben’s ja schon mal auf diesen Seiten erwähnt: Kein Jahrestag eines klassischen Albums ohne aufwendige Neuauflage. Das gilt auch für Jethro Tulls gewaltiges Prog-Rock-Epos THICK AS A BRICK aus dem Jahr 1972, das jetzt in diversen Formaten neu herausgebracht wurde, u.a. als Mini-Box im Taschenbuchformat, die das neu abgemischte Album auf CD enthält sowie drei weitere Mixe auf einer DVD. Dazu gibt’s ein 100-seitiges Booklet mit dem Original-Artwork – einer fiktiven Zeitung, dem „St Cleve Chronicle“ -, einer Dokumentation über die Entstehung des Albums, Erinnerungen des Toningenieurs Robin Black und des Tourmanagers Eric Brooks, einem Interview mit Ian Anderson, Gitarrist Martin Barre und Bassist Jeffrey Hammond aus dem Jahr 1997, Fotos sowie den Lyrics – groteskerweise auf Deutsch und Italienisch. Die Story zum Album in Kürze: Mit AQUALUNG hatten Jethro Tull 1971 einen hochgelobten und extrem erfolgreichen Longplayer veröffentlicht, der aber sehr zu Ian Andersons Ärger als Konzeptalbum missverstanden wurde. Die Antwort des exzentrischen Frontmannes: die „Mutter aller Konzeptalben“, eben THICK AS A BRICK – zu Deutsch: „Dumm wie Bohnenstroh“. Er gab vor, das Gedicht eines achtjährigen Wunderkindes namens Gerald Bostock vertont zu haben, dessen Poem in der britischen Öffentlichkeit als „Verhöhnung von Religion, Volk und Vaterland“ verdammt worden sei. Natürlich war das komplette Werk Andersons Gehirn entsprungen: ein einziges knapp dreiviertelstündiges Stück Musik mit einer Vielzahl von Motiven, einem steten Wechsel von Taktarten und Tempi, einem Mix aus Rock, Folk und klassischen Strukturen. Jethro Tull brachten dem Prog Rock buchstäblich die Flötentöne bei. Es folgte A PASSION PLAY – doch das ist eine andere Geschichte.

***** Peter Felkel

A. K. Klosowski &

Pyrolator

Home Taping Is Killing Music

Bureau B/Indigo (VÖ: 29.3.)

Eine vergessene Pop-Art-Collage aus Loops und Samples.

Kennt überhaupt jemand Arnd Kai Klosowski? Bei dem Namen beißt auch das Internet auf Granit. Das Bureau-B-Label, das sich dieser Wiederveröffentlichung aus den Tiefen des Ata-Tak-Katalogs angenommen hat, verrät, dass es sich bei Klosowski um einen ehemaligen Bluesgitarristen handelt, der in den Achtzigern mit einer selbst gebauten Tape-Loop-Maschine zu arbeiten begann und nach einem Produzenten suchte. Hier kam Kurt Dahlke alias Pyrolator (Der Plan) ins Spiel. Aus der arbeitsteiligen Idee „Musiker trifft Produzenten“ entstand ein Album, das heute als naives Dokument früher Sampling- und Loop-Musik bestaunt werden darf. Es unterscheidet sich deutlich von den fast gleichzeitig veröffentlichten Pyrolator-Platten – Klosowski und Dahlke arbeiten mit Soundteilchen, die sie mit einem breiten Grinsen aufeinandergehetzt haben müssen. Entstanden ist dabei eine Pop-Art-Collage der humorvollen Art, unter freundlicher Zuhilfenahme von Jodlern, Space-Sounds aus der Krautrock-Ära, Voice-Samples, kambodschanischer Musik, Roboter-Stimmen und Dance-Beats.

**** Frank Sawatzki

Oliver Lake

NTU: Point From Which Creation Begins

Universal Sound/Soul Jazz

Die Spur des US-Saxofonisten führt vom Spiritual Jazz zum Jazz-Punk.

Als das Arista-Label 1976 eine Reihe von frühen Oliver-Lake-Alben veröffentlichte, waren die Aufnahmen auf NTU: POINT FROM WHICH CREATION BEGINS schon fünf Jahre alt. Lake hatte die Produktion aus eigener Tasche bezahlt und eine Veröffentlichung auf seinem eigenen Label Passin‘ Thru geplant, doch dazu war es nie gekommen. Der Saxofonist ging im Anschluss an die Aufnahmen auf Europatour und fand ein begeistertes Publikum für seine Grenzgänge zwischen Avantgarde und Spiritual Jazz. Mit der Wiederveröffentlichung des Debüts richtet das Soul-Jazz-Label den Fokus auf die besten Jahre einer der letzten Jazz-Revolutionen; Lakes Band aus St. Louis und das viel bekanntere Art Ensemble Of Chicago kratzten in weitläufigen Improvisationen die afrikanischen Wurzeln des Jazz frei und öffneten in ihren ekstatischen Live-Ritualen Klangräume für kommende Generationen. Die fünf Tracks des NTU-Albums markieren diesen Moment der Entfesselung, wenn Lake sein Alt- und sein Sopran-Sax zwitschern und tirilieren lässt, frei über den pulsierenden Rhythmen fliegend und sich später in den Zug der singenden Bläser einfindet – oder lyrisch über dem Rascheln der Percussion extemporiert. Mit dabei sind u.a. Drummer Don Moye (Art Ensemble Of Chicago) und Posaunist Joe Bowie, der später Gastspiele in der No-Wave-Sensation von James Chance gab und Anfang der Achtziger Defunkt gründete. Man muss die ersten 60 Sekunden von „Zip“ hören, um zu erkennen, wer Pate gestanden haben könnte für James Chances Zerreißproben auf dem Saxofon. Der Jazz-Punk war schon ein paar Jahre vor dem Punk erfunden worden.

****1/2 Frank Sawatzki

Joni Mitchell

Studio Albums 1968-1979

Reprise/Asylum/Rhino/Warner

Zwischen Folk und Jazz: Die zehn wichtigsten Alben der kalifornischen Singer/Songwriterin in einer Box.

Gewiss, es gibt heutzutage Virtuosinnen mit Hang zu stilistischen Facetten wie Alicia Keys, Norah Jones und Tori Amos – doch keiner gelang das Kunststück, sich innerhalb eines Jahrzehnts künstlerisch derart zu transformieren wie die Kanadierin Joni Mitchell: SONG TO A SEAGULL ***, das von David Crosby 1968 produzierte Debüt, bezieht seinen Folk-Liebreiz aus der noch glockenklaren Stimme Mitchells und der offen gestimmten Akustikgitarre. Ein Jahr später kassierte CLOUDS ***1/2 Gold in den USA. Mit Doors-Produzent Paul A. Rothchild und Stephen Stills an Gitarre und Bass entstand Hitverdächtiges wie „Chelsea Morning“ und „Both Sides Now“. Mitchells rasanter Aufstieg begann 1970 mit LADIES OF THE CANYON **** – angeschoben durch den weltweiten Chartshit „Big Yellow Taxi“ sowie der Hymne zur Festivalattraktion des Vorjahres, „Woodstock“. Wieder um einiges spartanischer arrangiert, lotete Mitchell auf BLUE ***** mit Gästen wie James Taylor und Stills ihre Eindrücke und Erfahrungen als etablierte Künstlerin aus. Mit der Crème an Musikern aus den Studios von Los Angeles entstand 1972 FOR THE ROSES *****. „Cold Blue Steel And Sweet Fire“ porträtiert einen Heroinabhängigen. Von Beethoven inspiriert ist „Judgement Of The Moon And Stars (Ludwig’s Tune)“. „You Turn Me On I’m A Radio“ entwickelt – nomen est omen – Airplay-Qualitäten. Joni Mitchells kommerziell einträglichstes Werk des Jahrzehnts war 1974 COURT AND SPARK ****** – statt Folk diente Jazz als Fundament: „Raised On Robbery“ imitiert die Stilistik der 50er-Jahre. „Help Me“ tummelte sich in der US-Top-Ten. Und „Car On The Hill“ sowie „Trouble Child“ zählen zu Jonis besten Kompositionen. THE HISSING OF SUMMER LAWNS ****** driftete 1975 abermals weiter in Richtung Jazz-Gefilde. „The Jungle Line“ betritt mit dem Proto-Sampling der rhythmischen Stammesfolklore der Drummers Of Burundi und Synthesizer-Loops Neuland. „Shadows And Light“ verblüfft durch Gesangsakrobatik. Jaco Pastorius, Larry Carlton, Tom Scott, Neil Young sowie weitere Koryphäen verliehen HEJIRA ****** mit Songs wie „Coyote“, „Song For Sharon“ und „Blue Motel Room“ eine noch würzigere Jazznote. Die Lieder des Albums wurden auf einer mehrtägigen Autofahrt von der Ost- an die Westküste komponiert. Regelrecht esoterisch klang 1977 das Doppelalbum DON JUAN’S RECKLESS DAUGHTER **** mit „Overture/Cotton Avenue“ und der Suite „Paprika Plains“. Nur noch bedingt Zugang fand der Hörer auf MINGUS ***, Tributwerk an und Zusammenarbeit mit Jazzikone Charles Mingus zugleich. Zumindest lassen einen Titel wie „God Must Be A Boogie Man“ und „The Wolf That Lives In Lindsay“ schmunzeln.

Mike Köhler

Elvis Presley

Aloha From Hawaii Via Satellite – Legacy Edition

RCA/Sony Music

Rock’n’Roll: Elvis Presley schreibt TV-Geschichte: das Album zur ersten weltweiten Konzertübertragung per Satellit.

Als der King of Rock’n’Roll am 14. Januar 1973 per Satellit als erster Künstler für die damals fürstliche Summe von 2,5 Millionen Dollar Produktionskosten ein einstündiges Benefizkonzert weltweit im Fernsehen übertragen ließ, waren seine besten Tage schon vorüber. Nach dem gloriosen Comeback 1968 mit dem TV-Special beim US-Sender NBC sowie mehreren hochwertigen LP-Veröffentlichungen mutierte Elvis erst zum Las-Vegas-Showobjekt, dann, bedingt durch die Abhängigkeit von zig Medikamenten, diversen illegalen Stimulanzien und seiner Fresssucht, zum aufgeschwemmten Abziehbild seiner selbst. Drei Konzerte gab Presley auf Geheiß seines Managers Colonel Parker zwischen dem 12. und 14. Januar: Eine öffentliche Generalprobe, die in Bild und Ton aufgezeichnet wurde, eine weitere unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen Tag später sowie das eigentliche Konzert am Tag danach. Der damals 38 Jahre alte Veteran aus Memphis präsentierte sich in exzellenter stimmlicher Verfassung. Musikalisch unterstützt wurde er von seinem bewährten Team mit u.a. Gitarrist James Burton, Pianist Glen Hardin und J. D. Sumner & The Stamps Quartet auf beiden Mitschnitten der Doppel-CD ALOHA FROM HAWAII VIA SATELLITE LEGACY EDITION. Bei den Aufnahmen der Generalprobe am 12. Januar war Elvis eine Spur gelöster als zu Beginn des Premierenabends, wo seine Nervosität spürbar wird. Es befindet sich reichlich Kitsch wie „You Gave Me A Mountain“, „My Way“ und „Welcome To My World“ im Repertoire – neben Glanzstücken wie „See See Rider“, „Steamroller Blues“, „Blue Suede Shoes“, „Hound Dog“ und „A Big Hunk O‘ Love“. Fünf eigens für die US-TV-Version eingespielte Titel – aufgenommen, nachdem das Publikum die Halle verlassen hatte – ergänzen die soundtechnisch runderneuerte Wiederveröffentlichung.

**** Mike Köhler

Roedelius

Offene Türen

Bureau B/Indigo (VÖ: 12.4.)

Der alte Herr der elektronischen Musik wandelt zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Die Jahre 1981 und 1982 gehören zu den kreativsten in der Geschichte des eh schon arbeits- und veröffentlichungswütigen Hans-Joachim Roedelius. Die Periode des Landlebens in Forst im Weserbergland mit Michael Rother und Dieter Moebius lag hinter ihm, aus persönlichen Gründen zog Roedelius mit seiner österreichischen Frau in die Nähe von Wien. Cluster, sein Projekt mit Moebius, begab sich nach dem Album CURIOSUM in einen sehr tiefen Winterschlaf. Die Zusammenarbeit mit dem Hamburger Label Sky lag in den letzten Zügen und trotzdem erweiterte der Elektronikmusiker seine Diskografie in diesen zwei Jahren um fünf Solowerke. Zu Orientierungslosigkeit oder einer Sinnkrise führten all diese erheblichen Nebengeräusche aber nicht, dennoch wirkte sich diese Phase der großen Einschnitte und privaten Veränderungen neben den damaligen popkulturellen Umbrüchen auf OFFENE TÜREN aus. Der Titel der Platte kann als programmatisch verstanden werden, denn Roedelius schlägt keine Türen zu, sondern liefert eine Schau seiner Möglichkeiten ab. Dabei blickt er einerseits mit vertrauten Soundthemen (Kirmesmusik, Miniaturen, burleske Passagen, romantische Stimmungen) in Songs wie „Besucher im Traum“ und „Auf der Höhe“ auf sein Schaffen zurück. Andererseits aber betritt er neue Klangräume, die sich durch Industrial, Punk und New Wave aufgetan hatten. Es finden sich auf dem in sich wenig geschlossenen Album OFFENE TÜREN einige skizzenhafte, vor allem aber avantgardistische Tracks wie „Husche“ und „Stufe um Stufe“. In denen erinnert der damals bald 50-jährige Roedelius doch tatsächlich an junge Bands wie Der Plan.

**** Sven Niechziol

Stephen Stills

Carry On

Rhino/Warner

Ob Rock, Folk, Blues, Jazz, Country oder Latin: Die populäre Musik verdankt Stephen Stills zahllose Klassiker. Diese Vier-CD-Retrospektive enthält sie alle – und vieles mehr.

His father was a soldier then – und vermutlich liegt in Stephen Stills‘ Herkunft, in den vielen Umzügen, diesem Gefühl des Nirgendwo-verwurzelt-Seins der Grund dafür, dass sein musikalischer Horizont um einiges weiter ist als der vieler Kollegen. So war er denn in seiner 50-jährigen Karriere kaum je zu fassen, wechselte die Stile und die Begleiter rascher als andere ihr Hemd. Doch egal ob Folk oder Rock, Country, Latin oder Jazz. Egal, ob mit David Crosby und Graham Nash an seiner Seite, mit Neil Young und Jimi Hendrix, mit Jerry Garcia und Joni Mitchell oder als Solist: Die Geniestreiche sind zahlreich, die Verirrungen indes auch, sein erratisches, dem Vernehmen nach bisweilen herrisches Gebaren erwies sich beizeiten als kontraproduktiv. Mit CARRY ON liegt nun auf vier CDs die lang erwartete Retrospektive vor: 82 Songs, davon 25 unveröffentlicht, der älteste aus dem Jahr 1962, als der 17-jährige Steve in Costa Rica das folkige „Travelin'“ einspielte, der jüngste: eine mit Crosby und Nash im Oktober 2012 im Beacon Theater zu New York aufgenommene, ganz zauberhafte Lesung von Dylans „Girl From The North Country“. Dazu gibt’s die besten Buffalo-Springfield-Songs, die nicht von Neil Young stammen, allen voran „For What It’s Worth“, Highlights aus der gern übersehenen Manassas-Phase 1972/1973, etliche Klassiker von Crosby, Stills & Nash – von „Suite: Judy Blue Eyes“ bis „Southern Cross“ – und viele Preziosen aus Stills‘ Solo-Schaffen, ergänzt um einige Schmankerl, etwa den „No-Name Jam“ mit Jimi Hendrix. Auch wenn nicht jeder Track fesselt, so ist CARRY ON doch ein Schatzkästchen geworden, klanglich veredelt und ausgestattet mit einem imposanten Booklet samt lesenswerten Liner Notes. Althippies und Freunde des gepflegten Liedguts dürfen sich freuen.

****1/2 Peter Felkel