Backkatalog

Booker T. & The MG’s

Original Album Series

Green Onions

Soul Dressing

And Now!

Hip Hug-Her

Doin‘ Your Thing

Atlantic/Warner

Fünf Alben der instrumentalen Soul-Helden aus Memphis, Tennessee, in einer handlichen Box zum Sparpreis.

Im Frühherbst 1962 entwickelte sich der „Green Onions“ von Keyboarder Booker T. Jones, Gitarrist Steve Cropper, Bassist Lewie Steinberg und Schlagzeuger Al Jackson Jr. zum Hit in den amerikanischen Single-Charts. Der instrumentale Song war eine Zufallsnummer, die in den Pausen einer Studiosession von Booker T. & The MG’s, der Hausband des Stax-Labels, eingespielt wurde. Wenig später trat die hypnotische Dreiminutennummer ihren Siegeszug rund um die Welt an – um bis heute allgegenwärtig Einsatz in Fernsehspots und Kinofilmen zu finden. Dabei sollte ursprünglich „Behave Yourself“ auf die A-Seite der Single. Beide Titel, das Sequel „Mo‘ Onions“ sowie neun Coverversionen kamen wenig später auf das LP-Debüt Green Onions *****. Das markierte den Beginn der lukrativen Zweitkarriere von Booker T. & The MG’s, die in erster Linie als Backingband für die Acts des Stax-Labels zuständig gewesen waren, von Memphis-Soul-Koryphäen wie Otis Redding, Wilson Pickett, Carla Thomas und Sam & Dave. Drei Jahre später folgte Soul Dressing **** – da waren Booker T. & The MG’s in Großbritannien längst die Kultfavoriten der Mod-Bewegung. Elf Titel, darunter „Tic-Tac-Toe“, „Home Grown“ und „Chinese Checkers“, sowie Don Covays „Mercy Mercy“ peppen jede noch so müde Party innerhalb Sekunden auf. Als And Now! *** im Herbst 1966 erschienen war, hatte Bassist Donald „Duck“ Dunn Lewie Steinberg ersetzt. Steve Croppers mit Wilson Pickett co-komponiertes „In The Midnight Hour“, Rudy Toombs Jazzklassiker „One Mint Julep“ und das putzmuntere Eigengewächs „Soul Jam“ werten die allzu gediegene Produktion auf. Um einiges besser lief es im Jahr 1967 mit dem Album Hip Hug-Her ****: „Soul Sanction“, „Slim Jenkins‘ Place“ und „Double Or Nothing“ grooven satt. „Carnaby St.“ setzte Londons Modemeile ein Denkmal. Zum größten Hit seit „Green Onions“ avancierte der Titelsong. Weit weniger rasant geriet 1968 Doin‘ Your Thing ***: Selbstkomponiertes wie „I Can Dig It“ und „Blue On Green“ schwächelte. Sonny & Chers „The Beat Goes On“ und „You Keep Me Hanging‘ On“ von The Supremes trugen dem psychedelischen Zeitgeist Rechnung.

Mike Köhler

Bikini Kill

Bikini Kill

Bikini Kill Records

Die Original Riot Grrrls um Kathleen Hanna legen ihr Gesamtwerk neu auf. Den Anfang macht ihre erste EP aus dem Jahr 1991.

„We’re Bikini Kill and we want revolution girl-style now“, schreit Frontfrau Kathleen Hanna zu Beginn. Ihr Mission Statement formulierten Bikini Kill noch bevor der erste Ton gespielt war. Die Töne selbst waren zwar keineswegs neu – ein bisschen Misfits hier, ein wenig MC5 da -, und doch war das, was Bikini Kill Anfang der 90er-Jahre machten, wegweisend. Bestehend aus einer Gruppe von Künstlerinnen und Aktivistinnen, provozierte die Band aus Olympia, Washington mit ihren feministischen Botschaften die Anhänger archaischer Rollenbilder, wie sie in der Rockmusik Anfang der Neunziger immer noch vorherrschten. Die Grunge-Revolution stand vor der Tür, doch Chris Cornells nackter Oberkörper und der traditionell verankerte Heavy Rock von Alice In Chains drohten alte Machismen zu wiederholen. Bikini Kill traten auf den Plan, um das Bild zu korrigieren. „I’ll win that Mötley Crüe mirror, if it fucking kills me“, ätzt Kathleen Hanna gegen die Heldenverehrung ihrer Geschlechtsgenossinnen. „As a woman I was taught to be hungry (…) We’d even eat your hate up like love“, heißt es in „Feels Blind“. Bald hatte man ein Synonym für Bikini Kill und gleichgesinnte Bands wie L7 und Bratmobile gefunden: Die Riot-Grrrls wurden zu einer viel zitierten Bewegung, deren Einfluss von Gossip bis hin zu den russischen Aktivistinnen von Pussy Riot bis in die Gegenwart hinein nachverfolgt werden kann. Es gibt also einige gute Gründe, das Gesamtwerk dieser Band neu aufzulegen. Die Wiederveröffentlichung der EP „Bikini Kill“ kommt mit Abdrucken von Fanzines der Bandmitglieder, Interviews mit Ian MacKaye und Molly Neuman, Liner Notes und bislang unveröffentlichten Fotos.

***** Reiner Reitsamer

Eric Clapton

Slowhand

Polydor/Universal

Zwischen Rock und Folk, Blues und Pop: der 1977er-Klassiker von Eric Clapton kommt in der Jubiläumsausgabe mit vier Bonustracks und einer Live-CD.

Nach dem stilistisch und thematisch völlig anders gelagerten LAYLA AND OTHER ASSORTED LOVE SONGS, eingespielt unter dem Moniker Derek & The Dominoes und im Jahr 1970 veröffentlicht, darf SLOWHAND von 1977 als Eric Claptons zweitbestes Album der 70er-Jahre gelten. Und besser als hier sollte er, zumindest im Studio, nie wieder sein. Es war dies auch jenes Album, das dem neuen Anspruch des einstigen „Gitarrengottes“ am ehesten gerecht wurde: einfache Songs, schlicht instrumentiert und entspannt gespielt, mehr Folk, mehr Country, mehr Pop auch, dafür aber entschieden weniger Blues. J. J. Cales Klassiker „Cocaine“ kommt auf SLOWHAND zu Ehren, John Martyns wunderbares „May You Never“ und Don Williams‘ „We’re All The Way“, dazu gibt es diverse Clapton-Eigenkompositionen, darunter die notorische, gleichwohl schöne Schnulze „Wonderful Tonight“. Die 35th Anniversary Deluxe Edition des klassischen Albums enthält neben den Songs des Originals noch vier perfekt in das relaxte Setting passende Bonustracks sowie – auf einer zweiten CD – den Mitschnitt eines Konzertes aus dem Londoner Hammersmith Odeon vom April 1977: Zu hören gibt es da neben diversen Blues-Evergreens („Further On Up The Road“, „Stormy Monday“), ein Remake des Blind-Faith-Geniestreichs „Can’t Find My Way Home“, beseelt vorgetragen von Yvonne Elliman, eine reggae-fizierte Version von Bob Dylans „Knocking On Heaven’s Door“, eine knapp viertelstündige Lesung von Bob Marleys „I Shot The Sheriff“ und zum grandiosen Finale des Konzerts der unverwüstliche Hit „Layla“. Master Slowhand in Höchstform.

****1/2 Peter Felkel

The Clarke & Ware

Experiment

House Of Illustrious

www.clarkewareboxset.com

Die Synthie-Pop-Tüftler versammeln ihre Klangkunst in einer Box.

Vince Clarke und Martyn Ware gehören zu den größten Tüftlern in der Geschichte der Popmusik. Als Mitglieder von Depeche Mode, Yazoo, Erasure, The Human League und/oder Heaven 17 prägten die beiden entscheidend den Synthie-Pop, vor allem aber waren sie an neuen technischen Möglichkeiten stets mindestens ebenso interessiert wie an guten Songs. Zu welchen Ergebnissen das führte, ist in einem auf 1 000 Stück limitierten und von den Künstlern signierten Boxset nachzuhören: HOUSE OF ILLUSTRIOUS versammelt auf zehn CDs so ziemlich alles, was die beiden aufgenommen haben, ohne auf ein Pop-Publikum zu schielen. Das sind Soundtracks wie der für die Fußball-Doku „The Game Of Their Lives“ und vor allem jede Menge Klanginstallationen, die in Museen, Galerien und im Radio zu hören waren. Dazu ließen Ware und Clarke Software komponieren, modifizierten Maschinen und bastelten an neuen Klangwelten in mehreren Dimensionen. Die Musik klingt manchmal zwar, als wollten ein paar Synthie-Popper mit eher bescheidenen Mitteln einem Bach Konkurrenz machen. Viel öfter aber wird versucht, die Grenzen des akustisch Wahrnehmbaren so auszudehnen, dass das Hören zur körperlichen Erfahrung gerät.

**** Thomas Winkler

Diverse

Danger: Classic N.Y. Hip Hop Anthems

Rhino/Warner

Gesammelte Souvenirs aus einer Zeit, als man zu HipHop noch stundenlang tanzen konnte.

Blahzay Blahzay haben sich bis auf ein Album nicht nachhaltig in der Szene bemerkbar gemacht. Einen Hit hatten sie aber doch, der eine unsterbliche Zeile enthält: „When the East is in the house, oh my God, danger!“. So etwas sagt heute natürlich keiner mehr, die Folgen der Küsten-Battle haben dem HipHop doch sehr zugesetzt. Aber man kann den Track auch ohne die politischen Nebengeräusche genießen. Er befeuert jede Party. Und genau darum geht es hier: Um den Nachweis, dass es mal eine Zeit gab, in der funky Beats und Raps mit simplen und klar formulierten Schlagworten den Ton angaben. Als Das EFX zu einem jazzigen Groove von DJ Premier die Vorzüge des wahren HipHop anpriesen. Als Busta Rhymes zum hysterischen Heißmacher wurde. Als Naughty By Nature, Gang Starr, Brand Nubian und Pete Rock & C. L. Smooth voll funktionsfähig waren. Die Kompilierer aus Berlin und Stephan Szillus vom „Juice“-Magazin mit einer Grußadresse haben sehr gute Arbeit geleistet.

****1/2 Thomas Weiland

Diverse

Nuggets: Original Artyfacts From The First Psychedelic Era, 1965-1968

Elektra/Rhino/Warner Music

Die Ursprünge von Garagenrock, Punk und Psychedelia: Auch 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung hat diese Compilation nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt.

Konkurrenz belebt das Geschäft. So war es auch in den Sechzigern, als die amerikanische Musikszene von der Wucht der Britischen Invasion überrascht wurde. Man merkte, dass der eigene Rock’n’Roll wilder werden musste. Der Verzerrer gewann an Bedeutung, ebenso die käsige Farfisa-Orgel und Sänger, die sich die Kehle wund schrien. Wenn die Chocolate Watch Band „Let’s Talk About Girls“ spielte, wusste man, dass es bei dem Gespräch nicht um platonische Angelegenheiten ging. In „Psychotic Reaction“ von Count Five steckte die reinste Panik, in „Pushin‘ Too Hard“ von The Seeds unglaublicher Druck. Und ganz nüchtern ging es auch nicht zu, „I Had Too Much To Dream (Last Night)“ von The Electric Prunes nach zu urteilen. Wer weiß, ob sich diese Perlen aus dem Rockunderground so lange gehalten hätten, wenn Elektra-Gründer Jac Holzman vor 40 Jahren nicht auf die Idee gekommen wäre, den Kritiker Lenny Kaye mit einer Zusammenstellung von Musik dieser Art zu betrauen. Nuggets erschien zu einer Zeit, als Rock bombastisch wurde. Dem steuerte Kaye mit seiner Auswahl entgegen. Entscheidend ist auch die Bedeutung für die Nachwelt. Schon in den Achtzigern galt dieses Album als Richtwert für junge Bands, die sich auf Garagenrock oder Psychedelisches einließen. Dasselbe wiederholte sich 20 Jahre später. Und wer weiß, was jetzt passiert, da die Goldstücke in einer Jubiläumsausgabe erscheinen. Der Wert der nuggets ist nach wie vor nicht zu unterschätzen.

****** Thomas Weiland

Heaven 17

The Luxury Gap – Limited Special Edition

Virgin/EMI

New Romantics „zermalmt vom Räderwerk der Industrie“ Oder wie erobere ich den US-Markt?

Sage noch einer, im hedonistischen Elektro-Pop der 80er-Jahre sei keine Sozialkritik möglich gewesen. Heaven 17, Projekt von Ian Craig Marsh und Martyn Ware, beides Gründungsmitglieder der vor allem anfangs unglaublich inspirierten The Human League, taten ihr politisches Manifest kund: „Crushed By The Wheels Of Industry“ stellt sich als Auftaktsong auf ihrem zweiten Album THE LUXURY GAP – zum 30-jährigen Jubiläum mit Bonus-Remix-CD, Konzert-DVD, vier Postkarten und Poster neu aufgelegt – solidarisch mit den Arbeitslosen im Großbritannien der Thatcher-Ära. Schließlich stammt das von Vokalist Glenn Gregory komplettierte Trio aus der Schwerindustriemetropole Sheffield und kannte die Situation, von Stütze zu leben, aus eigener Erfahrung. Doch das „Zermalmen vom Räderwerk der Industrie“ bezog sich auch auf die Angst des Trios, vom internationalen Erfolg korrumpiert zu werden. Stark linksgerichtete Botschaften wie „(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang“, die BBC Radio 1 auf den Index setzte, vermittelte schon das Debüt PENTHOUSE AND PAVEMENT. Mochten die Sympathien von Heaven 17 auch auf der Seite der Armen, Entrechteten, Witwen und Waisen gelegen haben, lässt sich dennoch nicht verhehlen, dass die schwer auf Soul, Funk und Gospel getrimmten Hits „Temptation“, „Let Me Go“ und „Come Live With Me“ auf den lukrativen US-Markt abzielten. Vergebens, THE LUXURY GAP kam nur auf Rang 72 der US-Charts. Top-10-Erfolge erzielte die Band vor allem in ihrem Heimatland und in Deutschland. Das klar umrissene Klangkonzept in „We Live So Fast“ und „Who‚ll Stop The Rain“ fand seine Fortsetzung im Parallelprojekt B.E.F. (British Electric Foundation).

**** Mike Köhler

The House Of Love

The House Of Love – Deluxe Edition

Cherry Red/Rough Trade

Immer wieder gerne genommen: Alle Songs der unterschätzten Indie-Rocker aus den Creation-Jahren mit Debütalbum, Singles und Unveröffentlichtem auf drei CDs.

In den Jahren 1987 und 1988 brauchte der britische Indie-Rock dringend eine neue gute Band. The Smiths hatten sich aufgelöst und schüchterne Zauderer, die sich in deren Windschatten Gehör verschafften, waren ebenso wenig des Rätsels Lösung wie die nur dem Schmutz, aber nicht dem Talent zugeneigten Grebos. Mit The House Of Love endete das Trauerspiel. Angeführt wurde das Quartett aus London von Sänger und Songschreiber Guy Chadwick und Gitarrist Terry Bickers. Beide konnten zu Beginn Unmengen an positiver Spannung aufbauen. Chadwick sang oft erst verschlafen und dann plötzlich eindringlich, Bickers zog im psychedelischen Rausch seine Kreise und Chris Groothuizen am Bass und Pete Evans am Schlagzeug waren mehr als anonyme Mitspieler. Der Einfluss von The Velvet Underground war omnipräsent, aber auch der ständige Drang und das Aufbäumen von Echo & The Bunnymen und der Noise-Pop von The Jesus And Mary Chain hatten Spuren hinterlassen. Die zehn Songs des Debüts hören sich nach wie vor wie aus einem Guss an. „Christine“ ist ein melodischer Lead-Track, wie er im Buche steht. Chadwick frisst sich in „Road“ atemberaubend hinein. „Love In A Car“ ist eine wunderbare Träumerei. Die mit Singles, B-Seiten und Raritäten bestückte zweite CD hält einige Überraschungen bereit. Man hört Lo-Fi-Demo-Versionen von „Destroy The Heart“ und „I Don’t Know Why I Love You“. Auch mit Andrea Heukamp macht man Bekanntschaft, der deutschen Rhythmusgitarristin und Sängerin, deren früher Ausstieg aus der Band von Guy Chadwick immer wieder bedauert wurde.

***** Thomas Weiland

Ian Hunter

From The Knees Of My Heart – The Chrysalis Years (1979-1981)

Chrysalis/EMI

Geniale Rock-Hymnen und schlimmer Keyboard-Kitsch.

Das Problem von Ian Hunter, dem mittlerweile 73-jährigen Ex-Sänger von Mott The Hoople, ist seine Unbeständigkeit. Er hält es nie länger als drei Alben mit einem Label bzw. Manager aus, er zieht ein Erfolgsrezept nie konsequent durch und ist als Songwriter nicht immer auf der Höhe. Davon zeugt auch diese 4-CD-Box, die zum einen den 1979er-Meilenstein You’re Never Alone With A Schizophrenic enthält. Ein Geniestreich, den Hunter mit der E-Street-Band, aber auch John Cale und seinem Lieblingsgitarristen Mick Ronson realisierte, und zwischen Punk-Einflüssen, Stadion-Rock und herzerweichenden Balladen pendelte. Den größten Erfolg hatte damit jedoch nicht er, sondern Barry Manilow, der „Ships“ zum Top-10-Hit machte. Hunters Popularität reichte dagegen nur für kleine Säle, in denen im November 1979 das Doppel-Live-Album Welcome To The Club entstand – ein Mitschnitt aus dem Roxy in Hollywood, bei dem Hunter, Mick Ronson & Co. alles in Grund und Boden rocken. Mit einer Mischung aus eigenen Stücken, Covers von Sonny Bono, The Shadows und Richard Rodgers, aber auch Mott-The-Hoople-Klassikern wie „All The Young Dudes“. Leider passen nur 16 der ursprünglich 18 Songs auf die CD – was nicht für diese Compilation spricht. Beim nächsten Studioalbum Short Back’n’Sides steckte Hunter schwer in der Sinnkrise. Produziert von Mick Jones (The Clash) und mit Gästen wie Topper Headon und Todd Rundgren, leidet das Album unter einem kitschigen Keyboardsound. Zum Glück versöhnt CD 4 mit einem gelungenen Live-Mitschnitt. Diesmal vom September 1981.

**** Marcel Anders

The Jam

The Gift

Polydor/Universal

Brit-Pop: Das letzte und vielleicht am meisten unterschätzte The-Jam-Album in der Maximal-Ausgabe.

Nein, besonders stringent ist The Gift sicher nicht. An einigen Stellen merkt man, dass es 1982, kurz vor der Auflösung, in der Band krachte und ächzte, dass sich Paul Wellers Partikularinteressen immer weiter von denen seiner beiden Kollegen entfernten. Gleichzeitig ist es genau diese Divergenz, die die Platte zu so einer spannenden macht. Weller wollte weiter. The Gift deutet die Entwicklung an, die er in den Folgejahren mit The Style Council, aber auch noch mit seinem Solodebüt nehmen sollte, die Hinwendung zu einem Soul, der umfassender war als jener, der bis dato Teil der britischen (Jugend-)Kultur war und gleichzeitig das Storytelling eines Ray Davies dem Thatcher-England anpasste. Die mit drei CDs, einer DVD und einem dicken, mit Liner Notes von John Harris („The Last Party“) versehenen Bildband feudal ausgestattete Jubiläumsausgabe des Albums erklärt das angemessen. Anhand des eigentlichen Albums und den Sprüngen, die es andauernd zu überwinden gilt. Was hat das wunderbare und frech auf „You Can’t Hurry Love“ sitzende „Town Called Malice“ mit diesem eigentümlichen Instrumental „Circus“ zu schaffen? Und was der Titeltrack mit seinen Faces-Querverweisen mit dem karibischen „The Planners Dream Goes Wrong“ und dem grimmigen Spätpunk des Openers? Vor allem aber erklärt es das anhand von reichlich Bonusmaterial. Neben den nicht auf dem Album enthaltenen Singles, also „The Bitterest Pill (I Ever Had To Swallow“ und „Beat Surrender“ sowie deren B-Seiten, sind es die bisher teilweise unveröffentlichten Demos, die zum Teil alleine von Paul Weller aufgenommen wurden, die erklären, wo The Jam seinerzeit standen. Die Live-Mitschnitte illustrieren indes, dass Bruce Foxton und Rick Buckler durchaus integraler Bestandteil der Band waren. Der punktgenaue Groove des sechseinhalbminütigen „Precious“, aufgenommen 1982 in Wembley, dürfte Beweis genug sein. Übrigens: An der Zusammenstellung des Sets war – wie schon bei den Deluxe-Editionen seiner Solo-Alben – Paul Weller selbst beteiligt.

***** Jochen Overbeck

Justus Köhncke

Bass ist Musik

Kompakt Klassiks/Kompakt

Electronica: Was ist Musik? Bass ist Musik. Eine weitere Ausgabe aus der Reihe Kompakt Klassiks. Diesmal: Justus Köhncke.

Die Frage ist doch: WAS IST MUSIK. Die stellte Justus Köhncke im Titel seines ersten richtigen Albums im Jahr 2002. Zehn Jahre danach gibt es die Antwort, die wir allerdings bereits geahnt hatten: BASS IST MUSIK. Die andere Frage, die sich aufdrängt, lautet: Historisierung oder Musealisierung? Wenn das Kompakt-Label in seiner Klassiks-Reihe den eigenen Backkatalog „auswertet“, ohne das Endprodukt dann offensichtlich „Best of“ zu nennen. Diesmal eben: Justus Köhncke (müssen wir noch schreiben: Ex-Whirlpool-Productions?). Wir wandern gemeinsam mit dem Kölner durch eine Dekade Album- und 12-Inch-Tracks, zwischen eher klassischen Techno-Entwürfen, den Tracks der schlagerigen Zwischenphase („So weit wie noch nie“) und stellen wieder einmal fest, dass sich „Jet“ schamfrei bei der Moroder-Bassline von „I Feel Love“ bedient, dass Justus Köhncke ein wahnsinniges Gespür für hittige Melodien besitzt („2 After 909“), mit Michael Rothers „Feuerland“ im Jahr 2008 die Coverversion zur Zeit abgeliefert hat, und dass „Timecode“ immer noch der Smasher ist, der er 2004 schon war.

**** Albert Koch

Fred Neil

Do You Ever Think Of Me?

Rev-Ola/Cherry Red/Rough Trade

Eines der nicht gar so bekannten Folk-Blues-Meisterwerke aus den 1960er-Jahren.

Ende 1966, als Fred Neil dieses Album aufnahm, stand der Beat der frühen Jahre auf dem Prüfstand, die Beatles hatten auf REVOLVER mit rückwärts laufenden Bändern experimentiert, Tim Buckley sein Debütalbum veröffentlicht. DO YOU EVER THINK OF ME? beginnt mit dem Song „The Dolphins“, den Buckley sieben Jahre später wiederum auf seinem Album SEFRONIA covern sollte. Und man mag gar nicht entscheiden, ob das ein typischer Neil-, oder ein typischer Buckley-Song ist. Die Nuancen machen den Unterschied, Neils Bariton ist nicht ganz so schneidend wie der von Buckley, seine Stimme gleitet mehr durch den von Gitarren-Tremolos erhellten Hallraum. Sie umfließt diese schönen, schäbigen Lieder mehr, als dass sie die Stiche und Verletzungen sucht. Die zehn Tracks des ursprünglich unter dem Titel FRED NEIL veröffentlichten Albums stammen aus einer Session in den Capitol Studios in Hollywood, Neil wird von einer handverlesenen Schar von Musikern begleitet, die bereits bei Großtaten von Tim Buckley, Frank Zappa, Chet Baker und dem Modern Folk Quartet im Studio waren. „The Dolphins“ thront wie ein Versprechen vor dieser Songsammlung, Fred Neil hatte das Zeug, zum Vorsänger einer Generation Greenwich-Village-sozialisierter Songwriter zu werden, allein, er zog es vor, sich und seine Arbeit im Rückzug zu definieren und dem gerade aufglänzenden Folkstar-Betrieb abzuschwören. Vielleicht auch, weil er ansehen musste, dass seine Songs vor allem in den Versionen der Kollegen die Popularität erzielten, die ihm selbst versagt blieb – Roy Orbison oder später Harry Nilsson, der „Everybody’s Talkin'“ für den Soundtrack ASPHALT COWBOY aufnahm. Folk, Blues, ein Raga ist auch dabei – Neil dreht hier hypnotische Runden in den verschiedenen elektrifizierten Formaten dieser Tage, die Bandmitglieder assistieren bis in die Fingerspitzen sensibilisiert. Diese Form erreichte Neil bis zu seiner letzten Veröffentlichung 1971 leider nie mehr. Das Label Rev-Ola hat die sieben Live-Jams vom SESSIONS-Album 1967 freundlicherweise dazugepackt.

***** Frank Sawatzki

Brenda Ray

D’Ya Hear Me: Naffi Years (1979-83)

EM Records

Die späte Entdeckung einer hochinteressanten Postpunk-Dub-Band mit Querverweisen zu Avantgardejazz, Girl-Group-Pop und Soul.

Das Schaufenster-Puppen-Cover könnte das „Outtake“ einer Fotosession mit Kraftwerk sein, die 13 Tracks auf diesem Album rufen die Erinnerung an den Do-it-yourself-Punk um die Jahrzehntwende zu den Achtzigern wach. Nur, dass Brenda Ray den Zeitgenossen mit ihrer frei erfundenen Kitchen-Sink-Version von Reggae schon ein paar Jahre voraus war. Bisher ist von der Britin lediglich ein Album mit charmanten Lovers-Rock-Versionen jamaikanischer Riddims veröffentlicht worden, WALATTA versammelte Rays beste Aufnahmen zwischen 1995 und 2005. Mit D’YA HEAR ME erscheint eine Compilation früher Tracks ihrer Band Naffi Sandwich, die großenteils auf Kassetten in Umlauf gebracht wurden. Musikalische Morsezeichen einer von Avantgardejazz, Girl-Group-Pop und Soul beeinflussten Geheimgesellschaft, in der mit der Sprache des Dub experimentiert wurde. Melodica, Saxofon, Xylofon und Flöte geistern durch diese relaxt groovenden Lo-Fi-Stücke, Brenda Ray spielt den Erkundungen in den Hallräumen mit ihrer sanften Stimme nur so viel Soul zu, wie sie aushalten können. Es ist sicherlich noch einiges aus den Archiven zu heben, einstweilen legen Naffi Sandwich die bislang verborgenen Fäden zwischen den Slits, A Certain Ratio, Rip, Rig & Panic und den ersten Aufnahmen von Sade. Der Himmel über Liverpool muss in diesen Tagen ein paar Sonnenstrahlen aus der Karibik empfangen haben.

***** Frank Sawatzki

Ray Stinnett

A Fire Somewhere

Light In The Attic/Cargo

Songwriter-Soul aus dem Archiv: der verhinderte Superstar Ray Stinnett.

Die Legende sagt: Als Ray Stinnett 1956 gerade seine erste Silvertone-Gitarre gekauft hatte und auf dem Weg nach Hause war, fuhr Elvis Presley im pinkfarbenen Cadillac vorbei und grüßte den Zwölfjährigen mit einem freundlichen „Hey, Cat“. Stinnett wurde nicht zuletzt deshalb Profimusiker und spielte im Memphis der 60er-Jahre in verschiedenen Bands, am prominentesten Sam The Sham & The Pharaohs, von denen sich nur „Wooly Bully“, 1965 die meistverkaufte Single in den USA, ins kollektive Gedächtnis einbrannte. Elf Monate nach diesem Hit tauschte Domigo „Sam“ Zamudio seine Band aus, aus den Verschmähten wurden die Violations, die mit „You Sure Have Changed“ und „The Hanging“ zwei hervorragende Garage-R’n’B-Songs aufnahmen. Was in der Folgezeit passierte, ist nur fragmentarisch dokumentiert. Stinnett zog an die Westküste, wurde Teil der legendären Morningstar-Kommune und kam irgendwann zurück nach Tennessee, wo er sich mit Booker T. anfreundete, der auch in diese Platte involviert ist, ebenso wie Richard Rosebrough, den man aus dem Big-Star-Dunstkreis kennen mag. Es verwundert also kaum, dass man Memphis und seine musikalische Geschichte auf dieser Platte hört. Genau so wichtig ist der Psychedelic-infizierte Folkrock des Amerikas der ausgehenden Sechziger, der in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurde: Jim Ford, John Sebastian, die tollen Solo-Alben von John Phillips. Ob dieser Mix auf Albumlänge aufgeht? Mancher mag die fehlende Konsistenz bemängeln, so ganz klar war sich Stinnett offenbar nicht, wohin es mit dieser Platte gehen sollte. Immer wieder rumpelt sie, wechselt von spröder Akustik zu sattem Soul mit Stax-Querverweisen, was einer der Gründe sein mag, warum man sie im Hause A&M seinerzeit nicht veröffentlichen wollte und die Idee, aus Stinnett einen Superstar zu machen, ad acta legte. Auf der anderen Seite gibt es hier viele Songs zu hören, die ganz und gar wundervoll sind, etwa das durch Twang- und Blues-Gitarren schleichende „Silky Path“, der warme „Honey Suckle Song“, so eine Art Hybride aus Westcoast und Blue Eyed Soul und „Love Is The Answer“ mit seinen – na ja, fast – Harmonie-Gesängen. Dass all das Jahrzehnte lang komplett unter Verschluss blieb, ist verwunderlich, dass ein A&R-Mann die Bänder irgendwann in einem Regal fand und sich einfach mal anhörte, ebenfalls. Dass Stinnett a) Lust auf die Re-Issue und b) das Original-Artwork sauber archiviert hatte, ist ein wunderbarer Glücksfall.

****1/2 Jochen Overbeck

10cc

Tenology

Mercury/Universal

Ein Box-Set zum 40-jährigen Gründungsjubiläum der Art-Rock-Band.

Zuerst denkt man bei 10cc an den Jahrhundertsong „I’m Not In Love“. Auch „The Wall Street Shuffle“, „Life Is A Minestrone“ und „Dreadlock Holiday“ sind nicht unbekannt. Irgendetwas sollte man auf jeden Fall mit dem Namen 10cc verbinden. Die Zahl der Leute, die darüber hinaus mit der Band vertraut sind und das Album Sheet Music als veritables Art-Rock-Statement bewundern, ist deutlich geringer. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich nie ein klar identifizierbarer 10cc-Sound herausgebildet hat. Angefangen hatte es mit „Donna“, einer Doo-Wop-Nummer. Wenig später malte man sich aus, was Brian Wilson in den Siebzigern alles hätte einfallen können. 10cc probierten es mit intelligentem Hardrock und bremsten zum Glück an der Stelle ab, wo akute Queen-Gefahr bestand. Clever waren 10cc, das merkte man an den Songtiteln „The Worst Band In The World“, „Don’t Squeeze Me Like Toothpaste“ und „Art For Art’s Sake“. Der Sound war bei diesen Studioprofis immer brillant und wurde mit 256 Tonspuren in „I’m Not In Love“ auf die Spitze getrieben. Das war nichts für die Punks, die 1977 das Kommando übernahmen. Zu diesem Zeitpunkt waren Kevin Godley und Lol Creme, die beiden innovativ veranlagten Mitglieder von 10cc, bereits ausgestiegen. Sie etablierten sich als Duo und später als Videoregisseure. Graham Gouldman und Eric Stewart machten noch eine Weile weiter, schufen aber nicht mehr allzu viel von Bedeutung. 40 Jahre nach dem ersten Hit kann man sich die Singles aus der Zeit von 1972 bis 1992 noch einmal anhören, ebenso Album-Tracks, B-Seiten und Raritäten. Die DVD enthält Aufzeichnungen von Fernsehauftritten und Konzerten sowie Promo-Videos. Ein Buch mit allen Texten und eine Biografie des englischen Musikjournalisten Paul Lester mit Originalinterviews runden das Paket ab.

****1/2 Thomas Weiland

T. Rex

The Slider – 40th Anniversary Box-Set

Demon/Edsel/Soulfood

Das siebte Album von Marc Bolans Band: ein Glam-Rock-Meisterwerk.

1972, auf dem Höhepunkt der T.-Rextasy, galt der gerade mal 25 Jahre alte Londoner Sänger und Gitarrist Marc Bolan seit rund einem Jahr europaweit als Teen-Favorit Nummer eins. Der Aufstieg begann mit ELECTRIC WARRIOR. Mit fünf Alben – vier unter dem Namen Tyrannosaurus Rex – versuchten es Bolan und Produzent Tony Visconti seit 1968 mit esoterischem Folk-Rock zwischen keltischen und fernöstlichen Wurzeln. Als die beiden 1970/71 die Songformel auf simplen Rock umstellten, den Bandnamen verkürzten, die Singles „Ride A White Swan“, „Hot Love“ und „Get It On“ in Umlauf brachten und T. Rex vom Duo zum Quartett machten, setzten sie eine Lawine in Gang. THE SLIDER, das siebte Album und das erste aus der Superstarposition, entstand in Bolans kreativer Phase als „King Of Glam Rock“ zwischen weltweiten Tourneen und TV-Auftritten in den Kopenhagener Rosenberg Studios, im Pariser Château d’Hérouville und in den Elektra Studios von Los Angeles. Es war eine knackige, kohärente 13-Song-Kollektion, eingespielt mit Perkussionist Mickey Finn, Bassist Steve Currie, Schlagzeuger Bill Legend sowie diversen Gästen, die ans Konzept des Vorgängerwerks anknüpfte. Mit dem Unterschied, dass Songs wie „Rock On“, „Baby Boomerang“, „Rabbit Fighter“ und der Titelsong noch vehementer die Urtriebe ansprachen. Bolans Akustikfolk lebte weiter in „Mystic Lady“, „Spaceball Ricochet“ und „Ballrooms Of Mars“. In einer opulentem Version feiert der Meilenstein rundes Jubiläum: THE SLIDER 40TH ANNIVERSARY BOXSET kommt mit Viscontis 2012 Remix, 13 Extra-Tracks, einer DVD (mit Interviews, Promoclips, TV-Ausschnitten), dem Reprint der originalen LP-Ausgabe, drei Vinyl-Singles (u.a. „Metal Guru“, „Telegram Sam“), zwei Büchern, A2-Poster, Sticker, Plastiktüte sowie diversen Fan-Faksimiles.

****** Mike Köhler

The Who

The Studio Albums

Polydor/Universal

Rock: The Who bündeln ihr Lebenswerk, artgerecht in Vinyl.

Keine Band hat mehr Erfindungen zur jüngeren Kulturgeschichte beigetragen als The Who: Sie haben Rockmusik für Soulfreunde gespielt und Rockopern für Opernhasser. Sie haben gezeigt, dass man Zerstörungswut in Kunst verwandeln kann. „My Generation“ war natürlich auch ein lustiges Lied über die Panik vor dem Alter. Vor allem aber war es eine giftige Hymne an die Väter, die zuerst die halbe Welt zerstört hatten und anschließend ihr Weltbild für das einzig Wahre hielten. Irgendwie haben The Who sich selber halbwegs überlebt. Nach fünf Jahrzehnten stellt sich die Frage: Wie bewahrt man so ein Lebenswerk auf angemessene Weise für die Nachwelt auf? CDs zersetzen sich im Laserlicht angeblich nach rund 20 Jahren. MP3-Dateien werden unbrauchbar, wenn sich der Markt auf neue Standards einigt. Streams sind Streams. Die Schallplatte hat sich nicht nur als haltbarer erwiesen, sondern auch als klangschöner. Das hört sogar der nahezu ertaubte Bandgründer Pete Townshend. Seine Edition The Studio Albums in Vinyl wischt allen digitalen Murks beiseite. Nie klangen The Who so überzeugend wie in 180 Gramm Vinyl pro Schallplatte gepresst. Den Originalalben der 60er- und 70er-Jahre fehlten die Bässe, um die alten Abtastnadeln nicht zu überfordern. Die CDs der 80er- und 90er-Jahre stauchten den Sound zusammen und stellten den Bass als Sensation heraus. Die dürren Nachpressungen lösten immerhin das eine oder andere Mod-Revival aus. Zwar hört man jetzt in der Breite und der Tiefe, dass The Who wie jede epochale Band nach ihrer Blütezeit nur noch mit anständigen Platten im Geschäft blieben – Pete Townshend hatte mehr mit Alkohol und Psychotherapie zu tun. Aber was soll’s: Alle elf Studioalben – von My Generation (1965) bis hin zu Endless Wire (2006) – sind wieder auf Vinyl verfügbar, die sechs meisterhaften und der Rest. Die Oper Quadrophenia mit dem eingehefteten Libretto und The Who Sell Out mit seinem drogengenerierten Kunstdruck.

***** Michael Pilz