BACKKATALOG

KEVIN COYNE

CASE HISTORY NOBODY DIES IN DREAMLAND: HOME RECORDINGS 1972

SIREN

STRANGE LOCOMOTION

Turpentine/Cherry Red/Rough Trade

Hilferufe aus der Intensivstation des Folk und Blues. Oder: die Geburt eines Songwriters.

Anfang der 1980er konnte man so ziemlich jedes 70er-Jahre-Album von Kevin Coyne für ein paar DM auf dem Trödelmarkt erwerben. Coyne-Aktien standen in der Phase der New-Wave-Hausse überraschend tief. Nur ein kleiner, verschworener Fankreis unter der Fahne von Punk-Urgestein Alfred Hilsberg hielt dem Briten in Deutschland die Stange, das ist in den Archiven der Zeitschrift „Sounds“ verbürgt. Die emphatisch dahingeschrammten Folk-und Bluessongs Coynes standen abseits der großen Bewegungen, den Folkfans war sein Gitarrespiel nicht filigran genug, das Poppublikum fand keinen Zugang zu den wild mäandernden Erzählungen, die nicht selten Coynes Erfahrungen aus der psychiatrischen Arbeit widerspiegelten. Auf STRANGE LOCOMOTION (1971) ****, dem zweiten und letzten Album mit der Band Siren, begann Coynes Stimme zu kratzen und krähen, drohte aus dem Korsett zu rutschen und Extrarunden über dem Rest der Musik zu drehen, die sich nicht mehr um die alten Schemata scherte. Das war die Geburt eines Singer/Songwriters in seinem eigenen Recht, die über die bitterschöne Außenseiterplatte CASE HISTORY (1972) ***** mit dem finalen Psych-Blues-Aufschrei „Sand All Yellow“ abgeschlossen wurde. Coyne sollte in seinem seltsamen Erzählduktus ein Outsider bleiben, er konnte so aufgeregt brabbeln, seine Stimme für die Dauer eines Songs hoch- und runterfahren und dann wie ein Quäker aus den letzten Refugien der Verlorenen und Benachteiligten berichten. Er rief die Geister jener armen Seelen wach, für die schon alles vorbei war. „I want to fly but they’ve taken my wings away, I want to run but I know I have to stay“ – Hilferufe aus dem „Evil Island Home“, oder dem Hallraum einer geschlossenen Abteilung. CASE HISTORY bleibt so etwas wie die Intensivstation auf der langen Strecke der Coyne-Veröffentlichungen. Hier und heute wird der Sänger und Gitarrist einer „Neu-Lektüre“ unterzogen, die Bonustracks und erstmals veröffentlichten Wohnzimmeraufnahmen auf NOBODY DIES IN DREAMLAND: HOME RECORDINGS 1972 ****1/2 demonstrieren seine Ausnahmestellung, welch kraftvolle Geschichten der 2004 verstorbene Coyne nur von der Gitarre begleitet zu entfachen wusste. Oder im Call-and-Response-Spiel mit der Mundharmonika im splitternackten Blues „Baby Man“.

Frank Sawatzki

DAVID BOWIE

ALADDIN SANE – 40TH ANNIVERSARY EDITION

EMI

Glam Rock. David Bowies sechstes Album: Ziggy Stardusts amerikanisierter Zwillingsbruder.

Stolze 100 000 Exemplare wurden von ALADDIN SANE vorbestellt, bevor es am 13. April 1973 in die Plattenläden kam. David Bowies sechstes Album – und erstes als etablierter Star – hat 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts von seinem exotischen Flair eingebüßt: Das Konzept „Ziggy Goes America“, wie es Bowie Jahre später süffisant kommentierte, profitierte vor allem von einem: Gitarrist Mick Ronsons phänomenaler Arrangierkunst und seiner Fähigkeit, Bowies mitunter spärliche Songentwürfe im Gespann mit Produzent Ken Scott aufzuwerten. Für die zehn Songs von ALADDIN SANE (Wortspiel: „A lad insane“) wurden The Spiders From Mars um Pianist Mike Garson, den Saxofonisten Ken Fordham und Brian „Bux“ Wilshaw sowie das Vokaltrio Juanita „Honey“ Franklin, Linda Lewis und Geoffrey MacCormack erweitert. Der Auftakt „Watch That Man“ parodiert die Rolling Stones. Eine weitere Breitseite auf die Stones: die Erdbebenversion von „Let’s Spend The Night Together“. Ziggy Stardusts amerikanisierter Zwillingsbruder rockt rigoros hart: „Panic In Detroit“ scheppert unheilvoll im Gedächtnisrhythmus von Bo Diddley der Katastrophe entgegen. „Jean Genie“ borgt sich ein populäres Blues-Riff und seinen Titel vom Namen des französischen Autors Jean Genet. Mike Garsons virtuoses Klavierspiel verfeinert den verjazzten Titelsong, das an Brecht/Weill angelehnte „Time“ und die nach James-Bond-Manier aufgebaute Hommage auf Soulsängerin Claudia Lennear. Dass David Bowie 1973 gottgleich über den Dingen stand, verdeutlicht „The Prettiest Star“: Wenige Jahre zuvor war die Single-Urversion ein Ladenhüter, im eleganten Saxofonkleid avancierte die Liebeserklärung an Bowies damalige Ehefrau Angie dann zum Fanfavoriten.

***** Mike Köhler

THE POSTAL SERVICE

GIVE UP – DELUXE 10TH ANNIVERSARY EDITION

Sub Pop/Cargo

Die Reunion des Indietronics-Projektes The Postal Service wird von einer famosen Werkschau begleitet.

Die Reunion ist vollzogen, eine Tour im Sommer 2013 steht an und vielleicht wird es sogar ein neues Album geben. Hoffnungen darauf keimten vor Jahren schon auf. Aber sie zerschlugen sich, auch weil Ben Gibbard nach der Veröffentlichung von PLANS (2005) und dem folgenden kometenhaften Aufstieg seiner Band Death Cab For Cutie kaum Zeit fand und die Sache einschlief. Schon vorher waren The Postal Service mehr Projekt als feste Gruppe. GIVE UP entstand im Mail-Art-Verfahren: Jimmy Tamborello aka Dntel – ein Könner auf den digitalen Feldern des Glitch, Indietronics und Downbeat – schickte seine Songentwürfe via DAT-Band an Gibbard. Der gab ihnen Form, Melodien, Pop-Appeal und seine angenehme Stimme. Zehn Jahre ist das her, und zum Jubiläum gibt es eine prächtig aufgemachte ANNIVERSARY EDITION des Albums, das nach BLEACH von Nirvana erfolgreichste in der Geschichte des Labels Sub Pop. Dabei schaffte es die Platte nur auf Platz 114 der US-Charts, verkaufte sich über die Jahre aber über eine Million mal. Nun folgt der Nachschlag. Das Triple-Vinyl und die mehrfach aufk lappbare, remasterte Doppel-CD in Taschenbuchdicke inklusive zweier Booklets sind eine Augenweide. Aber viel wichtiger: Die meisten Songs, haben die Zeit schadlos überstanden. Nicht gerade selbstverständlich für elektronische Musik. Auch daraus zieht diese Wiederveröffentlichung ihre Legitimation, vor allem aber handelt es sich um eine Werkschau. Zwei neue hübsche Stücke haben Gibbard und Tamborello unter erneuter Mithilfe der Backingsängerin Jenny Lewis (Rilo Kiley) mit „Turn Around“ und „A Tattered Line Of String“ geschrieben. Sie eröffnen die Bonus-CD. Was dann in 13 Schritten folgt, kennen Fans von The Postal Service wohl zumeist. Die Remixe von Styrofoam und Matthew Dear finden sich ebenso auf alten EPs/Singles wie die Coverversion „Suddenly Everything Has Changed“ der Flaming Lips. Das trifft auch auf die Interpretationen der Postal-Service-Lieder „We Will Become Silhouettes“ von The Shins und „Such Great Heights“ von Iron & Wine zu. Rar dagegen ist die Live-Version von „Recycled Air“ und der Sampler-Beitrag „Grow Old With Me“, ein John-Lennon-Cover.

****1/2 Sven Niechziol

MORRISSEY

KILL UNCLE

Parlophone/EMI

Indie-Pop: Morisseys zweites Solo-Album nach dem Ende der Smiths.

Seit geraumer Zeit blickt Morrissey zurück auf sein künstlerisches Schaffen als Frontmann von The Smiths und als Solist nach der Trennung des Quartetts 1987. KILL UNCLE, sein zweites Solo-Album von 1991, enthielt ursprünglich zehn Songs und das Coverfoto zeigte Morrissey in dunkler Kutte vor einem wolkenbehangenem Himmel. Für die aktuelle Neuauflage wurde nicht nur das Albumcover verändert, sondern auch die Songreihenfolge. Zwei Songs wurden hinzugefügt, einer gegen eine andere Version ausgetauscht: „There’s A Place In Hell For Me And My Friends“ liegt nun als nicht mehr ganz so intensive Fassung aus einer Session beim Radiosender KROQ vor. Warum das so gehandhabt wird, weiß nur der für seine Eigensinnigkeit berüchtigte Morrissey. Produzent Stephen Street und er gingen zur Zeit der Aufnahmen schon getrennte Wege; die Zusammenarbeit mit seinen späteren Langzeitbegleitern Alain Whyte und Boz Boorer hatte noch nicht begonnen. Sämtlichen Widerständen zum Trotz überzeugt KILL UNCLE: „Sing Your Life“ atmet Rockabilly-Pioniergeist. „King Leer“,“Asian Rut“ und „The Harsh Truth Of The Camera Eye“ zehren vom subtil semiakustischen Arrangement. „Pashernate Love“, einer der beiden Bonustracks, erinnert an The Smiths. Beim neuen Finale mit der Zeitlupenode „(I’m) The End of The Family Line“ taumelt Morrissey gewohnt souverän zwischen trauriger Erkenntnis, purer Verzweiflung und spöttischer Ironie.

**** Mike Köhler

ROEDELIUS

SELBSTPORTRAIT VOL. III – REISE NACH ARACDIEN

Bureau B/Indigo

Avantgarde: Teil drei der Wohnzimmermusiken des Elektronikpioniers.

Als REISE NACH ARCADIEN von Hans-Joachim Roedelius vor 33 Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war das Album rein formal bereits ein Fall für die Abteilung Backkatalog. Wie schon mit den ersten beiden Teilen der Serie SELBSTPORTRAIT veröffentlichte der damals 46-jährige Roedelius eine Reihe von Skizzen und musikalischen Gedanken, die er in seinen Wohnzimmern in Forst (Weserbergland) und Blumau (Niederösterreich) aufgenommen hatte – hier zwischen 1973 und 1979. Roedelius ist nicht nur für seinen enormen Output bekannt, sondern auch für die stilistisch kaum zu überbietende Bandbreite seiner Kunst. Vom Piano-Solo-Album bis hin zur epischen, ambientnahen Klangmalerei im vollen Ornat. Die acht relativ kurzen Stücke (zwischen nicht einmal zwei und höchstens elf Minuten) weisen weit über die Zeit ihrer Entstehung hinaus -in Richtung experimenteller Techno, Novelty Music, Minimal. Die im Jahr 1976 entstandene Miniatur „Fieber“ in ihrer strengen Repetitionslust ist durchaus als Beschallung eines aktuellen Dancefloors denkbar. Sowohl Roedelius (auf dem Backcover) als auch der Komponist Asmus Tietchens (in den Liner Notes) entschuldigen sich für die angeblich mangelhafte Tonqualität. Heute gilt diese Form der Unsauberkeit der Sounds als Ausdruck der Edgyness von upfront Elektronikern.

**** Albert Koch

CONRAD SCHNITZLER

CONRAD & SOHN CONTEMPORA

Bureau B/Indigo (VÖ: 24.5.)

Avantgarde: Zwei 1981er-Alben des Klangkünstlers Conrad Schnitzler.

Um einen Eindruck von der Dichte des Dickichts zu bekommen, das Conrad Schnitzler (1937-2011) mit seinem Werk hinterlassen hat: Allein 1981 hat der Avantgarde-Musiker sieben Alben veröffentlicht. Zwei davon werden jetzt in der gewohnt vorbildlichen Qualität vom Hamburger Label Bureau B wie deraufgelegt. CONRAD & SOHN ***1/2 stellt eine Besonderheit dar: Die Musik auf der ersten Seite der Platte stammt von Conrad Schnitzler, die zweite von seinem Sohn Gregor, sieben Tracks vom Vater, fünf vom Sohn (auf der CD weitere fünf Bonustracks). Schnitzler, der Ältere, spielt für ihn Typisches zwischen Proto-Techno-Minimalismus, atonaler Kakophonie, aber auch eine lyrischmelodische Klangfantasie (der unbetitelte vierte Track) und gleich darauf ein Novelty-artiges Stück. Gregor Schnitzler verweist in seiner Musik – vor allem mit den düsteren Sequencersounds – auf den harschen Minimalismus zeitgenössischer „NDW“-Bands wie DAF. Bei den 14 LP-Tracks (23 auf CD) auf CONTEMPORA *** handelt es sich mehrheitlich um skizzenhafte Miniaturen im Bereich um die zwei Minuten. Großartiges (die Minimal Music des unbetitelten Tracks 3) steht Banalem gegenüber. Die Sounds und Texturen und Rhythmen dieses Albums aber werden sich in den folgenden Jahrzehnten wie ein roter Faden durch das Werk Conrad Schnitzlers ziehen.

Albert Koch

PATRICK VIAN

BRUITS ET TEMPS ANALOGUES

Staubgold/Indigo (VÖ: 10.5.)

Das einzige Solo-Album des Franzosen. Zwischen kosmischer elektronischer Musik und Jazz-Fusion.

1976 war die elektronische Musik an einem Wendepunkt angekommen. Gerade einmal ein halbes Jahrzehnt früher hatten Musiker aus Deutschland und Frankreich den Synthesizer entdeckt und in abenteuerliche musikalische Kontexte gesetzt. Nun belegte der ehemalige Avantgardist Jean Michel Jarre mit dem Album OXYGENE die Mainstreamfähigkeit der Synthesizermusik. Die Studiogruppe Space stand mit dem All-Synth-Instrumental „Magic Fly“ an der Spitze der deutschen Singlecharts. Die Synthesizerpioniere verloren langsam ihre Abenteuerlust zugunsten einer gefälligen, melodienseligen Musik. In diesem musikalischen Klima veröffentlichte Patrick Vian, Jahrgang 1942, Sohn des Schriftstellers, Musikers und Schauspielers Boris Vian (1920-1959) und Mitglied der französischen Progrock-Band Red Noise das Album BRUITS ET TEMPS ANALOGUES. Es wirkt wie das letzte Aufbäumen dieser ersten Generation von elektronischen Musikern; ein seltsamer Hybride aus kosmischer Moog-Musik (die mittleren Tangerine Dream in ihrer ersten Sequencer-Phase als loser Anhaltspunkt), Minimal Music und Jazz-Fusion-Improvisation, die mit dezenten Avantgardismen durchtränkt werden.

****1/2 Albert Koch